Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegegeld. Schwerpflegebedürftigkeit. Kind. Vorversicherungszeit. Berechnung. Vertriebener. Spätaussiedler. Polen. Gleichstellung
Leitsatz (amtlich)
- Auf die Vorversicherungszeit für Leistungen der Krankenversicherung bei Schwerpflegebedürftigkeit sind für Leistungszeiträume vor 1993 bei anerkannten Vertriebenen Zeiten der Zugehörigkeit zu einem staatlichen Gesundheitssystem im Vertreibungsgebiet nach § 90 Abs 1 BVFG anzurechnen.
- Zur Berechnung der Vorversicherungszeit.
Normenkette
SGB V §§ 53, 57, 54; BVFG § 90
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Dezember 1993 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Revisionsverfahren.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Kläger die für Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit erforderliche Vorversicherungszeit durch die Zugehörigkeit zum staatlichen Gesundheitssystem in Polen erfüllt hat.
Für den am 9. Juli 1986 geborenen Kläger beantragte sein Vater am 20. Februar 1991 die Gewährung von Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit. Der Vater ist 1956 in Polen geboren, war dort von 1972 bis zum 2. Mai 1989 erwerbstätig und wohnt seit dem 10. Mai 1989 mit seiner Familie in Deutschland. Er ist Inhaber des Flüchtlingsausweises A.… Seit dem 15. Mai 1989 ist er ununterbrochen gesetzlich krankenversichert, seit dem 24. September 1990 Mitglied der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Waldshut, dessen Rechtsnachfolger die beklagte Krankenkasse (KK) ist. Mit Bescheid vom 5. März 1991 und Widerspruchsbescheid vom 19. Dezember 1991 lehnte die Rechtsvorgängerin der Beklagten den Antrag ab, weil der Kläger nicht die erforderliche Vorversicherungszeit erfülle. Er sei in Deutschland weniger als 36 Monate Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung gewesen; die ausländischen Versicherungszeiten könnten nicht berücksichtigt werden. Während des anschließenden Klageverfahrens stellte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) am 1. März 1993 Schwerpflegebedürftigkeit des Klägers fest. Mit Bescheid vom 16. März 1993 bewilligte die AOK Waldshut dem Kläger aufgrund der am 1. Januar 1993 in Kraft getretenen Regelung des § 54 Abs 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V) von diesem Zeitpunkt an ein monatliches Pflegegeld von 400,00 DM. Die auf den davorliegenden Zeitraum vom 1. Januar 1991 bis zum 31. Dezember 1992 beschränkte Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 4. Mai 1993 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) die Rechtsvorgängerin der Beklagten zur Zahlung ab 20. Februar 1991 verpflichtet (Urteil vom 17. Dezember 1993), nachdem der Kläger sein Begehren auf die Zeit ab Antragstellung beschränkt hatte. Nach Auffassung des LSG sind die Versicherungszeiten in Polen auch vor der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung in § 54 Abs 1 Satz 3 SGB V durch § 90 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) den deutschen Versicherungszeiten gleichgestellt gewesen.
Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten. Sie vertritt die Auffassung, daß bis zur gesetzlichen Neuregelung § 90 Abs 1 BVFG eine Gleichstellung der Versicherungszeiten in Polen nicht gerechtfertigt habe. Bei dieser Vorschrift handele es sich um eine Programmvorschrift, deren nähere Ausführung durch ein Bundesgesetz sich der Gesetzgeber ausdrücklich vorbehalten habe. Im Bereich der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung seien nähere Ausführungsvorschriften erlassen worden, im Krankenversicherungsrecht bis zur Ergänzung des § 54 SGB V hingegen nicht. Aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich eindeutig, daß auch der Gesetzgeber von einer erstmaligen Einbeziehung der Spätaussiedler in den Kreis der Anspruchsberechtigten ausgegangen sei.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß die AOK Waldshut, an deren Stelle die Beklagte im Wege der Rechtsnachfolge getreten ist, verpflichtet ist, dem Kläger auch für die Zeit vom 20. Februar 1991 bis zum 31. Dezember 1992 ein monatliches Pflegegeld von 400,00 DM zu gewähren. Der Kläger erfüllt nach den Feststellungen des LSG die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Geldleistung, insbesondere die erforderliche Vorversicherungszeit.
1. Nach § 53 SGB V erhalten Versicherte, die nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedürfen (Schwerpflegebedürftige), häusliche Pflegehilfe. Anstelle der häuslichen Pflegehilfe kann die KK nach § 57 Abs 1 SGB V einen Geldbetrag von 400,00 DM je Kalendermonat zahlen, wenn die Schwerpflegebedürftigen die Pflege durch eine Pflegeperson in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang selbst sicherstellen können. Das LSG hat sich den Feststellungen des MDK über die bei dem Kläger vorliegenden Behinderungen und der daraus gefolgerten Schwerpflegebedürftigkeit angeschlossen, ohne dies näher auszuführen. Es hat sich aber ersichtlich nicht an die Feststellungen des MDK und dessen Beurteilung rechtlich gebunden gefühlt, sondern eine eigenständige Beurteilung vorgenommen. Dies läßt Rechtsfehler nicht erkennen und reicht als Grundlage für eine abschließende Entscheidung des Revisionsgerichts aus. Nach den Feststellungen des MDK leidet der Kläger an einer frühkindlichen Hirnschädigung mit schwerer zerebraler Bewegungsstörung, geistiger Behinderung und einem Anfallsleiden. Da diese medizinischen Feststellungen unter den Beteiligten nicht streitig sind, durfte das LSG sie ebenfalls seiner Entscheidung zugrunde legen, ohne gegen seine Sachaufklärungspflicht zu verstoßen. Aufgrund der getroffenen medizinischen Feststellungen konnte das LSG auch in Übereinstimmung mit der Beklagten Schwerpflegebedürftigkeit bejahen, obwohl es sich dabei um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, dessen Voraussetzungen durch die Gerichte voll überprüfbar sind (stRspr, vgl BSGE 73, 146 = SozR 3-2500 § 53 Nr 4; SozR 3-2500 § 53 Nrn 5 und 6). Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat in den erwähnten Entscheidungen zur näheren Präzisierung des Begriffs und zur Ermöglichung einer Abgrenzung von schwerpflegebedürftigen und pflegebedürftigen Personen in Anlehnung an die Richtlinien der Spitzenverbände der KKn vom 9. August 1989 (BABl 1989, 43) einen Katalog von 18 Verrichtungen entwickelt, anhand dessen die tatsächlichen Feststellungen und die rechtliche Einordnung zu treffen sind. Der Katalog ist allerdings auf erwachsene Behinderte zugeschnitten. Er ist auf Kinder, die wie der Kläger das dritte Lebensjahr vollendet haben, nur modifiziert anwendbar. Kinder dieses Alters sind von Natur aus für die Verrichtungen des täglichen Lebens auf Hilfe angewiesen. Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit kommen nur für den Hilfebedarf in Betracht, der über den normalen, altersüblichen hinaus wegen der Behinderungen besteht (vgl nunmehr ausdrücklich § 16 Abs 2 Pflege-Versicherungsgesetz ≪PflegeVG≫ vom 26. Mai 1994 – BGBl I 1014 –).
Die vorliegende Fallgestaltung gibt keine Veranlassung, im einzelnen auf die für Kinder geltenden Kriterien einzugehen. Die festgestellte Schwere der Behinderung läßt ohne weiteres den Schluß zu, daß der Kläger auch schon im Februar 1991 über das alterstypische Maß hinaus nahezu bei allen in Betracht kommenden Verrichtungen des täglichen Lebens auf Hilfe angewiesen war. Damit ist er schwerpflegebedürftig. Das LSG hat ferner festgestellt, daß die häusliche Pflege in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang durch seine Mutter sichergestellt ist. Durch die Zahlung des Pflegegeldes ab 1. Januar 1993 hat die Rechtsvorgängerin der Beklagten ihr Ermessen, das Pflegegeld anstelle der häuslichen Pflegehilfe zu leisten, bereits in diesem Sinne ausgeübt. Davon kann sie für die davorliegende streitige Zeit mit vertretbaren Gründen nicht abweichen. Ein Ermessensspielraum besteht insoweit nicht mehr.
2. Der Kläger erfüllt auch die für den Anspruch auf häusliche Pflegehilfe, anstelle dessen die KK das Pflegegeld gewähren kann, erforderliche Vorversicherungszeit. Nach § 54 Abs 1 Satz 1 SGB V (idF durch das Gesundheitsreformgesetz ≪GRG≫ vom 20. Dezember 1988 ≪BGBl I 2477≫) ist dazu erforderlich, daß der Versicherte seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Feststellung der Schwerpflegebedürftigkeit mindestens 9/10 der zweiten Hälfte dieses Zeitraums und in den letzten 60 Monaten vor Feststellung der Schwerpflegebedürftigkeit mindestens 36 Kalendermonate Mitglied oder nach § 10 SGB V familienversichert war. Durch das Änderungsgesetz vom 20. Dezember 1991 (BGBl I 2325) ist mit Wirkung vom 1. Januar 1992 diese Vorschrift dahin geändert worden, daß anstelle einer Versicherungszeit von 9/10 der zweiten Hälfte der allgemeinen Rahmenfrist auch eine Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten ausreicht. Sowohl nach der ursprünglichen als auch nach der geänderten Gesetzesfassung hätte der Kläger zum Zeitpunkt der Antragstellung die erforderliche Anwartschaft nicht erfüllt gehabt, wenn nur die deutschen Versicherungszeiten maßgebend wären. Denn der Kläger war erst seit dem 15. Mai 1989 familienversichert und hatte somit erst am 15. Mai 1992 die Mindestversicherungszeit von 36 Kalendermonaten vollendet. Allenfalls von diesem Zeitpunkt an hätte er allein mit deutschen Versicherungszeiten die Anwartschaft erfüllen können, sofern eine Anwartschaftserfüllung nach Eintritt der Schwerpflegebedürftigkeit überhaupt noch möglich ist. Letzteres war hier wegen der anzurechnenden Fremdversicherungszeiten nicht zu entscheiden; allerdings hätte das SG wegen seiner insoweit abweichenden Meinung hierauf näher eingehen müssen.
3. Das SG hat die Anrechnung von Fremdversicherungszeiten zu Unrecht für ausgeschlossen gehalten. In Übereinstimmung mit dem LSG hat es allerdings zutreffend erkannt, daß das deutsch-polnische Abkommen über soziale Sicherheit vom 8. Dezember 1990 (BGBl II 1991, 741) eine allgemeine Gleichstellung von Versicherungszeiten nicht vorsieht. Der Auffassung, daß auch § 90 BVFG eine Anrechnung der polnischen Versicherungszeiten nicht erlaube, ist das LSG aber zu Recht nicht gefolgt.
Nach § 90 Abs 1 BVFG idF vom 3. September 1971 (BGBl I 1565, 1807), aufgehoben mit Wirkung vom 1. Januar 1993 durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 2094), werden Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge in der Sozialversicherung und Arbeitslosenversicherung den Berechtigten im Geltungsbereich des Gesetzes gleichgestellt. Nach Abs 2 dieser Vorschrift können diese Personenkreise Ansprüche und Anwartschaften, die sie bei nicht mehr vorhandenen oder nicht erreichbaren Trägern der deutschen Sozialversicherung oder bei nicht deutschen Trägern der Sozialversicherung erworben haben, unter Zugrundlegung der bundesrechtlichen Vorschriften über Sozialversicherung bei Trägern der Sozialversicherung im Geltungsbereich des Gesetzes geltend machen. Das BSG hat bereits mehrfach entschieden, daß diese Regelung trotz des Vorbehaltes im nachfolgenden Abs 3, wonach das Nähere ein Bundesgesetz regelt, unmittelbar geltendes Recht und kein bloßes noch auszuführendes Gesetzesprogramm darstellt. So konnten Vertriebene die Voraussetzungen für die Krankenversicherung der Rentner nach § 165 Abs 1 Nr 3 Buchst a Reichsversicherungsordnung (jetzt § 5 Abs 1 SGB V) auch dadurch erfüllen, daß sie im Vertreibungsgebiet im erforderlichen Umfang krankenversichert gewesen waren (BSGE 56, 39 = SozR 2200 § 165 Nr 72). Ebenso hat das BSG hinsichtlich der Vorversicherungszeit für den Anspruch auf Mutterschaftsgeld (BSGE 39, 162, 164 = SozR 2200 § 200a Nr 2) und hinsichtlich der Anwartschaftszeit in der Arbeitslosenversicherung (BSG Urteil vom 17. Oktober 1990 – 11 RAr 1/90 – SozSich 1991, 316; BSGE 4, 102, 104 = SozR Nr 1 zu § 95 AVAVG) entschieden. Diese Rechtsprechung stützt sich auf die Entstehungsgeschichte des § 90 BVFG und das Fehlen besonderer, spezialgesetzlicher Regelungen. Das galt vor dem 1. Januar 1993 auch für die 1989 mit dem GRG neu geschaffenen Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit.
Durch das GRG ist auch das BVFG für Aussiedler, Übersiedler und ehemalige politische Häftlinge um den § 90b ergänzt worden, der aber keine Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung betrifft, sondern nur anordnet, daß die betroffenen Personenkreise bei einer Erkrankung kurz nach dem Eintreffen auf dem alten Bundesgebiet Leistungen etwa wie im Umfang der gesetzlich Krankenversicherten erhalten. Diese Regelung, die in der Folgezeit mehrfach geändert worden ist, ist nunmehr aufgrund des KfbG (aaO) in § 11 BVFG enthalten. Sie war trotz § 90 BVFG erforderlich und ist auch nach den inzwischen ausdrücklich getroffenen Gleichstellungsregelungen erforderlich geblieben, weil sie einen Krankenschutz für Personenkreise bietet, die nicht oder noch nicht krankenversichert sind.
Im Zusammenhang mit der Herstellung der Einheit Deutschlands ist die Rechtslage allerdings dadurch unübersichtlich geworden, daß der Gesetzgeber die Notwendigkeit umfassender Regelungen zur Gleichstellung der Bürger der ehemaligen DDR und zur Neuregelung des Kriegsfolgenrechts gesehen hat (vgl BT-Drucks 11/7350 S 39). So sind durch Art 25 § 2 Nr 4 des Gesetzes zum Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 25. Juni 1990 (BGBl II 518) für Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit Zeiten der Versicherung in Systemen der ehemaligen DDR bis zum 31. Dezember 1990 ausdrücklich Zeiten einer Pflichtversicherung bei einer KK in den alten Bundesländern gleichgestellt worden. Die Vorschrift wurde durch das Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I 1605) abgelöst und mit Wirkung vom 1. August 1991 durch die allgemeiner gefaßte Vorschrift des § 309 Abs 5 SGB V ersetzt (Art 6 und 7 RÜG). Diese Regelungen beziehen sich aber allein auf alle in der ehemaligen DDR Sozialversicherten, nicht aber auf Vertriebene allgemein, so daß in ihnen zwar eine das bisherige Fremdrentenrecht überlagernde, aber noch keine abschließende bundesgesetzliche, den § 90 Abs 3 BVFG verdrängende Regelung zu sehen ist.
Für ihre abweichende Auffassung kann sich die Beklagte allerdings auf die Gesetzesmaterialien über die Einfügung des § 54 Abs 1 Satz 3 SGB V, ferner auf Schreiben der Spitzenverbände der KKn sowie auf Erklärungen des zuständigen Bundesministers berufen. In den Gesetzesmaterialien ist ausgeführt, daß ohne die vorgeschlagene Regelung die nach § 90 Abs 1 BVFG zur Gleichstellung von Vertriebenen erforderliche bundesgesetzliche Regelung fehle (BT-Drucks 12/3608 S 82). Dieser Begründung, die von einem anderen Verständnis des § 90 Abs 1 BVFG als das BSG ausgeht und vom Gesetzgeber so übernommen worden ist, ist eine entscheidende Bedeutung für die Anwendbarkeit des § 90 BVFG nicht beizumessen. Falls mit dieser Äußerung die bisherige, über Jahrzehnte gefestigte Rechtsprechung des BSG hätte rückwirkend korrigiert werden sollen, hätte dies deutlich zum Ausdruck gebracht werden müssen. Es fehlt jedoch jeder Hinweis auf diese Rechtsprechung und jeder Anhalt für eine rückwirkende Korrektur. Der erkennbare Wille des Gesetzgebers geht dahin, die Stellung der Spätaussiedler zu verbessern und nicht zu verschlechtern. Dafür spricht auch, daß die Aufhebung des § 90 BVFG durch das KfbG nicht mit Rückwirkung, sondern mit Wirkung zum 1. Januar 1993 erfolgt ist. Die Einführung des § 54 Abs 1 Satz 3 SGB V und gleichzeitige Aufhebung des § 90 BVFG kann insoweit unschwer als Ersetzung einer allgemeinen durch eine besondere Gleichstellungsvorschrift angesehen werden (so auch BSG vom 29. September 1994 – 12 RK 67/93 – und vom 11. Oktober 1994 – 1 RK 38/93 – jeweils zur Veröffentlichung bestimmt). Außerdem gelten nach der Übergangsvorschrift des § 100 Abs 1 BVFG die bis zum 31. Dezember 1992 gültigen Vorschriften sogar in bestimmtem Umfang weiter. Leistungszeiträume vor dem 1. Januar 1993 sind daher weiterhin nach § 90 BVFG in der Auslegung durch das BSG zu beurteilen. Ob dies bei einer Vertreibung vor dem 1. Januar 1993 auch für nachfolgende Zeiträume gilt, kann hier offenbleiben.
Der Beklagten ist zwar einzuräumen, daß die Regelung des § 90 BVFG nicht vollständig war und näherer Ausführung durch weitere Bundesgesetzes bedurfte, wie dies vor allem durch das Fremdrentenrecht für die Renten und Unfallversicherung geschehen ist. Daraus folgt aber nicht, daß die gesamte Regelung lediglich unverbindlichen oder bloß allgemeinen Richtliniencharakter gehabt hätte. Soweit es um die Gleichstellung von Versicherungszeiten zur Erfüllung einer Wartezeit geht, war § 90 BVFG ohne weitere Umsetzung unmittelbar anwendbares Recht im Unterschied zu Regelungsbereichen in der gesetzlichen Rentenversicherung, in der zur Feststellung der Rentenhöhe auch Maßstäbe zur Bewertung von ausländischen Beschäftigungszeiten erforderlich waren. Der damalige Gesetzgeber war sich demnach bewußt, daß zur Gleichstellung von Vertriebenen und Flüchtlingen weitere Gesetze erforderlich waren; es spricht aber nichts dafür, daß er die sofortige Gleichstellung auch in den Bereichen, in denen dies ohne weiteres möglich war, noch nicht durchführen wollte. Daß der Gesetzgeber auf dem Gebiet der Krankenversicherung lange Zeit keine speziellen Regelungen zur Gleichstellung von Vertriebenen und Flüchtlingen getroffen hat, bedeutet nicht, daß er auf diesem Gebiet noch keine Gleichstellung durchführen wollte, sondern nur, daß sich hier, nicht zuletzt wegen der angeführten Rechtsprechung, ein weiterer gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht gezeigt hat.
Wenn es – wie hier – auf die Dauer einer Versicherungszeit ankommt, bedurfte es zur Gleichstellung von Spätaussiedlern keiner weiteren Umsetzung. Für die Gleichstellung der Zeiten der Zugehörigkeit zu einem staatlichen Gesundheitssystem in den ehemaligen Ostblockländern reicht es aus, wenn die staatlichen Gesundheitssysteme Solidargemeinschaften darstellen, die der deutschen Sozialversicherung funktionell vergleichbar sind. Daß dies der Fall war und der Vater des Klägers aufgrund seiner Beschäftigung einem solchen System angehört hat, ist vom LSG ohne nähere Feststellungen angenommen worden. Dies reicht auch für den Senat als Urteilsgrundlage aus, weil Feststellungsrügen insoweit nicht erhoben worden sind, die Beklagte den Kläger seit dem 1. Januar 1993 selbst als anspruchsberechtigt ansieht und es auch den bisherigen revisionsgerichtlichen Erfahrungen entspricht, daß Beschäftigte in den ehemaligen Ostblockländern einem staatlichen Gesundheitssystem angehört haben, das einen der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung vergleichbare Funktion erfüllt.
4. Der Kläger erfüllt mit den polnischen Zeiten die erforderliche Vorversicherung innerhalb der gesetzlichen Rahmenfrist. Die Ausführungen des LSG zur Berechnung der maßgeblichen Rahmenfrist sind zwar nicht frei von Rechtsfehlern, im Ergebnis aber zutreffend. Als Beginn der Rahmenfrist hat das LSG den Tag der Geburt des Klägers angenommen, weil dieser keine Erwerbstätigkeit ausgeübt habe. Es hat dann aber gemeint, die Vorversicherungszeit selbst sei in der Person des Vaters erfüllt, worauf es entscheidend ankomme. Das Berufungsgericht hat insoweit nicht die beiden Möglichkeiten für versicherte Kinder, die Anwartschaft zu erfüllen, strikt getrennt. Versicherte Kinder können zunächst wie jeder andere Versicherte auch die Anwartschaft in eigener Person erfüllen, weil dazu die Familienversicherung ausreicht (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGB V mit der ausdrücklichen Ausführung von § 10). Die Rahmenfrist beginnt auch für sie mit der erstmaligen Aufnahme der Erwerbstätigkeit, beim Fehlen einer Erwerbstätigkeit – wie im Falle des Klägers – mit dem Tag der Geburt (§ 54 Abs 2 Satz 1 SGB V). Versicherte Kinder können die Anwartschaft aber auch durch einen Elternteil erfüllen (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGB V). Dann ist für die Errechnung der Rahmenfrist allein dessen erstmalige Aufnahme der Erwerbstätigkeit oder – was praktisch kaum in Betracht kommen dürfte – dessen Geburt maßgebend. Im vorliegenden Fall hat danach die Rahmenfrist in der Person des Klägers mit dem Tag seiner Geburt und in der Person des Vaters mit der erstmaligen Beschäftigung im Jahre 1972 begonnen.
Das Ende der Rahmenfrist hat das LSG mit dem 19. Februar 1991 angenommen, also dem Tag vor der Antragstellung. Obwohl die Schwerpflegebedürftigkeit des Klägers vom MDK tatsächlich erst am 1. März 1993 festgestellt worden ist, hat es gemeint, der Tag der Antragstellung sei maßgebend, weil wegen des unveränderten Gesundheitszustandes schon an diesem Tage die Hilflosigkeit ärztlich hätte festgestellt werden können. Es ist zweifelhaft, ob diese Auffassung des LSG, die vom Gesetzeswortlaut abweicht, sich aber auf Literaturmeinungen stützen kann (vgl Kesselmann, DOK 1989, 630; Höfler in KassKomm SGB V § 54 RdNr 5), zutreffend ist. Darüber braucht nicht entschieden zu werden, weil der Kläger unter Anrechnung der Zeit seiner Zugehörigkeit zum polnischen Gesundheitssystem sowohl bei Antragstellung als auch zu jedem späteren Zeitpunkt die Anwartschaftszeit erfüllt hat. Denn er war bis auf wenige Tage in der Zeit der Übersiedlung lükkenlos krankenversichert, da die in Polen zurückgelegte Zeit als bei einem nicht deutschen Träger der Sozialversicherung iS des § 90 Abs 2 BVFG aF erworbene Anwartschaft zu berücksichtigen ist. Außerdem hat er die Anwartschaftszeit in der Person des Vaters erfüllt. Denn auch der Vater war seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zum 19. Februar 1991 und darüber hinaus ebenfalls nahezu lückenlos aufgrund eigener Beschäftigung in Deutschland und der Zugehörigkeit zum staatlichen Gesundheitssystem in Polen krankenversichert. Zu Recht hat deshalb die Beklagte auch angenommen, daß der Kläger ab 1. Januar 1993 die Leistungsvoraussetzungen erfüllt, nachdem der durch das Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 2266) eingefügte § 54 Abs 1 Satz 3 SGB V ausdrücklich anordnet, daß für die Berechnung der Vorversicherungszeit bei den in § 1 Abs 2 Nrn 2 und 3 BVFG genannten Personen Zeiten der Zugehörigkeit zu einem staatlichen Gesundheitssystem in den dort genannten Gebieten wie Mitgliedszeiten in der gesetzlichen Krankenversicherung der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen