Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensgang bei Bestellung zum Sachverständigen. eines Gutachtens. Mitwirkung von Hilfskräften bei Abfassung eines Sachverständigengutachtens
Orientierungssatz
1. Es obliegt dem Gericht, den Sachverständigen auszuwählen und zu ernennen (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 404 Abs 1 ZPO). Dies ist zwingendes Recht. Die Ernennung zum Sachverständigen ist ein öffentlich-rechtlicher Akt. Dieser steht ausschließlich dem Gericht zu. Die Ernennung bleibt bis zur Erledigung des Gutachtensauftrages bestehen, es sei denn, das Gericht entbindet den Sachverständigen von der Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 408 Abs 1 S 2 ZPO).
2. Zur nachträglichen Genehmigung eines Gutachtens.
3. Ein Sachverständiger kann sich zwar zur Erfüllung der ihm obliegenden Pflichten sachkundiger Personen als Hilfskräfte bedienen. Die Mitwirkung von geeigneten Hilfskräften findet ihre Grenze darin, daß die persönliche Verantwortung des vom Gericht ausgewählten Sachverständigen gewahrt bleiben muß (vgl BVerwG vom 9.3.1984 - 8 C 97/83 = BVerwGE 69, 70). Die Ernennung zum Sachverständigen schließt nicht die Ermächtigung ein, selbst eine sachkundige Person zum Sachverständigen zu bestellen und ihm die Erstattung eines Gutachtens eigenverantwortlich zu übertragen (vgl BSG vom 28.3.1973 - 9 RV 655/72 = SozR Nr 93 zu § 128 SGG). Sofern der Sachverständige die Einholung eines Zusatzgutachtens für geboten hält, obliegt es ihm, das Gericht entsprechend zu informieren, um dadurch die Ernennung eines Zusatzgutachters zu veranlassen. Erst wenn das Gericht in dieser Weise tätig geworden ist, ist das Zusatzgutachten als Sachverständigenbeweis verwertbar (so ua auch BSG Urteil vom 27.4.1979 - 4 RJ 51/77 = Meso B 20a/171).
Normenkette
SGG § 118 Abs 1 S 1; ZPO § 404 Abs 1, § 408 Abs 1 S 2
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 14.12.1988; Aktenzeichen III UBf 11/82) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 21.07.1977; Aktenzeichen 25 U 438/73) |
Tatbestand
Das klagende Königreich Belgien begehrt von der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) die Erstattung von Rentenleistungen, die es dem Beigeladenen de S. (S.) erbrachte und zukünftig erbringt. Infolge eines Teilanerkenntnisses ist dabei nur noch die Zeit nach dem 30. April 1947 im Streit.
S. ist belgischer Staatsangehöriger. Er lebt seit 18. Juni 1956 in Kanada. Am 12. April 1945 erlitt er als Zwangsarbeiter in Norddeutschland einen Arbeitsunfall. Aufgrund dessen zahlt der Kläger an S. entsprechende Rente.
Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 13. Dezember 1965 die Erstattung der für S. aufgewendeten Leistungen. Er berief sich dabei auf das Allgemeine Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über Soziale Sicherheit vom 7. Dezember 1957 (Soz Sich Abk BEL - BGBl II 1963, 406) sowie auf die Dritte Zusatzvereinbarung zu diesem Abkommen über die Zahlung von Renten für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Abkommens (BGBl II 1963, 404). Die Beklagte lehnte eine Erstattung ab.
Klage und Berufung blieben erfolglos. Das Bundessozialgericht (BSG) hat auf die Revision des Klägers das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Hamburg vom 30. Januar 1979 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen (Urteil vom 26. Januar 1982). Es hat ua ausgeführt, der Erstattungsanspruch des Klägers sei ua davon abhängig, ob S. Ansprüche erworben habe, die auf den Kläger hätten übergehen können. Es sei zu prüfen, ob dem S. Entschädigungsansprüche aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung dem Grunde nach zuständen. Ob nach Auswanderung des S. nach Kanada die Ruhensvorschriften anzuwenden seien, habe das Berufungsgericht in eigener Zuständigkeit zu entscheiden.
Das LSG hat einen Erstattungsanspruch des Klägers erneut verneint (Urteil vom 14. Dezember 1988). Es hat dies ua damit begründet, daß die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bei S. nach dem 30. April 1947 nicht einen rentenberechtigten Grad der MdE um 20 vH erreiche. Somit stände Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht zu. Das Berufungsgericht hat seiner Entscheidung die Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. W. vom 4. August 1987 und 19. Juli 1988 sowie das Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. R. vom 7. Juni 1988 zugrunde gelegt. Letzterer erstattete sein Gutachten nach ambulanter Untersuchung am 31. Mai 1988 auf Veranlassung des Sachverständigen Dr. W. . Das LSG genehmigte mit einem an Dr. W. gerichteten Schreiben vom 2. Juni 1988 - zur Post am 8. Juni 1988 - das von Dr. W. für notwendig befundene neurologische Zusatzgutachten des Dr. R.
Mit der - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision rügt der Kläger ua, das Gutachten des Dr. R. sei entgegen der Verfahrensweise des LSG als Sachverständigengutachten nicht verwertbar. Dr. R. sei nicht zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt worden. Dieser habe sein Zusatzgutachten lediglich auf Wunsch des Dr. W. erstattet. Eine nachträgliche Genehmigung dieses Zusatzgutachtens durch das LSG sei - zumal nur auf richterliche Anordnung und nicht durch den Richter selbst erfolgt - unzulässig. Darauf beruhe das Berufungsurteil.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Urteile zu verurteilen, dem Kläger die Leistungen zu zahlen, die aus Anlaß des Arbeitsunfalles des Beigeladenen am 12. April 1945 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren wären; hilfsweise das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als entsprechend dessen Hilfsantrag das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist. Das Berufungsurteil beruht auf dem Verfahrensmangel einer unzureichenden Sachaufklärung und Beweiserhebung (§§ 103, 106, 118 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG- iVm §§ 404 ff Zivilprozeßordnung -ZPO-).
Es fehlt an der verfahrensfehlerfreien Tatsachenfeststellung, ob beim Beigeladenen S. nach dem 30. April 1947 als Unfallfolge ein rentenberechtigter Grad der MdE bestanden hatte und gegebenenfalls noch besteht (vgl § 581 Abs 1 Nr 2 Reichsversicherungsordnung -RVO-), was Voraussetzung für den Erstattungsanspruch der Klägerin gegenüber der Beklagten ist.
Das Berufungsgericht hat seine Überzeugung aufgrund des Gutachtens des Facharztes für Orthopädie Dr. W. sowie des "Gutachtens" des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. R. gewonnen. Das von Dr. R. verfaßte "Gutachten" durfte das LSG indessen nicht als Sachverständigenbeweis verwerten (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 402 ff ZPO). Daß das Berufungsgericht gleichwohl so verfahren ist, ergibt sich aus den Entscheidungsgründen seines Urteils. Dort ist Dr. R. als Sachverständiger bezeichnet.
Das LSG hätte die schriftliche Äußerung des Dr. R. unabhängig davon, ob sie inhaltlich den Anforderungen eines "Gutachtens" entspricht, nur dann als Sachverständigengutachten würdigen dürfen, wenn es ihn vor der Gutachtenserstellung zum Sachverständigen ernannt hätte (BSG SozR Nr 71 zu § 128 SGG mit Anmerkung von Friederichs NJW 1965, 1100; SozR Nrn 81 und 93 zu § 128 SGG, SozR 1500 § 128 Nr 24). Dem Gericht obliegt es, den Sachverständigen auszuwählen und zu ernennen (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 404 Abs 1 ZPO). Dies ist zwingendes Recht. Die Ernennung zum Sachverständigen ist ein öffentlich-rechtlicher Akt. Dieser steht ausschließlich dem Gericht zu. Die Ernennung bleibt bis zur Erledigung des Gutachtensauftrages bestehen, es sei denn, das Gericht entbindet den Sachverständigen von der Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 408 Abs 1 Satz 2 ZPO). Mit dem Erfordernis einer vorherigen Ernennung wird dem Sachverständigen bewußt gemacht, daß für ihn aus dem öffentlich-rechtlichen Verhältnis Rechte und Pflichten erwachsen. Er ist gehalten, das Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen zu erstatten. Er muß damit rechnen, daß er als Sachverständiger vereidigt werden kann (§ 410 Abs 1 ZPO). Außerdem stehen seine Angaben unter der Strafdrohung der §§ 153 ff Strafgesetzbuch (Hinweis auf BSG SozR 1500 § 128 Nr 24). Andererseits steht ihm nach § 413 ZPO iVm § 3 Abs 1 des Gesetzes über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen (idF der Bekanntmachung vom 1. Oktober 1969 - BGBl I 1756 -) ein Entschädigungsanspruch zu.
Diesen gesetzlich gebotenen Verfahrensgang hat das Berufungsgericht nicht eingehalten. Es hat Dr. R. nicht etwa vor Erstattung seines "Gutachtens" zum Sachverständigen bestellt. Vielmehr verfaßte Dr. R. das am 7. Juni 1988 datierte neurologische und psychiatrische "Gutachten" auf Veranlassung des gerichtlichen Sachverständigen Dr. W. , wie Dr. R. eingangs seiner schriftlichen Äußerung anmerkte. Er erstellte diese Äußerung anhand der am 31. Mai 1988 erfolgten ambulanten Untersuchung des Beigeladenen S. Mit einem "auf richterliche Anordnung" gefertigten und an Dr. W. gerichteten Schreiben vom 2. Juni 1988, das erst am 8. Juni 1988 der Post übergeben wurde, hat das LSG "das von dem medizinischen Sachverständigen Dr. W. für notwendig befundene neurologische Zusatzgutachten des Beigeladenen mit Untersuchung durch Dr. R. genehmigt". Es mag dahinstehen, ob die Ernennung zum Sachverständigen wirksam auf richterliche Anordnung erfolgen kann, was der Kläger rügt, wenn sich aus den Gerichtsakten eine solche vom Vorsitzenden oder Berichterstatter verfaßte richterliche Verfügung (§ 106 Abs 3 Nr 5 iVm § 153 Abs 1 und § 155 SGG) - wie hier - nicht entnehmen läßt. Jedenfalls ist eine nachträgliche Genehmigung mit der Folge einer wirksamen Bestellung zum Sachverständigen unwirksam (BSG SozR Nr 81 zu § 128 SGG, SozR 1500 § 128 Nr 24; Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, § 118 Rdnr 11c; Friederichs ua in Med Sach 1974, 2, SGb 1979, 297, DRiZ 1980, 425). Anderenfalls würde, wie in der zitierten Entscheidung unter Bezugnahme auf das in SozR Nr 71 zu § 128 SGG veröffentlichte Urteil zutreffend angemerkt ist, der für den Sachverständigenbeweis vorgeschriebene Verfahrensgang (§ 404 Abs 1 Satz 1 ZPO), der mit der Ernennung zum Sachverständigen beginnt, gerade umgekehrt.
Rechtsunerheblich ist auch, daß Dr. R. von einem gerichtlichen Sachverständigen den Auftrag erhielt, sich gutachtlich zu äußern. Ein Sachverständiger kann sich zwar zur Erfüllung der ihm obliegenden Pflichten sachkundiger Personen als Hilfskräfte bedienen. Die Mitwirkung von geeigneten Hilfskräften findet ihre Grenze darin, daß die persönliche Verantwortung des vom Gericht ausgewählten Sachverständigen gewahrt bleiben muß (BVerwGE 69, 70). Die Ernennung zum Sachverständigen schließt nicht die Ermächtigung ein, selbst eine sachkundige Person zum Sachverständigen zu bestellen und ihm die Erstattung eines Gutachtens eigenverantwortlich zu übertragen (BSG SozR Nrn 71, 73, 81 und 93 zu § 128 SGG; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Band II, 4. Aufl, 44. Nachtrag, § 118 Anm 4c sowie Anm zu § 405 ZPO; Meyer-Ladewig aaO Rdnr 11c; Friederichs aaO). Sofern der Sachverständige die Einholung eines Zusatzgutachtens für geboten hält, obliegt es ihm, das Gericht entsprechend zu informieren, um dadurch die Ernennung eines Zusatzgutachters zu veranlassen. Erst wenn das Gericht in dieser Weise tätig geworden ist, ist das Zusatzgutachten als Sachverständigenbeweis verwertbar (so ua auch BSG Urteil vom 27. April 1979; - 4 RJ 51/77 - Meso B 20a/171).
Nicht zu entscheiden ist, ob die schriftliche Äußerung des Dr. R. etwa im Wege des freien Beweises (BSG SozR Nr 81 zu § 128 SGG) oder als Urkundenbeweis (BSG SozEntsch I/4, § 103 Nr 11) als Entscheidungsgrundlage hätte dienen können. Danach hat das LSG nicht verfahren. Ob ein solches Verfahren uneingeschränkt statthaft ist, zumal wenn dadurch gegebenenfalls Vorschriften über den Sachverständigenbeweis umgangen werden und eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht damit verbunden sein könnte, erscheint zumindest zweifelhaft (vgl BSG SozR 1500 § 128 Nr 24).
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen