Leitsatz (amtlich)

1. Der Begriff des im Rahmen der Selbsthilfe (§ 539 Abs 1 Nr 15 RVO) tätigen Angehörigen ist in § 8 Abs 2 WoBauG 2 abschließend geregelt. § 8 Abs 1 WoBauG 2 bestimmt demgegenüber den Begriff der Familie.

2. Die Arbeitsleistungen der Angehörigen des Bauherrn gehören unabhängig davon zur Selbsthilfe, ob sie unentgeltlich erbracht werden; das gilt auch für die von anderen Personen auf Gegenseitigkeit erbrachten Arbeitsleistungen (§ 36 Abs 2 Buchst b und c WoBauG 2).

3. Die auf Gegenseitigkeit erbrachten Arbeitsleistungen brauchen nicht in einem zeitlichen Zusammenhang zu stehen. Es genügt die ernsthafte Absprache gegenseitiger Hilfeleistung.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 15 Fassung: 1963-04-30, § 657 Abs 1 Nr 8; WoBauG 2 § 8 Abs 1, § 8 Abs 2, § 36 Abs 2 Buchst b, § 36 Abs 2 Buchst c; RVO § 770 S 5 Fassung: 1976-06-03

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 11.11.1981; Aktenzeichen L 4 U 20/81)

SG Lübeck (Entscheidung vom 27.01.1981; Aktenzeichen S 1 U 203/79)

 

Tatbestand

Die Beklagte verlangt von dem Kläger eine Beitragszahlung in Höhe von DM 1.301,64 als Unternehmer nicht gewerbsmäßiger Bauarbeiten. Der Beitragsbescheid der Beklagten vom 27. April 1979 und ihr Widerspruchsbescheid vom 29. November 1979 sind im sozialgerichtlichen Verfahren aufgehoben worden (Urteile vom 27. Januar 1981 und 11. November 1981).

Der Kläger errichtete von April 1976 bis November 1978 ein steuerbegünstigtes Familienheim. Dabei leisteten seine Schwester mit ihrem Ehemann und Sohn sowie ein Bekannter des Klägers zusammen 1.878 Arbeitsstunden ohne Barentschädigung. Lediglich Verpflegung bzw Getränke im Wert von über DM 1,50 pro Person wurden arbeitstäglich gewährt. Der Kläger seinerseits arbeitete an dem etwa gleichzeitig errichteten Bauvorhaben des Bekannten mit; in den Jahren 1970/1972 hatte er seiner Schwester deren Ehemann beim Bau ihres Hauses geholfen.

Die Beklagte sah die Voraussetzungen für eine beitragsfreie Versicherung der Hilfskräfte bei dem Beigeladenen als nicht vorhanden an, weil sie nicht zum Familienhaushalt des Klägers gehörten oder in ihn aufgenommen werden sollten, und weil sie ein Entgelt in Form der Gewährung von Verpflegung in rechtserheblichem Umfang erhalten hätten.

Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide der Beklagten aufgehoben, weil die Selbsthilfe der Hilfskräfte auf Gegenseitigkeit, und zwar auch bezüglich der gewährten Mahlzeiten, geleistet worden sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat die hiergegen eingelegte Berufung zurückgewiesen. Auch nach seiner Auffassung hindert die Gewährung von Verpflegung nicht die Annahme einer Arbeitsleistung auf Gegenseitigkeit. Die Beklagte sei daher nicht der für die gesetzliche Unfallversicherung zuständige Versicherungsträger.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Nach ihrer Überzeugung gehören die Hilfskräfte des Klägers nicht zu den Angehörigen iS von § 8 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes (II. WoBauG), so daß eine beitragsfreie Unfallversicherung bei der Beklagten nur bestanden habe, wenn die Arbeitsleistung unentgeltlich oder auf Gegenseitigkeit (§ 36 Abs 2 Buchst c II. WoBauG) erbracht worden sei. Diese Voraussetzung sei nicht gegeben, weil die gewährten Sachleistungen Arbeitsentgelt gemäß § 14 Sozialgesetzbuch (SGB 4) seien. Im übrigen lägen die Bauzeit beim Kläger und bei seiner Schwester und seinem Schwager zeitlich so weit auseinander, daß die Gegenseitigkeit der Arbeitsleistung auch aus diesem Grunde nicht gegeben gewesen sei.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. November 1981 und das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 27. Januar 1981 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Nach seiner Auffassung ist hier die Gegenseitigkeit der Arbeitsleistungen gegeben. Sie brauchten, wie sich aus der Verwendung des Wortes "oder" in § 36 Abs 2 Buchst d II. WoBauG ergebe, nicht auch noch unentgeltlich erbracht zu werden.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Die Beteiligten gehen mit den Vordergerichten übereinstimmend davon aus, daß der Kläger ein steuerbegünstigtes Familienheim errichtet hat. Demgemäß kommt es für die Beantwortung der Frage, ob der Kläger für die Arbeiten seiner Hilfskräfte Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung zu entrichten hat, darauf an, ob diese Personen im Rahmen der Selbsthilfe tätig geworden sind (§ 539 Abs 1 Nr 15 iVm §§ 657 Abs 1 Nr 8 und 770 Satz 5 der Reichsversicherungsordnung -RVO-). Für die Begriffsbestimmungen in diesen Vorschriften sind die in § 539 Abs 1 Nr 15 Satz 3 RVO genannten Vorschriften des II. WoBauG maßgebend. Nach § 36 Abs 2 II. WoBauG gehören zur Selbsthilfe die Arbeitsleistungen des Bauherren selbst (Buchst a), die seiner Angehörigen (Buchst b) sowie die Arbeiten anderer Personen, wenn sie die Arbeiten unentgeltlich oder auf Gegenseitigkeit (Buchst c) erbracht haben. Wer "Angehöriger" des Bauherren - hier: des Klägers - ist, ergibt sich aus § 8 Abs 2 II. WoBauG. Nach § 8 Abs 2 Buchst b II. WoBauG zählen hierzu ua Verwandte zweiten und dritten Grades in der Seitenlinie. Nach § 1589 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) sind Personen, die von derselben Person abstammen, in der Seitenlinie verwandt. Zu ihnen zählen hier die Schwester und der Neffe des Klägers, weil sie von den gemeinsamen Eltern des Klägers und seiner Schwester abstammen. Da sich der Grad der Verwandtschaft nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten bestimmt (s. § 1589 Satz 3 BGB), ist der Kläger mit seiner Schwester im zweiten und mit seinem Neffen im dritten Grade in der Seitenlinie verwandt. Ihre Arbeitsleistungen sind daher Selbsthilfeleistungen von Angehörigen (§ 36 Abs 2 Buchst b II. WoBauG).

Hiergegen wendet die Beklagte ein, daß auf die Schwester und den Neffen des Klägers die Vorschrift des § 36 Abs 2 Buchst b bzw des § 8 Abs 2 Buchst b II. WoBauG nicht anwendbar sei. Gemäß § 8 Abs 1 II. WoBauG setze die Zugehörigkeit zu den "Angehörigen" eines Bauherrn voraus, daß sie zum Familienhaushalt gehörten oder nach Fertigstellung des Bauvorhabens in den Familienhaushalt aufgenommen werden sollen. An dieser Voraussetzung fehle es bei der Schwester des Klägers und deren Sohn. Die Rechtsauffassung der Beklagten vermag der Senat nicht zu teilen. In ihr wird die unterschiedliche Zweckbestimmung von § 8 Abs 1 und § 8 Abs 2 II. WoBauG übersehen. Diese Vorschriften schließen systematisch unmittelbar an § 7 Abs 1 II. WoBauG an, wonach Familieneigenheime beim Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen den Vorschriften des II. WoBauG unterfallen, wenn sie entweder für die Familie des Eigentümers oder für die Familie eines Angehörigen errichtet werden. Demgemäß hat der Gesetzgeber in § 8 Abs 1 II. WoBauG klargestellt, wer zur "Familie" zu rechnen ist und in Abs 2 dieser Vorschrift umschrieben, welche Personen "Angehörige" iS des Gesetzes sind. Für die Auslegung des § 36 Abs 2 II. WoBauG ist die Festlegung des Begriffes der Familie in § 8 Abs 1 II. WoBauG ohne Bedeutung, weil § 36 Abs 2 II. WoBauG den Begriff Familie nicht verwendet. Lediglich der hiervon zu unterscheidende Begriff des "Angehörigen" ist in § 36 Abs 2 II. WoBauG rechtserheblich. Er ist ausschließlich auf § 8 Abs 2 II. WoBauG bezogen und beinhaltet nicht die Einschränkung, welche die Beklagte ihm zu Unrecht beilegt. Der Begriff des Angehörigen ist allein der Vorschrift des § 8 Abs 2 II. WoBauG zu entnehmen. Er setzt nicht voraus, daß die darin aufgeführten Personen zum Familienhaushalt des Bauherren zählen oder in ihm aufgenommen werden sollen.

Die Hilfstätigkeiten, welche von der Schwester und dem Neffen des Klägers an dessen Bauvorhaben verrichtet wurden, sind Arbeitsleistungen im Rahmen der Selbsthilfe iS von § 539 Abs 1 Nr 15 RVO iVm § 36 Abs 2 Buchst b II. WoBauG. Diese Vorschriften verlangen nicht, daß die Tätigkeit unentgeltlich ist. Eine beitragsfreie Versicherung besteht für Angehörige auch dann, wenn sie als Gegenleistung ein Entgelt erhalten (wie hier: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S. 475a; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 539 Anm 92; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 300, S 41; Gitter in RVO-Gesamtkommentar, § 539 Anm 59; Linthe, BG 1956, S. 388, 389; Schöppner, GUV 1963, 89, 91). Die Beklagte durfte danach die Arbeitsleistungen der Schwester und des Neffen des Klägers nicht berücksichtigen.

Dasselbe gilt aus anderen Gründen auch für die Tätigkeiten der beiden anderen Hilfskräfte, nämlich des Ehemannes der Schwester des Klägers und seines Bekannten. Zur Selbsthilfe zählen gemäß § 36 Abs 2 Buchst c II. WoBauG auch die entweder unentgeltlich oder auf Gegenseitigkeit erbrachten Leistungen. Mit Recht hat das LSG auch hier offengelassen, ob die Gewährung von Verpflegung in dem beschriebenen Rahmen die Unentgeltlichkeit der Arbeitsleistung beseitigte; denn beide Hilfskräfte haben ihre Arbeiten auf Gegenseitigkeit erbracht.

Der Gesetzgeber hat die Arbeitsleistungen anderer Personen als des Bauherrn und seiner Angehörigen alternativ unter zwei Voraussetzungen als zur Selbsthilfe gehörig betrachtet. Dies hat er durch die Verwendung des Wortes "oder" unzweideutig zum Ausdruck gebracht. Die Beklagte meint dagegen, die Vorschrift sei "sehr eng" auszulegen und dahin zu verstehen, daß auch der Gegenseitigkeit das Merkmal der Unentgeltlichkeit innewohne. Dies erscheint dem Senat nicht zutreffend.

Der Gesetzgeber hat durch die Einfügung des § 36 in das II. WoBauG die Selbsthilfe "verstärkt gefördert" und deren Nachweis erleichtert. ( BT-Drucks II zu Nr 2270 - Bericht des Abgeordneten Bönner - S 10 zu § 37). Mit dem Zweck des Gesetzes stände eine so enge Auslegung der Norm nicht im Einklang. Durch das Gesetz sollen die Selbsthilfe für einkommensschwache Bevölkerungsschichten begünstigt (vgl zB § 44 Abs 1 Satz 2 II. WoBauG) und die  "Bereitschaft zur Selbsthilfe" angeregt werden (§ 1 Abs 2 Satz 4 II. WoBauG). Dem entspräche es nicht, nur die unentgeltliche auf Gegenseitigkeit beruhende Arbeitsleistung zur Selbsthilfe zu rechnen ist. Eine solche enge Gesetzesanwendung würde alle diejenigen gegenseitigen Hilfeleistungen nicht erfassen, welche zB zur Sicherung der Gegenseitigkeit je nach dem Wert der geleisteten Arbeit in Vergütungen festgelegt und durch Gegenüberstellung verrechnet oder die deshalb vergütet werden, weil sie die Hilfeleistung des anderen übersteigen. Damit wäre die Bereitschaft zur Selbsthilfe nicht "angeregt", sondern eher behindert.

Es bedarf auch keiner weiteren tatsächlichen Feststellungen durch das LSG, ob der Kläger und sein Bekannter die Selbsthilfe auf Gegenseitigkeit etwa zur gleichen Zeit geleistet haben, wie der Kläger in der Klageschrift vorgetragen hat; denn es trifft nicht zu, daß die Hilfeleistung auf Gegenseitigkeit innerhalb eines bestimmten Zeitraumes gegenseitig erbracht sein muß. Eine derartige Beschränkung ist dem Wortlaut des § 36 II. WoBauG nicht zu entnehmen. Sie widerspricht auch dem Sinn dieser Vorschrift. In Abs 1 wird der Nachweis zukünftiger Selbsthilfe erleichtert, von welcher noch nicht feststeht, wann sie erbracht werden wird. Steht aber infolge Fehlens notwendiger Bewilligungen und Genehmigungen der Zeitraum der eigenen Selbsthilfe nicht fest, so kann erst recht kein Zeitpunkt für eine auf Gegenseitigkeit beruhende Arbeitsleistung bestimmt werden, welche in Zukunft erbracht werden soll. Demgemäß genügt die ernsthafte Absprache gegenseitiger Hilfeleistung ohne genaue Zeitbestimmung. Andernfalls würde gerade der Bauherr benachteiligt, der mit möglichst geringen Mitteln sein Eigenheim errichten muß und deshalb zur Sicherung einer möglichst umfangreichen Selbsthilfe schon frühzeitig auf Gegenseitigkeit Selbsthilfearbeiten für mehrere andere Bauarbeiten verrichtet.

Dennoch konnte der Senat nicht abschließend entscheiden, ob die Hilfskräfte des Klägers in Selbsthilfe tätig waren. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG muß der durch den Wert der  Selbsthilfe gegenüber den üblichen Unternehmerkosten ersparte  Betrag in der Regel wenigstens 1,5 vH der Gesamtkosten des Bauvorhabens betragen (s ua BSGE 28, 122; 45, 258, 262; Brackmann aaO Seite 475a). Das LSG hat insoweit keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, die dem Senat die Entscheidung auch über diese Voraussetzung der Selbsthilfe ermöglichen. Da das Revisionsgericht die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht selbst nachholen kann, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.

 

Fundstellen

Breith. 1983, 396

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