Entscheidungsstichwort (Thema)
Honorarforderung. wiederkehrende Leistungen
Orientierungssatz
1. Honorarforderungen der Kassenärzte gegen die Kassenärztliche Vereinigung sind Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen iS des SGG § 144 Abs 1 Nr 2.
2. Werden Honorarforderungen für 2 Quartale geltend gemacht, so handelt es sich nicht um zwei selbständige Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von jeweils einem Vierteljahr, sondern um einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von 2 Vierteljahren.
Normenkette
SGG § 144 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 14.04.1961) |
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 14. April 1961 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Dr. W Sch war als praktischer Arzt zur Kassenpraxis zugelassen und Mitglied der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Diese nahm an den Honorarabrechnungen des Klägers "Verteilungskürzungen" auf Grund des § 8 des bei der beklagten KV eingeführten Honorarverteilungsmaßstabes (HVM) vor, und zwar für das dritte Vierteljahr 1958 (III/1958) in Höhe von rd. 586 DM (Bescheid vom 16. Februar 1959) und für das erste Vierteljahr 1959 (I/1959) in Höhe von rd. 1360 DM (Bescheid vom 17. Juli 1959).
Mit der Klage machte Dr. Sch geltend, § 8 HVM sei gesetzwidrig und deshalb nichtig. Für die von der beklagten KV durchgeführten Honorarkürzungen fehle es somit an einer gesetzlichen Grundlage. Er hatte beantragt,
1. die Honorarabrechnungsbescheide vom 16. Februar 1959 und 17. Juli 1959 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen,
a) ihm den ihm zustehenden Honoraranteil an der Gesamtvergütung für die Quartale III/58 und I/59 ohne Verteilungskürzung aus § 8 des am 23. April 1958 beschlossenen HVM auf Grund seiner Honorarforderungen neu zu berechnen und ihm entsprechende Honorarabrechnungen zu erteilen,
b) denjenigen Betrag, um den sich bei Neuberechnung die Honorarsumme aus den Honorarabrechnungen erhöht, an ihn zu zahlen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 4. November 1960).
Die Berufung des Klägers wurde vom Landessozialgericht (LSG) als unzulässig verworfen. Nach seiner Auffassung betrifft die Klage zwar Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Jedoch habe der Kläger für jedes Vierteljahr einen selbständigen Honoraranspruch, so daß mit der Klage zwei Ansprüche, die jeweils nur einen Zeitraum von dreizehn Wochen (drei Monaten) beträfen, geltend gemacht worden seien. Demnach sei die Berufung nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ausgeschlossen.
Gegen dieses Urteil haben die Rechtsnachfolger des nach Verkündung des angefochtenen Urteils gestorbenen Klägers Revision mit dem Antrag eingelegt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Sie haben gerügt, das LSG habe § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG unrichtig angewendet und deshalb zu Unrecht ein Prozeßurteil erlassen, anstatt in der Sache selbst zu entscheiden.
Diese Rüge ist begründet.
Die Kläger begehren neben der Aufhebung der beiden angefochtenen Honorarabrechnungsbescheide die Verpflichtung der beklagten KV zum Erlaß neuer Honorarabrechnungsbescheide sowie deren Verurteilung zur Zahlung des sich aus der Neufestsetzung des Honorars ergebenden Unterschiedsbetrages. Ungeachtet der Verschiedenartigkeit der Klageziele hängt die Zulässigkeit der Berufung gegen das Urteil des SG, das über die drei im vorliegenden Rechtsstreit miteinander verbundenen Klagen - Aufhebungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage - entschieden hat, allein davon ab, ob die dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Verwaltungsakte "Ansprüche" der in § 144 Abs. 1 SGG bezeichneten Art betreffen (vgl. BSG 4, 206, 208 und Urteil des erkennenden Senats vom 29. Mai 1962 - 6 RKa 8/61 - in SozR SGG § 144 Bl. Da 8 Nr. 21).
Die Prüfung ist für jede der erhobenen Klagen selbständig durchzuführen. Dem LSG ist darin zuzustimmen, daß eine Zusammenrechnung der Ansprüche, wie sie § 5 der Zivilprozeßordnung für die Ermittlung des Wertes des Streitgegenstandes vorsieht, nach der auf völlig anderen Gedanken aufbauenden Systematik des SGG ausgeschlossen ist.
Zutreffend hat das LSG in Anlehnung an die Entscheidung des erkennenden Senats vom 27. November 1959 (BSG 11, 102, 107) die Honorarforderungen der Kassenärzte gegen die KV als Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG angesehen. Diese Ansprüche beruhen auf einem einheitlichen Stammrecht - dem Mitgliedschaftsverhältnis bei der KV - und werden der Art nach immer gleich regelmäßig wiederkehrend in vierteljährlichen Zeitabständen geltend gemacht ("abgerechnet"). Daß sie auch nach dem sozialpolitischen Zweck des § 144 Abs. 1 SGG den - zweifelsfrei unter die genannte Vorschrift fallenden - auf wiederkehrende Leistungen gerichteten "Sozialleistungsansprüchen" der Sozialversicherten und Versorgungsberechtigten gleichzustellen sind, hat der Senat bereits in der genannten Entscheidung näher dargelegt.
Die den Gegenstand des Rechtsstreits bildenden Verwaltungsakte betreffen jedoch nicht, wie das LSG - abweichend von BSG 11, 102, 108 - angenommen hat, zwei selbständige Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von jeweils einem Vierteljahr, sondern einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von zwei Vierteljahren. Daß die fraglichen Vierteljahre nicht zusammenhängen, sondern - wie im vorliegenden Fall - durch einen Vierteljahresabschnitt getrennt sind, dessen Abrechnungsbescheid nicht angefochten ist, ist dabei unerheblich; denn für die Frage der Zulässigkeit der Berufung ist unter dem Gesichtspunkt des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG nur von Bedeutung, ob ein auf einem einheitlichen Stammrecht beruhender Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von insgesamt mehr als dreizehn Wochen geltend gemacht ist. Mit der auch vom LSG gebilligten Auffassung, daß es sich bei den Honorarforderungen der Kassenärzte gegen die KV um Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen handelt, ist die Folgerung unvereinbar, daß die jeweils für ein Vierteljahr als Abrechnungszeitraum geltend gemachten Honorarforderungen auf selbständigen "Klagegründen" (vgl. dazu § 90 Abs. 3 SGG) beruhen. Die wiederkehrenden Leistungen im Sinne des § 144 SGG sind gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie auf einem einheitlichen Stammrecht beruhen, das in regelmäßiger Wiederkehr dem Grunde nach gleichartige - wenn auch nicht der Höhe nach gleichbleibende - Einzelansprüche auslöst. Wären die für verschiedene Vierteljahre geltend gemachten Honorarforderungen der Kassenärzte als prozessual selbständige, auf verschiedenen Klagegründen beruhenden Ansprüche anzusehen, so schlösse das in sich ein, daß die Honorarforderungen als Ansprüche auf einmalige Leistungen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG angesehen werden müßten. Das hat das LSG aber selbst abgelehnt, wenn es zutreffend feststellt, daß "die Honorarzahlung kein einmaliger Vorgang ist, sondern sich laufend in vierteljährlichen Abständen wiederholt."
Zu Unrecht erblickt das LSG in der hier vertretenen Auffassung einen Widerspruch zu der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. November 1958 (BSG 8, 228, 231). Wenn in dieser Entscheidung ausgeführt wird, daß bei objektiver Klagenhäufung durch Verbindung mehrerer selbständiger prozessualer Ansprüche in einer Klage die Statthaftigkeit des Rechtsmittels für jeden Anspruch gesondert zu prüfen ist, so wird - wie der Zusammenhang und die Hinweise auf Literatur und Rechtsprechung (insbesondere BSG 3, 135, 138) zeigen - hierbei gerade vorausgesetzt, daß "die vom Kläger erhobenen Ansprüche" (§ 123 SGG) auf verschiedenen Klagegründen beruhen (vgl. Entscheidung des erkennenden Senats vom 29. Mai 1962 in SozR SGG § 144 Bl. Da 8 Nr. 21).
Dem LSG ist allerdings darin zuzustimmen, daß es wenig befriedigt, daß ein mehr oder weniger zufälliger Umstand - ob nämlich die auf Honorarkürzungsbescheiden beruhende Beschwer den Kassenarzt nur in einem Abrechnungsquartal oder in mehreren trifft - dafür entscheidend ist, ob die Honorarforderung grundsätzlich berufungsfähig (§ 143 i. V. m. § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG) ist oder ob die Berufung nur ausnahmsweise (§ 150 Nr. 1 und 2 SGG) statthaft ist. Doch gilt diese Erwägung nicht nur für Honorarforderungen von Kassenärzten. Vielmehr genügen die vom Gesetzgeber in § 144 SGG zur Abgrenzung der Bagatellstreitigkeiten von bedeutsameren Rechtsstreitigkeiten gewählten Kriterien ganz allgemein nur unvollkommen diesem Zweck (vgl. z. B. BSG 10, 186 und SozR G 131 § 74 Bl. Aa 4 Nr. 9, wonach Beitragserstattungen nach § 1303 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 74 G 131 als "einmalige Leistungen" unter § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG fallen) Immerhin spricht bei Streitigkeiten über Honorarforderungen von Kassenärzten die Vermutung dafür, daß die strittigen Beträge höher sind, wenn Kürzungsbescheide über mehrere Vierteljahre - und nicht nur über ein Quartal - angefochten sind, so daß sich bei diesen Streitigkeiten die Abgrenzung der Berufungsfähigkeit nach dem Merkmal der in Frage stehenden Zeiträume mit dem Zweckgedanken der Vorschrift verträgt.
Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß die Berufung des Klägers nicht nach §§ 144 ff SGG - insbesondere nicht nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG - ausgeschlossen ist, so daß die Regel des § 143 SGG Platz greift. Die Rüge der Revision, daß das LSG zu Unrecht ein Prozeßurteil anstelle einer Entscheidung in der Sache selbst erlassen hat, ist begründet. Da die für die Entscheidung in der Sache selbst notwendigen Feststellungen nicht vorliegen, mußte der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden.
Bei der neuen Verhandlung wird das LSG die Zulässigkeit der Klage zu prüfen haben. Nach der Darstellung im angefochtenen Urteil scheint ein Vorverfahren nicht stattgefunden zu haben. Die Durchführung des Vorverfahrens in den gesetzlich vorgeschriebenen Fällen ist aber nach der Rechtsprechung des BSG eine Prozeßvoraussetzung für das sozialgerichtliche Verfahren, deren Vorliegen von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit von Amts wegen zu prüfen ist (BSG 3, 293, 297; 4, 246, 247 f; 8, 3, 9). Für die Annahme, daß bei Rechtsstreitigkeiten der vorliegenden Art ein Vorverfahren in der durch § 368 n Abs. 4 RVO festgelegten Art - d. h. vor dem Beschwerdeausschuß - stattzufinden hat, auch wenn nur Verteilungskürzungen (§ 8 des HVM) und keine Kürzungen auf Grund der Prüfung nach § 7 des HVM erfolgt sind, spricht der enge innere Zusammenhang der beiden Kürzungsmaßnahmen.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen