Orientierungssatz
Parallelentscheidung zu dem BSG-Urteil vom 25.8.2011 - B 8 SO 7/10 R, das vollständig dokumentiert ist.
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 21. Dezember 2009 - S 33 SO 18/07 - aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen, soweit das Sozialgericht die Beklagte zur Leistung verurteilt hat.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 31 690,62 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Im Streit ist (noch) die Erstattung von Kosten für Sozialhilfeleistungen in Höhe von 26 690,62 Euro, die der Kläger für die Zeit vom 1.1.2006 bis 28.2.2007 an W L (L.) erbracht hat.
Der 1962 geborene L. wohnte im Jahre 2005 in der Stadt L und erhielt bis 31.12.2005 Sozialhilfeleistungen (ua Eingliederungshilfeleistungen für Betreutes-Wohnen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Zum 1.1.2006 zog er in die Wohnung seiner Ehefrau in Bremerhaven, die diese von den Elbe-Weser-Werkstätten (EWW) angemietet hatte. L. schloss seinerseits einen Untermietvertrag mit der EWW, die ihn vor dem Umzug in der früheren Wohnung betreut hatte und auch nach dem Umzug in der neuen weiterhin betreute. Der Kläger lehnte die (weitere) Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen, die L. zuvor beantragt hatte, ab, weil er sich wegen des Umzugs nicht mehr für zuständig erachtete. Nach den Feststellungen des Sozialgerichts (SG) erkannte er jedoch im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens eine vorläufige Leistungspflicht ab 2006 als erstangegangener Leistungsträger für Eingliederungshilfeleistungen an. Für den Zeitraum vom 1.1.2006 bis 28.2.2007 wandte der Kläger für Sozialhilfeleistungen an L. insgesamt 26 690,62 Euro auf.
Die nach Ablehnung einer Kostenerstattung durch die Beklagte erhobene Klage hatte beim SG Erfolg (Urteil vom 21.12.2009). Zur Begründung seiner Entscheidung, mit der das SG außerdem festgestellt hat, dass die Beklagte "zuständiger Träger für Leistungen nach dem SGB XII für Herrn L." sei, hat es ausgeführt, dem Kläger stehe ein Erstattungsanspruch gemäß § 102 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) zu, weil die Beklagte nach dem Umzug gemäß § 98 Abs 1 Satz 1 SGB XII örtlich zuständig geworden sei. § 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII, wonach für Leistungen nach dem SGB XII an Personen, die Leistungen nach dem Sechsten bis Achten Kapitel in Form ambulanter betreuter Wohnmöglichkeiten erhielten, abweichend davon der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig sei (bzw bleibe), der vor Eintritt in diese Wohnform zuletzt zuständig gewesen sei oder gewesen wäre, finde keine Anwendung. Es fehle an der nach dieser Regelung notwendigen Verknüpfung zwischen Wohnungsgewährung und ambulanter Pflege. Es genüge nicht, dass die Wohnung bei dem Betreuungsdienst selbst angemietet sei und dieser eine Betreuung durchführe; vielmehr müsse sie von diesem auch beschafft worden sein.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 98 Abs 5 SGB XII. Danach setze entgegen der Ansicht des SG ein Betreutes-Wohnen nicht die Gewährung der Wohnung durch den Anbieter der ambulanten Betreuung voraus. Es sei deshalb bei der örtlichen Zuständigkeit des Klägers trotz des Umzugs verblieben, weil der Kläger vor dem Bezug der Wohnung in Bremerhaven für die Leistungen zuständig gewesen sei.
Die Beklagte beantragt, nachdem der Kläger die Feststellungsklage zurückgenommen hat,
das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit das SG die Beklagte zur Leistung verurteilt hat.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des SG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig. Zwar ist sie nachträglich durch Beschluss des SG vom 18.3.2010 fehlerhafterweise ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richter zugelassen worden; gleichwohl ist der Senat an die Zulassung der Sprungrevision gebunden (BSG, Urteil vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 13/06 R - RdNr 9). Unschädlich ist, dass der Kläger in seiner Erklärung vom 22.2.2010 nicht ausdrücklich der Einlegung einer Sprungrevision, sondern nur pauschal einer Sprungrevision zugestimmt hat. Denn eine derartige Erklärung ist jedenfalls dann als Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision zu verstehen, wenn - wie vorliegend - im Zeitpunkt der Abgabe der Zustimmungserklärung Tenor und schriftliche Entscheidungsgründe des SG-Urteils dem Erklärenden bekannt waren (BSG SozR 3-1500 § 161 Nr 13 S 31 mwN).
Die Revision der Beklagten ist nach der Teilklagerücknahme des Klägers, die den zuvor noch gestellten Feststellungsantrag betrifft, im Sinne der Aufhebung des Urteils des SG und der Zurückverweisung der Sache an das SG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 4 Satz 1 iVm Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), weil für eine endgültige Entscheidung durch den Senat erforderliche Tatsachenfeststellungen (§ 163 SGG) fehlen.
Auf welche Anspruchsgrundlage ein eventueller Erstattungsanspruch gestützt werden kann, bedarf weiterer, je nach Anspruchsgrundlage unterschiedlicher tatsächlicher Feststellungen, sodass eine genauere Auseinandersetzung mit den einzelnen Anspruchsnormen untunlich ist. Abgesehen davon, dass das SG keine Ausführungen zur Existenz und zum Inhalt eventuell von § 97 Abs 3 SGB XII (gültig ab 1.1.2007) bzw von (bis 31.12.2006)§ 100 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) abweichenden Landesrechts gemacht hat, fehlt es schon an Feststellungen dazu, welche Leistungen im Einzelnen erbracht worden sind, und zu Art und Umfang dieser Leistungen, die die Zuständigkeit (mit)bestimmen. Nicht beurteilbar ist ohnedies, ob die einzelnen Leistungen zu Recht erbracht worden sind. Dies aber ist Voraussetzung für alle Erstattungsansprüche (vgl nur Böttiger in Lehr- und Praxiskommentar SGB X, 3. Aufl 2011, § 102 RdNr 28, § 103 RdNr 45, § 104 RdNr 14 und § 105 RdNr 14, jeweils mwN). Es ist zudem in tatsächlicher Hinsicht nicht nachvollziehbar, ob die vom SG angenommene Anspruchsgrundlage des § 102 SGB X iVm § 43 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) überhaupt Anwendung findet; denn es ist schon nicht festgestellt, ob zwischen den beteiligten Leistungsträgern Streit bestand (vgl zu dieser Voraussetzung nur Wagner in juris PraxisKommentar ≪jurisPK≫ SGB I, § 43 RdNr 25 ff), bzw bei wem zu welchem Zeitpunkt ein Antrag gestellt worden ist.
Im Übrigen liegen für die Leistungen der Eingliederungshilfe möglicherweise die Voraussetzungen des § 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) für eine vorläufige Zuständigkeit vor, sodass sich gegenüber § 43 SGB I iVm § 102 SGB X vorrangige Erstattungsansprüche (vgl nur Luik in jurisPK-SGB IX, § 14 RdNr 19 ff mwN) nach §§ 102, 104 SGB X ergeben können (vgl dazu nur: Luik, aaO, RdNr 103 ff mwN). Auch die Anwendung des § 105 SGB X ist nicht ausgeschlossen, wenn keine vorläufige Zuständigkeit nach § 14 SGB IX eingetreten ist und kein Fall des § 102 SGB X vorliegt. Insoweit ist ggf auch an die Anwendung des § 2 Abs 3 SGB X zu denken (vgl zur Anwendbarkeit dieser Vorschrift allgemein: Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl 2010, § 98 SGB XII RdNr 37 mwN; Söhngen in jurisPK-SGB XII, § 98 SGB XII RdNr 7 mwN; Hohm in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl 2010, § 98 SGB XII RdNr 134; Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 98 RdNr 17 mwN, Stand Dezember 2010).
Vor einer Entscheidung über die richtige Anspruchsgrundlage bedarf es der Klärung der Zuständigkeit für die Leistungen. Die tatsächlichen Feststellungen lassen deren abschließende Beurteilung allerdings nicht zu.
Eine Zuständigkeit des Klägers selbst könnte sich aus § 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII ergeben (ab 1.1.2005 idF des Verwaltungsvereinfachungsgesetzes vom 21.3.2005 - BGBl I 818 - bzw ab 7.12.2006 idF des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 2.12.2006 - BGBl I 2670), und zwar nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift und dem Zweck der Regelung (Entlastung der Leistungsorte, die Formen des Betreuten-Wohnens anbieten; s dazu das Senatsurteil vom 25.8.2011 - B 8 SO 7/10 R) nicht nur für die Kosten der Eingliederungshilfe, sondern aller Sozialhilfeleistungen (vgl Wahrendorf, aaO, § 98 SGB XII RdNr 36; Söhngen, aaO, § 98 SGB XII RdNr 50; Rabe in Fichtner/Wenzel, SGB XII, 4. Aufl 2009, § 98 RdNr 37; Steimer in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, § 98 SGB XII RdNr 88, Stand August 2008; Schlette, aaO, K § 98 RdNr 98; Frieser in Linhart/ Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 98 SGB XII RdNr 72, Stand März 2008). Danach ist in Fällen ambulanter betreuter Wohnmöglichkeiten die Zuständigkeit vor Eintritt in diese Wohnform maßgeblich. Vorliegend wäre dies wohl - genaue Feststellungen des SG für eine Beurteilung fehlen indes - die Zuständigkeit des Klägers selbst (§ 98 Abs 1 SGB XII bzw § 97 Abs 1 BSHG). Ob, soweit in § 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII auf die Zuständigkeit vor Eintritt in die Wohnform abgestellt wird, alleine maßgeblich die Zuständigkeit für die Leistungen des Betreuten-Wohnens ist, was nach der Zielsetzung der Norm (Entlastung der Leistungsorte; s dazu das Senatsurteil vom 25.8.2011 - B 8 SO 7/10 R) naheliegend ist, oder ob bei verschiedenen Leistungen auf unterschiedliche Zuständigkeiten abzustellen ist, bedarf nur dann einer Entscheidung durch das SG, wenn die Leistungszuständigkeit für die einzelnen Leistungen tatsächlich auseinandergefallen wäre. Das SG wird dies zu beachten haben.
Ob § 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII überhaupt anwendbar ist, kann andererseits schon deshalb nicht beurteilt werden, weil aus tatsächlichen Gründen nicht nachvollziehbar ist, ob es sich bei den Leistungen an L. um Betreutes-Wohnen gehandelt hat. Die reine Rechtsbehauptung des SG hierzu ermöglicht dem Senat nicht die erforderliche Nachprüfung. Sollte allerdings inhaltlich eine Leistung in Form des Betreuten-Wohnens vorgelegen haben, ist die Ansicht des SG, die Anwendung des Satzes 1 scheitere daran, dass sich L. die Wohnung selbst gesucht und angemietet habe, also keine institutionelle Verknüpfung mit der ambulanten Betreuung selbst vorliege, rechtlich nicht nachvollziehbar (siehe dazu näher das Senatsurteil vom 25.8.2011 - B 8 SO 7/10 R).
Bei der Anwendung von § 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII ist nach einem Umzug weiterhin auf den Eintritt in die Wohnform als solche, nicht auf den Beginn der Betreuung in der neuen Wohnung, abzustellen, wenn - wie vorliegend - kein neuer Leistungsfall und keine Unterbrechung der Betreuung eingetreten ist (vgl dazu näher das Senatsurteil vom 25.8.2011 - B 8 SO 7/10 R). Da der Leistungsfall des Betreuten-Wohnens wohl - Feststellungen des SG hierzu fehlen - bereits vor dem 1.1.2005 eingetreten ist, dürfte § 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII allerdings wegen der Regelung des § 98 Abs 1 Satz 2 SGB XII keine Anwendung finden (siehe dazu näher das Senatsurteil vom 25.8.2011 - B 8 SO 7/10 R). Es dürften deshalb für die Leistungen des Betreuten-Wohnens die Zuständigkeitsregelungen des BSHG weitergelten (näher dazu das Senatsurteil vom 25.8.2011 - B 8 SO 7/10 R). Für die (nach Aktenlage) sonstigen erbrachten Sozialhilfeleistungen (Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen; Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) wären dann, weil die in § 98 Abs 5 Satz 1 SGB XII angeordnete Zuständigkeitsbündelung (s oben) nicht greift, die allgemeinen Zuständigkeitsregelungen des § 98 Abs 1 SGB XII maßgebend.
Ggf wird das SG L. notwendig beizuladen haben (§ 75 Abs 2 SGG), wenn dieser einem Erstattungsanspruch des Klägers ausgesetzt sein kann (vgl dazu: BSG SozR 4-1300 § 111 Nr 3 RdNr 3; SozR 3-2200 § 1237a Nr 2 S 2 f), und über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Die Streitwertentscheidung beruht auf § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 2, § 39 Abs 1, § 40 Gerichtskostengesetz. Dabei ist für die im Revisionsverfahren zunächst noch rechtshängige Feststellungsklage der Regelstreitwert von 5000 Euro angesetzt worden, weil keinerlei Anhaltspunkte für den Wert dieser Feststellungsklage für die Zeit vorhanden waren, die nicht bereits von der Leistungsklage erfasst ist.
Fundstellen