Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Berufung das "Ende der Rente" im Sinne des SGG § 146 betrifft.
Normenkette
SGG § 146 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 5. Dezember 1968 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beklagte gewährte der Klägerin, die an einem cerebralen Anfallsleiden leidet, durch Bescheid vom 11. Mai 1964 Rente auf Zeit wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) vom 27. September 1963 bis zum 31. Oktober 1964. In dem Bescheid war vermerkt, die Rente falle spätestens mit Ablauf des Monats Oktober 1964 weg, da begründete Aussicht bestehe, daß die EU bis dahin behoben sein werde (§ 1276 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Dem Bescheid lag ein am 20. März 1964 erstattetes ärztliches Gutachten zugrunde, nach dem die Klägerin wegen ihres Anfallsleidens zur Zeit erwerbsunfähig sei, bei ausreichender Einstellung mit entsprechenden Medikamenten jedoch mit einer Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit in etwa einem halben Jahr zu rechnen sei.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte durch Urteil vom 26. Januar 1967 verurteilt, der Klägerin Rente auf Zeit wegen EU über den 31. Oktober 1964 hinaus bis zum 31. August 1967 zu gewähren; im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das SG hat angenommen, die Klägerin sei noch erwerbsunfähig, so daß ihr Anspruch auf Rente wegen EU über den 31. Oktober 1964 hinaus, jedoch nicht auf unbestimmte Zeit zustehe. Da begründete Aussicht auf Behebung der EU bestehe, sei die Rente auf Zeit (§ 1276 RVO), und zwar unter Beachtung des § 1276 Abs. 3 RVO bis zum 31. August 1967 zu gewähren. Das SG hat die Berufung nicht zugelassen.
Gegen das Urteil hat die Beklagte am 1. März 1967 Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unzulässig verworfen. Es hat die Auffassung vertreten, das SG habe die Beklagte verurteilt, Versichertenrente wegen EU über den 31. Oktober 1964 hinaus bis zum 31. August 1967 zu gewähren und habe damit lediglich einen anderen Endpunkt der unstreitig zu zahlenden Rente festgesetzt, so daß die Berufung nur das Ende der Rente betreffe und gemäß § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht zulässig sei. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Die Beklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt, mit der sie unrichtige Anwendung des § 146 SGG rügt. Sie beantragt sinngemäß,
das Urteil des Hessischen LSG vom 5. Dezember 1968 aufzuheben, das Urteil des SG Gießen vom 26. Januar 1967 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Hessischen LSG vom 5. Dezember 1968 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten als unzulässig zu verwerfen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist.
Obgleich das Berufungsgericht die Revision nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, ist sie statthaft, weil die Beklagte einen wesentlichen Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts rügt, der auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150). Das LSG hat - wie die Revision mit Recht rügt - die Berufung der Beklagten zu Unrecht gemäß § 146 SGG als nicht zulässig angesehen. Es hätte, statt die Berufung als unzulässig zu verwerfen, in der Sache entscheiden müssen. Darin, daß es die sachliche Entscheidung unterlassen hat, liegt ein wesentlicher Mangel im Verfahren (BSG 1, 284 = SozR Nr. 17 zu § 162 SGG).
Nach § 146 SGG ist in Angelegenheiten der Rentenversicherung die Berufung nicht zulässig, soweit sie Beginn oder Ende der Rente oder nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. Der Auffassung des LSG, die Berufung betreffe nur das Ende der Rente, weil die Beklagte sich nur gegen die Gewährung von Rente wegen EU über den 31. Oktober 1964 hinaus bis zum 31. August 1967, also lediglich gegen ein anderes Ende der unstreitig zu zahlenden Rente wende, kann nicht gefolgt werden. Die am 1. März 1967 eingelegte Berufung der Beklagten betraf die für die Vergangenheit vom 1. November 1964 an und für die Zukunft bis zum 31. August 1967 zu gewährende Rente auf Zeit wegen EU. Dabei war nicht nur der in der Vergangenheit liegende Zeitpunkt des Wegfalls der Rente am 31. Oktober 1964 streitig, sondern vor allem ging es darum, ob über diesen Zeitpunkt hinaus und für die Zukunft bis zum 31. August 1967 EU der Klägerin anzunehmen war und ob somit die Voraussetzungen der Rente auf Zeit gemäß § 1276 RVO überhaupt weiterhin erfüllt waren, ob also über den 31. Oktober 1964 hinaus die Anspruchsberechtigung der Klägerin als solche - dem Grunde nach - bestanden hat und fortbestand. In einem solchen Falle handelt es sich nicht, wie die Beklagte mit Recht geltend macht, um das Ende einer unstreitig zu gewährenden Rente.
Die Vorschrift des § 146 SGG schließt die in § 143 SGG allgemein zugelassene Berufung gegen Urteile der Sozialgerichte nur in besonderen Fällen aus. Wenn in ihr bestimmt ist, daß die Berufung nicht zulässig ist, soweit sie Beginn oder Ende der Rente betrifft, so könnte ihrem Wortlaut entnommen werden, die Berufung wäre stets dann ausgeschlossen, wenn z. B. eine abgelehnte Rente oder eine in der Vergangenheit oder in der Zukunft zeitlich begrenzte Rente beträfe, weil eine solche Berufung stets auch den Beginn und auch das Ende der Rente beträfe. Ein so weitgehender Ausschluß der Berufung kann aber in § 146 SGG nicht gemeint sein, worauf insbesondere die Fassung "soweit" hinweist. Deshalb kann § 146 SGG einmal nur dahin aufgefaßt werden, daß die Berufung lediglich dann ausgeschlossen ist, wenn sie nur den Beginn oder nur das Ende der Rente betrifft, nicht aber in all den Fällen, in denen es im Berufungsverfahren darum geht, ob für einen bestimmten Zeitraum Rente überhaupt - dem Grunde nach - zu gewähren ist (vgl. zu der entsprechenden Vorschrift des § 148 Nr. 2 SGG BSG in SozR Nr. 6 zu § 148 SGG).
Zum anderen kann die Prüfung, wann eine Rente zu beginnen hat, logischerweise erst erfolgen, wenn feststeht, daß für die in Betracht kommende Zeit überhaupt eine Rente zu gewähren ist. Ebenso kann die Prüfung, wann eine Rente endet, logischerweise erst erfolgen, wenn feststeht, daß eine gewährte Rente für einen Zeitraum von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr zu gewähren ist. Erst dann ergibt sich nach der Art der Rente, ob sie zu entziehen ist oder wegfällt und wann sie dementsprechend endet. Es besteht demnach - was sich ebenfalls aus der mit dem Wort "soweit" hervorgehobenen Einschränkung ergibt - ein verfahrensrechtlich für die Zulässigkeit der Berufung bedeutungsvoller Unterschied, ob die Berufung den Grund des Rentenanspruches betrifft, nämlich ob die allgemeinen, für die Gewährung einer Rente aufgestellten gesetzlichen Tatbestandsmerkmale (z. B. Erfüllung der Wartezeit, Vorliegen von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit usw.) erfüllt sind oder ob die Berufung nur den Beginn einer dem Grunde nach zu gewährenden Rente oder nur das Ende einer dem Grunde nach nicht mehr zu gewährenden Rente, also die besonderen, nur für den Beginn oder nur für das Ende der Rente im Gesetz aufgestellten Tatbestandsmerkmale betrifft. Die RVO unterscheidet in ihren Vorschriften selbst die allgemeinen Tatbestandsvoraussetzungen für die Gewährung einer Rente von den Tatbestandsvoraussetzungen für den Beginn oder das Ende der Rente, die es für die einzelnen Rentenarten zum Teil voneinander abweichend regelt. Fallen die das Ende (Wegfall) der Rente bestimmenden gesetzlichen Tatbestandsmerkmale mit den gesetzlichen Voraussetzungen zusammen, die den Grund des Rentenanspruchs betreffen, oder überschneiden sie sich, so ist nicht nur das Ende der Rente betroffen, sondern auch der Grund. Wenn es für einen bestimmten Zeitraum schon an den allgemeinen gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Rente fehlt, z. B. die Wartezeit nicht erfüllt oder aber auch z. B. Berufsunfähigkeit bzw. EU nicht gegeben sind, also eine Rente für diesen Zeitraum überhaupt nicht zu gewähren ist, kann auch die besondere, von der Prüfung des Anspruchsgrundes zu trennende und auf den Beginn einer Rente beschränkte Nachprüfung gar nicht erfolgen. Ebenso kann, solange nicht feststeht, ob und wann z. B. die Erwerbsfähigkeit wiedererlangt ist, sich die ebenfalls vom Grund des Anspruchs zu trennende und auf das Ende der Rente beschränkte Frage nicht stellen, wann die Rente zu enden hat.
Allerdings hat das Reichsversicherungsamt (RVA) zu § 1696 Nr. 1 RVO früherer Fassung angenommen, die Revision sei ausgeschlossen, wenn es sich um den Beginn einer unstreitig zu gewährenden Rente handele, ohne daß es darauf ankomme, aus welchen Gründen der Rentenbeginn bemängelt werde. Es sei unerheblich, ob bestritten werde, daß bereits (oder erst) zur Zeit des festgesetzten Rentenbeginns Invalidität vorhanden gewesen sei. Wenn es sich im Ergebnis nur darum handele, den Tag für den Beginn der unstreitig mit Recht zugebilligten Rente nachzuprüfen, sei das Rechtsmittel der Revision nicht gegeben (RVA in AN 1912, 1184).
Sodann hat das RVA zu derselben Vorschrift ausgesprochen, um das "Ende der Rente" im Sinne dieser Vorschrift handele es sich dann, wenn die Invalidität unstreitig beseitigt und nur der Zeitpunkt für das Aufhören der dafür zu gewährenden Rente streitig sei. Das RVA hat ausgeführt, die Vorschrift des § 1696 Nr. 1 RVO frühere Fassung beziehe sich lediglich auf den Fall, daß der Wiedereintritt der Erwerbsfähigkeit und das Aufhören der Rente an sich unbestritten seien und daß es nur streitig sei, bis zu welchem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt die Invalidität gedauert habe und bis wann demgemäß die Rente zu gewähren sei (RVA AN 1912, 1184, 1185; vgl. ferner Sächsisches Landesversicherungsamt in EuM 1911 S. 257, 258).
Das RVA hat es genügen lassen, daß eine Rente für eine gewisse Zeit mit Recht unstreitig zu gewähren war. Der Senat ist aber der Auffassung, daß mit einer solchen Betrachtung dem Sinn und Zweck der Vorschriften über den Ausschluß der Berufung mit ihrer Beschränkung auf bestimmte Tatbestände nicht hinreichend Rechnung getragen wird. Vielmehr müssen für den Zeitraum, für den die Gewährung oder Nichtgewährung der Rente in Frage steht, die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt oder entfallen sein; denn nur dann ist die Rente dem Grunde nach auch für diese Zeit unstreitig zu gewähren oder unstreitig nicht mehr zu gewähren. Demnach genügt es für das "Ende der Rente" nicht, daß der Wiedereintritt der Erwerbsfähigkeit und der Wegfall der Rente - im vorliegenden Fall am 31. August 1967 - an sich unbestritten sind. Vielmehr muß unbestritten sein, bis zu welchem Zeitpunkt die EU gedauert hat, bis zu welchem Zeitpunkt also die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung der Rente auf Zeit wegen EU vorgelegen haben. Über den Grund des Rentenanspruchs darf somit kein Streit mehr bestehen. Die Berufung der Beklagten beträfe nur dann das "Ende der Rente" auf Zeit wegen EU, wenn im Berufungsverfahren nicht mehr darüber zu entscheiden gewesen wäre, von welchem Zeitpunkt an die Erwerbsfähigkeit der Klägerin wieder hergestellt war und die Rente wegzufallen hatte, sondern nur noch darüber zu entscheiden gewesen wäre, ob der Zeitpunkt des Wegfalls der Rente unter Berücksichtigung dieser unbestrittenen Voraussetzungen durch das SG richtig festgestellt worden war.
Mit ihrer Berufung hat die Beklagte aber vor allem geltend gemacht, daß bei der Klägerin im Gegensatz zu der Auffassung des SG über den 31. Oktober 1964 hinaus EU nicht mehr vorgelegen hat. Die Berufung betraf also die allgemeinen Voraussetzungen - den Grund - des Anspruchs der Klägerin auf Rente wegen EU auf Zeit über den 31. Oktober 1964 hinaus und somit nicht nur das Ende der Rente.
Da der von der Revision gerügte Mangel im Verfahren des LSG vorliegt, ist die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Die danach zulässige Revision ist auch begründet. Das LSG wird die Entscheidung in der Sache nachzuholen haben. Hierfür muß das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung, inwieweit die Beteiligten außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten haben, bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen