Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriffe "Behandlungsbedürftigkeit", "Krankenhauspflegebedürftigkeit" und "Pflegefall"

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine Krankheit verursacht Krankenhauspflegebedürftigkeit nicht nur dann, wenn eine Heilung oder Besserung zu erwarten ist und die Krankenhausbehandlung dem Zweck dient, eine Entlassung zu erreichen, sondern auch dann, wenn die Behandlung im Krankenhaus eine Verschlimmerung der Krankheit verhüten, das Leben verlängern oder Krankheitsbeschwerden lindern soll; die Dauer der Unterbringung allein bildet deshalb kein entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung zwischen Krankenhauspflege und Pflegefall.

2. Krankenhauspflegebedürftigkeit dauert an, solange eine ambulante Behandlung anstelle der zur gezielten Krankenbehandlung eingesetzten Krankenhauspflege nicht ausreicht.

 

Normenkette

RVO § 184 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1973-12-19, § 216 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1956-06-12

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 06.10.1977; Aktenzeichen L 16 Kr 68/76)

SG Köln (Entscheidung vom 05.04.1976; Aktenzeichen S 19 Kr 43/75)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 1977 aufgehoben.

Die Streitsache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Streitig ist ein Ersatzanspruch gemäß §§ 1531-1533 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wegen Krankenhauspflege als Familienhilfe.

Die 1961 geborene Tochter S des bei der beklagten Innungskrankenkasse Versicherten O B befindet sich seit Juli 1967 wegen eines cerebralen Anfallsleidens, unklarer Genese und einer schweren geistigen Behinderung mit Verhaltensstörungen (Erethie) in den v. B Anstalten in B. Sie ist im Haus P untergebracht, das die Anstalten seit dem 1. Januar 1974 zu ihren Sonderkrankenhäusern rechnen. Die Kosten dieser Unterbringung werden vom Kläger als dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe getragen.

Auf Veranlassung des Klägers richtete das Sozialamt der Stadt D an die Beklagte das Begehren, aufgrund des Gesetzes zur Verbesserung von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung vom 19. Dezember 1973 - Leistungsverbesserungsgesetz - KLVG - (BGBl I 1925) die Unterbringungskosten für die Zeit ab 1. Januar 1974 zu übernehmen. Der Kläger vertrat die Auffassung, daß dem Versicherten für seine Tochter im Rahmen der Familienkrankenhilfe ein Anspruch auf Krankenhausbehandlung zusteht. Zur Begründung berief er sich auf eine ärztliche Stellungnahme des Dr. F, Oberarzt der v. B A, vom 31. Mai 1974, wonach durch ärztliche Maßnahmen einer drohenden Verschlimmerung des Anfallsleidens (Epilepsie) begegnet werde und die krankheitsbedingten Störungen des Geistes ambulant nicht durchführbare gezielte therapeutische Maßnahmen erforderten. Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme mit der Begründung ab, bei dem Kind Simone handele es sich um einen Pflegefall. In einer vertrauensärztlichen Stellungnahme vom 25. April 1975 vertrat Dr. v. H die Auffassung, das Anfallsleiden bedürfe für sich allein keiner stationären Behandlung, im Vordergrund stünden vielmehr die Bewahrung und die Unterbringung zur Pflege, mit der die Eltern überfordert seien.

Der daraufhin erhobenen Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 5. April 1976 insoweit entsprochen, als mit ihr ein Kostenersatz für die Zeit vom 1. Januar 1974 bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltend gemacht worden ist. Hinsichtlich des Antrages des Klägers, die Beklagte auch zur Übernahme der weiterhin entstehenden Kosten zu verpflichten, hat das SG die Klage abgewiesen, weil nicht festgestellt werden könne, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Krankenhauspflege noch in Zukunft vorliegen werden.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und die Klage in vollem Umfange abgewiesen: Ein Anspruch auf Krankenhauspflege, den der vom Kläger erhobene Ersatzanspruch voraussetze, stehe dem Versicherten für seine Tochter nicht zu, weil diese nicht aus medizinischen Gründen einer Krankenhausbehandlung bedürfe. Das ergebe sich aus dem im Berufungsverfahren erstatteten Gutachten des Dr. E, Chefarzt der Neurologischen Klinik des Evangelischen J-Krankenhauses in B, vom 24. Mai 1977. Zu einem anderen Ergebnis führe auch nicht die Aussage des als sachverständigen Zeugen gehörten Dr. F vom 6. Oktober 1977. Danach diene die Behandlung nicht dem Zweck, eine Beendigung der stationären Unterbringung zu erreichen. Das Kind Simone sei dauernd anstaltspflegebedürftig. Von einem zielstrebigen Heilungsplan könne keine Rede sein. Die medizinischen Maßnahmen, die als solche auch ambulant durchgeführt werden könnten, seien nur darauf abgestellt, den derzeitigen Zustand zu erhalten. Da keine Anhaltspunkte dafür sprächen, daß das Kind subjektiv leide, könne der Zweck einer Krankenhausbehandlung auch nicht in einer Linderung von Krankheitsbeschwerden gesehen werden. Die medizinischen Maßnahmen wirkten sich eher auf die Umgebung des Kindes aus, indem dadurch das Verhalten des Kindes für seine Umgebung erträglicher gestaltet werde. Die Kriterien einer notwendigen Krankenhausbehandlung seien daher nicht erfüllt. Der Hinweis Dr. F, als Auswirkungen der medizinischen Betreuung werde auf unterster Ebene eine schulische Förderung in der Sonderschule ermöglicht, begründe ebenfalls keine Leistungspflicht der Beklagten. Diese sei vielmehr beschränkt auf medizinische Maßnahmen, die gezielt der Krankheitsbekämpfung dienten.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Kläger mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision. Er rügt eine Verletzung des Art 1 des Grundgesetzes (GG), der §§ 182, 184, 205 und 216 RVO sowie des § 106 des Sozialgerichtsgesetzes: Entgegen der vom Berufungsgericht zu § 216 Abs 1 Nr 4 RVO entwickelten unrichtigen Rechtsauffassung sei die Krankenkasse nach § 184 RVO zur Krankenhausbehandlung auch dann verpflichtet, wenn diese Behandlung nicht mehr mit dem Ziel ihrer Beendigung durchgeführt werde. Es komme allein auf die medizinische Notwendigkeit an (BSG vom 18.11.1969 in USK 79109; BT-Drucks 7/1039). Aus den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen ergebe sich, daß das Kind Simone nach ärztlicher Weisung planmäßig mit dem Ziel der Verbesserung des gesundheitlichen Zustandes oder zumindest der Verhütung einer Verschlechterung und der Linderung krankheitsbedingter Beschwerden behandelt werde. Nach Dr. F sei unter Berücksichtigung der Gesamtsituation des Kindes eine stationäre Behandlung erforderlich. Die anderen Ärzte, die eine ambulante medikamentöse Therapie für ausreichend hielten, hätten das Kind nie persönlich gesehen. Diese abstrakten Beurteilungen hätte das LSG nicht übernehmen dürfen. Das gebiete Art 1 GG, wonach alle staatliche Gewalt verpflichtet sei, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Nach der Lebenserfahrung müsse bei Wegfall einer geregelten medikamentösen Therapie und der gewohnten Umgebung sehr bald mit einer Zunahme der motorischen Unruhe und der Reizbarkeit und mit einem Wiedereinsetzen von Krampfanfällen gerechnet werden. Nach einer Entlassung des Kindes aus Bethel würde vor allem, worauf Dr. F hingewiesen habe, die Kette der Betreuungsmaßnahmen - von Ärzten und Pflegepersonal über Sonderschullehrer bis zu Heilpädagogen und Sozialpädagogen - abreißen. Eine Förderung im sonderschulischen Bereich wäre überhaupt nicht mehr möglich. Dies würde mit Sicherheit auch eine Verschlechterung der gesundheitlichen Verhältnisse zur Folge haben (bezüglich der Relevanz dieser Überlegungen vgl BSG vom 16.3.1972 - 10 RV 594/70 - in FEVS 19, 464).

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 1977 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 5. April 1976 zurückzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil wegen Verletzung materiellen Rechts aufzuheben und die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Der vom Kläger gemäß §§ 1531 ff. RVO erhobene Ersatzanspruch hängt davon ab, ob die Beklagte ab 1. Januar 1974 verpflichtet war, der Tochter des Versicherten stationäre Behandlung zu gewähren. Dem Sozialhilfeträger sind die einem Versicherten bei Krankheit gewährten Unterstützungen nur aus den ihnen entsprechenden Leistungen der Krankenkasse zu ersetzen (§ 1533 RVO). Im Rahmen der - dem Versicherten für seine Tochter unstreitig zustehenden - Familienkrankenhilfe hat die Krankenkasse ua Krankenhilfe (ausgenommen Krankengeld) unter den gleichen Voraussetzungen und im gleichen Umfang wie dem Versicherten zu gewähren (§ 205 RVO).

Das LSG ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß für die hier in erster Linie als Krankenkassenleistung in Betracht kommende Krankenhauspflege die Bestimmung des § 184 Abs 1 RVO idF des am 1. Januar 1974 in Kraft getretenen KLVG maßgebend ist. Danach ist Krankenhauspflege zeitlich unbegrenzt zu gewähren, wenn die Aufnahme in ein Krankenhaus erforderlich ist, um die Krankheit zu erkennen oder zu behandeln oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.

Entgegen der Rechtsauffassung des LSG setzt jedoch ein Anspruch auf Krankenhauspflege nicht voraus, daß die Behandlung dem Zweck dient, eine Beendigung der stationären Unterbringung zu erreichen. Die medizinische Notwendigkeit einer Krankenhauspflege, auf die es allein ankommt, liegt - wie der Senat wiederholt entschieden hat - nicht nur dann vor, wenn eine Heilung oder Besserung zu erwarten ist, sondern auch dann, wenn die Behandlung im Krankenhaus eine Verschlimmerung verhüten, das Leben verlängern oder Krankheitsbeschwerden lindern soll. Daraus und aus dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes - "Krankenhauspflege wird zeitlich unbegrenzt gewährt" - ergibt sich, daß die Dauer der Unterbringung allein kein entscheidendes Kriterium dafür ist, die Krankenhauspflege iS des § 184 RVO von der nicht in den Aufgabenbereich der Krankenkasse fallenden Anstaltspflege abzugrenzen. Es wird vielmehr bei dieser Abgrenzung im allgemeinen darauf abzustellen sein, ob die erforderlichen Pflegemaßnahmen Teil einer ärztlichen Behandlung sind oder ob sie lediglich dem Zweck dienen, einem Zustand der Hilflosigkeit zu begegnen. Dabei ist im vorliegenden Fall besonders zu beachten, daß es die - vor allem bei einer Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern zur Anwendung kommenden - neueren Diagnostik- und Therapiemethoden mit sich bringen, in stärkerem Maße als früher bei der Krankenhauspflege nichtärztliche Mitarbeiter wie Schwestern, Pfleger, Sozialarbeiter, Beschäftigungstherapeuten, Psychologen, Psychagogen usw an der ärztlichen Behandlung zu beteiligen (SozR 2200 § 216 RVO Nr 2 mwN). Die medizinische Notwendigkeit einer Krankenhauspflege ist jedoch nicht gegeben, wenn eine ambulante Behandlung ausreicht. Ein Pflegefall ist daher anzunehmen, wenn die stationäre Unterbringung durch ein Dauerleiden veranlaßt wird, das nicht in dem vorstehend beschriebenen Sinne beeinflußbar ist oder doch in ausreichendem Maße ambulant behandelt werden kann (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 25.1.1979 - 3 RK 83/78 - zur Veröffentlichung vorgesehen).

Das LSG hat aufgrund seiner abweichenden Rechtsauffassung nicht alle Tatsachenfeststellungen getroffen, die zur rechtlichen Beurteilung der Streitsache erforderlich sind. Der Anspruch auf stationäre Behandlung kann nicht - wie geschehen - mit der Begründung verneint werden, die Behandlung diene nicht dem Zweck, eine Beendigung der stationären Unterbringung zu erreichen, und die medizinischen Maßnahmen seien nur darauf abgestellt, den derzeitigen Zustand zu erhalten. Es bedarf daher einer umfassenden Prüfung aller Umstände, die eine stationäre Behandlung notwendig machen können. Es ist zu klären, ob durch eine ärztliche Behandlung eine Besserung des Krankheitszustandes, die Verhinderung einer Leidensverschlimmerung oder eine Linderung der Krankheitsbeschwerden erreicht werden kann.

Sodann ist zu prüfen, ob diese evtl notwendige ärztliche Behandlung in einem ausreichenden Maße auch ambulant durchgeführt werden kann. Das LSG hat das zwar in einem Nebensatz des angefochtenen Urteils bejaht. Seine diesbezügliche Feststellung bezieht sich jedoch auf eine nur unvollständig geklärte Behandlungsbedürftigkeit. Das LSG beruft sich zur Begründung seiner Entscheidung auch auf die Bekundung des sachverständigen Zeugen Dr. F, aus der sich ergebe, daß die Behandlung nicht dem Zweck einer Beendigung der stationären Unterbringung diene. Einer Krankenhauspflege bedarf es jedoch, wie dargelegt, nicht nur zur Erreichung dieses Zieles. Das LSG wird ferner der Frage nachzugehen haben, ob eine isoliert durchgeführte ambulante ärztliche Behandlung ausreichend ist oder ob sie nur gemeinsam mit anderen Maßnahmen den erhofften Erfolg verspricht, diese Maßnahmen aber eine stationäre Unterbringung voraussetzen (zB Behandlung durch Psychologen, Psychagogen oder sonstige Fachkräfte unter ärztlicher Leitung). Schließlich wäre zu klären, ob diese evtl eine stationäre Unterbringung erforderlich machende Gesamtbehandlung gezielt der Krankheitsbekämpfung dient, ob sie also im vorliegenden Fall vor allem gegen das Anfallsleiden, die krankhaften Verhaltensweisen und die krankhaften Störungen des Geistes gerichtet ist, oder ob sie andere Ziele verfolgt, die nicht zu den Aufgaben der Krankenversicherung gehören (zB schulische Förderung).

Da es dem Revisionsgericht verwehrt ist, fehlende Tatsachenfeststellungen selbst nachzuholen, ist die Streitsache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem das Streitverfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656969

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