Entscheidungsstichwort (Thema)
Wahrnehmung des Richteramtes
Orientierungssatz
Auch wer als "Vorstandsbeigeordneter" in der Sitzung des Vorstandes einer Kassenärztlichen Vereinigung, in der über einen Widerspruch entschieden wurde, nur beratend tätig geworden ist, hat an den vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt. Er ist deshalb nach SGG § 60 Abs 2 an der Wahrnehmung des Richteramtes gehindert (vgl BSG 1962-09-25 6 RKa 22/59 = SozR Nr 7 zu § 60 SGG).
Normenkette
SGG § 60 Abs. 2
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 26.05.1959) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. Mai 1959 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger ist als praktischer Arzt zur Kassenpraxis zugelassen. Auf Grund der von der Abgeordnetenversammlung der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KV) beschlossenen Grundsätze der Honorarverteilung, die eine auf die Zahl der Behandlungsfälle und die Gruppenzugehörigkeit des Arztes abgestellte Honorarstaffelung vorsehen, wurden der Abrechnung für das zweite Vierteljahr 1957 die vom Kläger erbrachten "Grundleistungen" nicht mit den vollen Werten, wie sie sich bei Anwendung der Preußischen Gebührenordnung für Ärzte ergeben hätten (= rd. 10423 "Preugo-Mark"), sondern mit einem niedrigeren Wert (9576 "Preugo-Mark") zugrunde gelegt. Der Kläger hält die Honorarstaffelung für gesetz- und sittenwidrig und begehrt eine Vergütung auf Grund der nachgewiesenen Einzelleistungen. Sein Widerspruch wurde durch Entscheidung des Vorstands der beklagten KV in der Sitzung vom 12. Februar 1958 - dem Kläger mitgeteilt durch Schreiben des Vorstandsvorsitzenden vom 19. Februar 1958 - zurückgewiesen.
Mit der Klage hat der Kläger beantragt,
1. den Abrechnungsbescheid II/57 der Beklagten insoweit aufzuheben, als durch ihn dem Kläger von den für das II. Quartal 1957 abgerechnete Leistungen 847,30 Pr. Mark gestrichen worden sind,
2. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zusätzlich zu den für das II. Quartal 1957 geleisteten Zahlungen 847,30 PrMark zu der für das II. Quartal 1957 zu entrichtenden Quote zu zahlen,
hilfsweise,
die Beklagte zu verurteilen zu unterlassen, für die Abrechnung II aus 1957 und die folgenden Quartale die Grundsätze der Honorarverteilung der KV Hessen, gültig ab 1. Oktober 1956 bzw. vom 7. September 1957 bzw. 31. Mai 1958 zur Anwendung zu bringen.
Er machte geltend, daß die Honorarstaffelung und die in ihr liegende Honorarbegrenzung gegen § 368 f der Reichsversicherungsordnung (RVO) verstoße. Hier sei bestimmt, daß bei Verteilung der Gesamtvergütung Art und Umfang der Leistungen des Kassenarztes zugrunde zu legen seien. Mit dieser Bestimmung sei ein schematischer Begrenzungsmaßstab unvereinbar. Die Honorarstaffelung verstoße auch gegen das Grundgesetz (GG). Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) sei verletzt; denn nach der Honorarstaffelung erhalte ein Arzt mit einer größeren Praxis für seine Leistungen weniger als das, was einem Arzt mit einer kleineren Praxis für die gleichen Leistungen zustehe. Im übrigen bedeute die Honorarstaffelung auch einen unzulässigen Eingriff in die durch Art. 12 GG geschützte Freiheit des Berufs; sie rufe die Gefahr herauf, daß die Ärzte ihre Praxis so ausübten, wie sie zum finanziell günstigsten Ergebnis gelangten, ohne Rücksicht auf die Pflichten gegenüber den Versicherten. Schließlich sei eine Honorarstaffelung sittenwidrig, weil sie dazu führe, daß die Ärzte mit kleinerer Praxis am Praxisergebnis der besser beschäftigten Ärzte beteiligt würden. Das Sozialgericht wies die Klage durch Urteil vom 14. November 1958 ab.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt mit dem Antrag,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils der Klage stattzugeben.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unbegründet zurückgewiesen; die Revision wurde nicht zugelassen (Urteil vom 26.5.1959). Es hält den von der beklagten KV beschlossenen Honorarverteilungsmaßstab für rechtsverbindlich. Nach § 368 f Abs. 1 RVO müsse der Verteilungsmaßstab drei Gesichtspunkte beobachten: Art und Umfang der Leistungen des Kassenarztes; Unzulässigkeit einer Verteilung der Gesamtvergütung nur nach der Zahl der Behandlungsfälle; Sicherstellung der Verhütung einer übermäßigen Ausdehnung der Tätigkeit des Kassenarztes. Diesen Grundsätzen trage der Honorarverteilungsmaßstab der beklagten KV angemessen Rechnung. Er verstoße weder gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), noch beeinträchtige er das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG).
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt mit dem Antrag,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils:
1. den Abrechnungsbescheid II/57 der Beklagten insoweit aufzuheben, als durch ihn dem Kläger von den für das II. Quartal 1957 abgerechneten Leistungen 847,30 PrMark gestrichen worden sind,
2. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zusätzlich zu den für das II. Quartal 1957 geleisteten Zahlungen 847,30 PrMark zu der für das II. Quartal 1957 zu entrichtenden Quote zu zahlen,
hilfsweise,
die Beklagte zu verurteilen zu unterlassen, für die Abrechnung II aus 1957 und die folgenden Quartale die Grundsätze der Honorarverteilung der KV Hessen, gültig ab 1. Oktober 1956 bzw. 7. September 1957 bzw. 31. Mai 1958, zur Anwendung zu bringen.
Der Kläger hat in erster Linie gerügt, daß das LSG in der mündlichen Verhandlung vom 26. Mai 1959 nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen sei. Dr. W, der an dieser Verhandlung als Landessozialrichter mitgewirkt habe, sei kraft Gesetzes von der Mitwirkung ausgeschlossen gewesen. Er sei Vorstandsmitglied der beklagten KV und habe an deren Entscheidungen, die dem sozialgerichtlichen Verfahren vorausgegangen seien, mitgewirkt. Er sei ferner an der Ausarbeitung und Beschlußfassung über den vom Kläger angegriffenen Honorarverteilungsmaßstab beteiligt gewesen. - In materieller Hinsicht hat der Kläger die Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG, des Art. 12 Abs. 1 GG, des § 368 f Abs. 1 RVO und des in § 138 Abs. 1 BGB normierten Rechtsgrundsatzes gerügt.
Die beklagte KV hat beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Nach ihrer Auffassung greift keine der vorgebrachten Rügen eines wesentlichen Verfahrensmangels durch. Dr. W sei nicht Vorstandsmitglied der beklagten KV, sondern nur Mitglied des Geschäftsausschusses der Bezirksstelle Darmstadt der beklagten KV; § 17 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) habe seiner Mitwirkung als Landessozialrichter daher nicht entgegengestanden. Dr. W sei auch nicht Bediensteter der beklagten KV im Sinne des § 17 Abs. 3 SGG gewesen; er sei zwar dem Vorstand der beklagten KV zur Einarbeitung in Vorstandsgeschäfte - ohne Stimmrecht in den Vorstandssitzungen - beigeordnet gewesen, habe aber keine Vergütung, sondern nur die üblichen Fahrtgelder, Sitzungsgelder und Entgelte für Praxisausfall bezogen. Auch der Ausschließungsgrund des § 60 Abs. 2 SGG sei nicht gegeben; denn Dr W habe mangels Stimmrechts im Vorstand bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren nicht mitgewirkt. Ob Dr. W wegen Besorgnis der Befangenheit hätte abgelehnt werden können, sei unerheblich; der Kläger habe jedenfalls den ihm bekannten Ablehnungsgrund nicht geltend gemacht.
Das Bundessozialgericht hat die Verwaltungsakten der beklagten KV herbeigezogen; in der Niederschrift über die Sitzung des Vorstands der beklagten KV am 12. Februar 1958, in der über den Widerspruch des Klägers gegen die Anwendung des Honorarverteilungsmaßstabs entschieden wurde, ist Dr. W als anwesend aufgeführt.
II
Die Revision ist begründet. Sie muß aus dem gleichen Grunde Erfolg haben, der in der zwischen denselben Beteiligten anhängigen Sache 6 RKa 22/59 die Aufhebung des angefochtenen Urteils rechtfertigt. Auch im vorliegenden Rechtsstreit greift die Rüge durch, an der Entscheidung des LSG habe ein Richter mitgewirkt, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen gewesen sei (§ 551 Nr. 2 ZPO i. V. m. § 202 SGG). Der Landessozialrichter Dr. W war nach § 60 Abs. 2 SGG an der Wahrnehmung des Richteramts gehindert, weil er bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren mitgewirkt hatte. Seine beratende Tätigkeit als "Vorstandsbeigeordneter" in der Sitzung des Vorstands der beklagten KV am 12. Februar 1958, in der über den Widerspruch des Klägers gegen die Anwendung des Honorarverteilungsmaßstabs der beklagten KV entschieden wurde, stellte eine Mitwirkung bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren im Sinne des § 60 Abs. 2 SGG dar, wie im Urteil vom gleichen Tage in der Sache 6 RKa 22/59 näher dargelegt ist.
Deshalb ist auch in dieser Sache das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Kommt es zu einer Entscheidung in der Sache selbst, so wird das LSG zu prüfen haben, ob nicht die Revision - entgegen seiner Entscheidung im aufgehobenen Urteil - nach § 162 Abs. 1 Nr. 1, 2. Halbs. SGG zuzulassen ist, da es sich bei der dem Rechtsstreit vor allem zugrunde liegenden Frage, ob der Honorarverteilungsmaßstab der beklagten KV Bundesrecht verletzt, zweifelsfrei um eine - vom BSG noch nicht entschiedene - "Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung" handelt.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen