Leitsatz (amtlich)
Einem in der BRD oder in Berlin-West lebenden nichtehelichen Kind, dessen Erzeuger in der DDR lebt, steht nach dem Tode der Mutter auch dann nur die Halbwaisenrente - und nicht die Vollwaisenrente - zu, wenn die Unterhaltsklage gegen den Erzeuger des Kindes von einem Gericht der DDR rechtskräftig abgewiesen worden ist.
Normenkette
RVO § 1269 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. Juli 1971 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger aus der Versicherung seiner verstorbenen Mutter die Waisenrente als Vollwaise oder als Halbwaise zusteht.
Der am 18. Dezember 1956 geborene Kläger ist der nichteheliche Sohn der am 16. Dezember 1968 verstorbenen Versicherten Ingeborg L, geb. W. Die von der Versicherten für den Kläger erhobene Unterhaltsklage gegen den in der DDR wohnhaften Gerhard W, der zu Protokoll des Kreisgerichts Schleiz seine Vaterschaft anerkannt hatte, wurde durch Urteil dieses Gerichts vom 9. August 1968 "zur Zeit" mit der Begründung abgewiesen, die Versicherte habe die DDR in Kenntnis der Tatsache illegal verlassen, daß sie von W ein Kind erwarte, so daß sie für die Dauer des Aufenthalts des Kindes in West-Berlin den Unterhalt allein aufzubringen habe; daher sei der Unterhaltsanspruch zur Zeit nicht einklagbar.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 23. Juni 1969 die Hinterbliebenenrente als Halbwaisenrente für die Zeit vom 16. Dezember 1968 an.
Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrte der Kläger die Vollwaisenrente. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 22. September 1970 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 7. Juli 1971 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, von einer Vollwaise könne man dann nicht sprechen, wenn ein Elternteil unzweifelhaft noch lebe. Das gelte auch dann, wenn ein Unterhaltsanspruch gegen den noch lebenden Elternteil nicht bestehe oder nicht durchsetzbar sei.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er trägt vor, nach dem gesetzgeberischen Zweck der Unterscheidung zwischen Halbwaise und Vollwaise müsse angenommen werden, daß ein Kind unabhängig von der leiblichen Existenz seiner Eltern immer dann als Vollwaise anzusehen sei, wenn es weder Vater noch Mutter auf Unterhalt in Anspruch nehmen könne.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Urteils und ihres Bescheides vom 23. Juni 1969 zu verurteilen, dem Kläger unter Anrechnung der bisher gezahlten Halbwaisenrente Vollwaisenrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.
II
Die zulässige Revision des Klägers hat keinen Erfolg, denn das LSG hat die Berufung des Klägers gegen das die Klage abweisende Urteil des SG mit Recht zurückgewiesen. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf eine höhere als die festgestellte Waisenrente.
Der Kläger ist nicht Vollwaise, sondern Halbwaise im Sinne des § 1269 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits in mehreren Entscheidungen ausgeführt hat, ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, von dem auch die genannte Vorschrift ausgeht, Halbwaise das Kind, das durch Tod einen Elternteil verloren hat, während Vollwaise nur das Kind ist, dessen beide Elternteile nicht mehr leben (vgl. BSG 10, 189, 191; 16, 110, 111; SozR Nrn. 2 und 4 zu § 1269 RVO). Der Vortrag des Klägers, er habe gegen seinen in der DDR lebenden Vater keinen Unterhaltsanspruch, kann nicht dazu führen, den Kläger entgegen dem Wortlaut des Gesetzes einer Vollwaise gleichzustellen. Zunächst einmal steht nicht fest, daß der Kläger gegen seinen Vater keinen Unterhaltsanspruch hat. Abgesehen davon, daß das negative Unterhaltsurteil des Kreisgerichts Schleiz auf eine Klage der Versicherten und nicht des Klägers ergangen ist, läßt es nach seiner Begründung auch die Möglichkeit offen, daß der Kläger nach dem Tode seiner Mutter auch nach dem in der DDR geltenden Recht einen Unterhaltsanspruch gegen seinen Vater hat. Die Klage ist nämlich deshalb "zur Zeit" abgewiesen worden, weil die Mutter des Klägers allein zur Aufbringung des Unterhalts verpflichtet sei. Davon kann nach ihrem Tode aber nicht mehr die Rede sein. Es liegt daher die Annahme nahe, daß auch nach der in der DDR geltenden Rechtsauffassung nunmehr der nichteheliche Vater auf Unterhalt in Anspruch genommen werden kann. Im übrigen könnte der Kläger auch dann nicht einer Vollwaise gleichgestellt werden, wenn er gegen seinen Vater auch nach dem Tode der Mutter keinen Unterhaltsanspruch hätte oder einen solchen Unterhaltsanspruch nicht durchsetzen könnte. Dem Kläger ist zwar zuzugeben, daß der gesetzgeberische Grund für die Unterscheidung zwischen Halbwaise und Vollwaise darin zu finden ist, daß die Vollwaise im Gegensatz zur Halbwaise im allgemeinen niemanden mehr hat, den es auf Unterhalt in Anspruch nehmen kann. Dieses gesetzgeberische Motiv kann aber nicht dazu führen, ein Kind immer dann als Vollwaise anzusehen oder einer Vollwaise gleichzustellen, wenn es nach dem Tode des versicherten Elternteils von dem noch lebenden Elternteil keinen Unterhalt verlangen kann. Der Gesetzgeber hat den Anspruch auf die erhöhte Waisenrente den Vollwaisen vorbehalten, obwohl ihm durchaus bekannt war, daß es Kinder gibt, die nach dem Tode des versicherten Elternteils gegen den überlebenden Elternteil einen Unterhaltsanspruch nicht haben oder nicht durchsetzen können. Gleichwohl hat der Gesetzgeber den Anspruch auf die erhöhte Waisenrente nicht von dem Nichtbestehen oder Nichtdurchsetzbarkeit eines Unterhaltsanspruchs gegen den überlebenden Elternteil abhängig gemacht, sondern allein auf die Eigenschaft als Vollwaise abgestellt. Der Umstand, daß die Vollwaise im Gegensatz zur Halbwaise im allgemeinen keinen Unterhaltsanspruch mehr hat, mag Motiv für diese Unterscheidung gewesen sein, sie ist jedoch nicht Regelungsinhalt. Der Richter darf das Gesetz, das die Gewährung der erhöhten Waisenrente allein den Vollwaisen vorbehält, nicht beiseite schieben und dem Kinde die Vollwaisenrente deshalb zusprechen, weil es nach dem Tode der Mutter von seinem noch lebenden Erzeuger keinen Unterhalt zu beanspruchen hat (vgl. BSG 10, 189, 193; ebenso für das Recht der Kriegsopferversorgung BSG 9, 165). Es ist unbeachtlich, aus welchen Gründen das Kind von dem überlebenden Elternteil Unterhalt nicht verlangen kann. Wesentlich ist nur, daß es sich nicht um eine Vollwaise handelt, wenn feststeht, daß ein Elternteil noch lebt.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision des Klägers zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen