Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärungspflicht. faires Verfahren. Vorweggenommene Beweiswürdigung. Pflicht zur persönlichen Anhörung des Klägers, sofern seine Angaben entgegen Vorinstanz als unglaubwürdig gewertet werden
Orientierungssatz
1. Wird entgegen dem Beweisantrag des Klägers die Beweisaufnahme für entbehrlich gehalten, liegt darin eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung (vgl BSG 1975-02-20 4 RJ 351/73 = KOV 1975, 159). Außerdem verletzt damit das Berufungsgericht seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG).
2. Dem Tatsachengericht ist es zwar im Rahmen der Beweiswürdigung gestattet, eine rechtsbegründende oder rechtsvernichtende Tatsache als festgestellt oder als nicht festgestellt zu erachten. Hierbei wird allerdings vorausgesetzt, daß das Gericht seiner umfassenden Amtsermittlungspflicht nachgekommen ist. Ist dies aber nicht der Fall, obgleich sich das Gericht aus seiner Sicht zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen, so liegt darin ein die Revision begründender Verfahrensmangel.
3. Wertet das LSG die mehrfachen, zuletzt vor dem SG gemachten Angaben des Klägers zum Unfallhergang und zu den Vorbereitungshandlungen als nicht glaubhaft und hört es dazu den Kläger nicht persönlich an, liegt es bei dieser Verfahrenslage nahe, die von der Rechtsprechung für Zeugen entwickelten Grundsätze anzuwenden. Danach kann ein Berufungsgericht die Glaubwürdigkeit der in erster Instanz vernommenen Zeugen nicht ohne eigene Beweisaufnahme anders beurteilen als das Erstgericht (vgl BGH 1976-06-23 VIII ZR 15/75 = NJW 1976, 1742). Anderenfalls verletzt es das Gebot eines fairen Verfahrens durch Erlaß einer Überraschungsentscheidung (vgl BSG 1981-08-19 9 RV 7/81).
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1974-07-30, § 128 Abs 1 S 1 Fassung: 1953-09-03, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 Fassung: 1974-07-30, § 106 Abs 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 09.09.1981; Aktenzeichen L 3 U 104/79) |
SG Marburg (Entscheidung vom 19.12.1978; Aktenzeichen S 3a U 39/77) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt, ihm wegen der Folgen des am 7. Dezember 1976 erlittenen Unfalls Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Der Kläger, von Beruf Schreinermeister, war bei einem Möbelherstellungsbetrieb als Holztechniker tätig. Diese Firma geriet im August 1976 in Konkurs. Im Zuge der Abwicklung des Konkursverfahrens beschäftigte der Konkursverwalter einige Arbeitnehmer, so auch den Kläger, mit einer wöchentlichen Arbeitszeit unter 20 Stunden. Ihm war ua die Aufgabe übertragen, Mängel bei den gelieferten Waren zu beseitigen. Der Konkursverwalter hatte dem Kläger die Genehmigung erteilt, erforderliche Arbeiten für den Betrieb auch zu Hause zu erledigen und dazu Werkzeuge aus dem Betrieb zu benutzen. Am Unfalltag arbeitete der Kläger zunächst auf dem Fabrikgelände und mietete während der Arbeitszeit auf seinen Namen in einem nahegelegenen Ort eine Sauerstoffflasche. Sie brachte er zunächst mit in den Betrieb und transportierte sie nach Arbeitsende nach Hause in seinen Hobbyraum. Dort ereignete sich beim Anflanschen eines Druckminderers eine Explosion. Sie führte beim Kläger ua zum völligen Verlust der Sehkraft.
Die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) lehnte es ab, den Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen (Bescheid vom 18. April 1977). Sie meinte, die zum Unfall führende Tätigkeit im häuslichen Bereich habe nicht in einem betrieblichen Zusammenhang gestanden.
Das Sozialgericht (SG) hat den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte zur Leistung verpflichtet. Es hat die Angaben des Klägers als glaubhaft und anhand der Beweisaufnahme außerdem als erwiesen angesehen, daß er für das Unternehmen zwei Schablonen habe anfertigen wollen, um bei zukünftigen Mängelbeseitigungen an Schubkästen bessere und genauere Montagearbeiten leisten zu können. Dabei habe der Kläger - so führt das SG weiter aus - die Sauerstoffflasche zum Betrieb eines Nagelgeräts verwenden wollen, um damit die Schablone herzustellen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Anhörung eines auf dem Gebiet der Möbelfabrikation kundigen Sachverständigen sowie des Zeugen N. das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, es sprächen viele objektive Anhaltspunkte für eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit; die Angaben des Klägers seien, insbesondere hinsichtlich des Zeitpunkts der beabsichtigten Verwendung des Nagelgeräts, widersprüchlich; es sei unerheblich, ob das Nagelgerät bereits am Unfalltag im Pkw des Klägers gelegen habe oder nicht; einer Beweisaufnahme in dieser Richtung bedürfe es nicht.
Mit der - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision macht der Kläger wesentliche Verfahrensmängel geltend. Das LSG sei - meint der Kläger ua - dem schriftlich gestellten Beweisantrag, C. darüber als Zeuge zu vernehmen, daß das Nagelgerät, welches er habe anschließen und benutzen wollen, am Unfalltag im Kofferraum seines Kraftfahrzeugs gelegen habe, ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Diese Beweisaufnahme sei wichtig, weil damit die Darstellung des Klägers vom Unfallgeschehen bestätigt werde. Außerdem habe das LSG das Gebot eines fairen Verfahrens durch eine unzulässige Überraschungsentscheidung verletzt (§§ 62, 112 Abs 2 Nr 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Der Kläger habe nach Einvernahme des Zeugen N. darauf vertrauen dürfen, daß das LSG seinen Angaben Glauben schenke. Im anderen Falle hätte es eines entsprechenden Hinweises bedurft, um damit dem Kläger Gelegenheit zu geben, weitere Zeugen zu benennen. Dies sei nicht geschehen. Auf den gerügten Verfahrensfehlern beruhe das Berufungsurteil. Es sei nicht auszuschließen, daß nach Durchführung der beantragten Beweisaufnahme das Berufungsgericht die Angaben des Klägers zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und demgemäß den erlittenen Unfall als Arbeitsunfall anerkannt hätte.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist. Das Berufungsurteil beruht auf den vom Kläger gerügten Verfahrensmängeln.
Dem LSG war es nicht erlaubt, vor Einvernahme des Zeugen C. die Sachdarstellung des Klägers als widersprüchlich und deshalb als nicht glaubwürdig zu beurteilen. Wenn es entgegen dem Beweisantrag des Klägers die Beweisaufnahme für entbehrlich gehalten hat, liegt darin eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung (BSG KOV 75, 159). Außerdem hat damit das Berufungsgericht seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt.
Diesen Verfahrensrügen steht § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nicht entgegen. Dem Tatsachengericht ist es zwar im Rahmen der Beweiswürdigung gestattet, eine rechtsbegründende oder rechtsvernichtende Tatsache als festgestellt oder als nicht festgestellt zu erachten. Hierbei wird allerdings vorausgesetzt, daß das Gericht seiner umfassenden Amtsermittlungspflicht nachgekommen ist. Ist dies aber nicht der Fall, obgleich sich das Gericht aus seiner Sicht zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen, so liegt darin ein die Revision begründender Verfahrensmangel vor. Dies ist hier der Fall. Das LSG hat zwar nicht verkannt, daß der Sachvortrag der Beteiligten bei der Überzeugungsbildung verwendet werden und - ggf sogar allein - Grundlage seiner Entscheidung sein kann (BSG SozR Nr 56 zu § 128 SGG). Es ist jedoch den Angaben des Klägers nicht gefolgt, weil sie widersprüchlich und damit unglaubhaft erschienen. Das Gegenteil sollte die beantragte Zeugeneinvernahme bewirken. Sie diente dem Zweck, die Darstellung des Klägers zu bestätigen, er habe das Nagelgerät am Unfalltag zu betrieblichen Arbeiten verwenden wollen. Hierzu war die Beweiserhebung weder aus Rechtsgründen überflüssig, noch völlig unbrauchbar oder deshalb untunlich, weil das Berufungsgericht sie im Ergebnis als wahr unterstellt hätte (BVerwG Buchholz 310 § 86 Abs 1 VerwGO Nr 112). Immerhin sprechen gewichtige Argumente - die Aussage des Zeugen N. als zutreffend unterstellt - gegen eine eigenwirtschaftliche Betätigung; denn das Anflanschen des Druckminderers an die Sauerstoffflasche ließen die Angaben des Klägers als zutreffend erscheinen, er habe daran das Nagelgerät anschließen wollen, um für den Betrieb Schablonen zu fertigen. Davon könnte man aber gerade dann ausgehen, wenn dieses Gerät sich bereits im Kraftfahrzeug des Klägers und damit in unmittelbarer Nähe des Hobbyraums befunden hätte. Gerade das sollte der als Zeuge benannte C. bestätigen.
Außerdem ist die Rüge des Klägers, das Berufungsgericht habe das Gebot eines fairen Verfahrens durch Erlaß einer Überraschungsentscheidung verletzt (vgl ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats zB Urteil vom 19. August 1981 - 9 RV 7/81 -; ebenso BVerwGE 34, 1, 8; BAG AP Nr 51 § 4 TVG Ausschlußfristen; BVerwGE 36, 264, 266f; BVerwG Buchholz 310 § 108 VGO Nr 98), begründet. Das LSG hat die mehrfachen, zuletzt vor dem SG gemachten Angaben des Klägers zum Unfallhergang und zu den Vorbereitungshandlungen als nicht glaubhaft gewertet. Es hat allerdings den Kläger über die mit dem Unfall in einem unmittelbaren Zusammenhang stehenden Vorgänge selbst nicht persönlich angehört, obwohl der Kläger in der mündlichen Verhandlung zugegen war. Bei dieser Verfahrenslage liegt es nahe, die von der Rechtsprechung für Zeugen entwickelten Grundsätze anzuwenden. Danach kann ein Berufungsgericht die Glaubwürdigkeit der in erster Instanz vernommenen Zeugen nicht ohne eigene Beweisaufnahme anders beurteilen als das Erstgericht (BGH NJW 1976, 1742; BAG AP Nr 18 zu § 611 BGB, Faktisches Arbeitsverhältnis). Doch abgesehen davon durfte der Kläger der Annahme sein, der Zeuge N. habe seine Sachverhaltsschilderung glaubhaft bestätigt. Schließlich waren auch die mündlichen Erläuterungen des Sachverständigen nicht dazu angetan, diesen Eindruck schlechthin zu beseitigen. Mithin konnte der Kläger darauf vertrauen, daß das LSG seinen Angaben ebenso Glauben schenken werde, wie dies schon das SG getan hatte. Im anderen Falle mußte er erwarten, entweder werde die beantragte Zeugeneinvernahme durchgeführt oder ihm auf konkreten Hinweis hin (§ 106 SGG) Gelegenheit gegeben, seine Darstellung durch Benennung weiterer Zeugen zu erhärten. Dann hätte sich angeboten, die Vernehmung des seinerzeitigen Konkursverwalters als Zeugen zu beantragen. Dessen prozessuale Stellung als Prozeßbevollmächtigten im anhängigen Streitverfahren hätte einer Einvernahme nicht entgegengestanden (Meyer-Ladewig, SGG mit Erläuterungen, 2. Aufl, § 118 RdNr 10; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 40. Aufl, Übers § 373, 2 B; beide unter Hinweis auf OLG Hamm MDR 77, 142).
Das Berufungsgericht hat nun die gebotenen Ermittlungen anzustellen. Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Verfahrensmängeln. Es ist nicht auszuschließen, daß bei Vermeidung derselben das LSG die Angaben des Klägers zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht, demgemäß den erlittenen Unfall als Arbeitsunfall anerkannt und die entsprechenden gesetzlichen Leistungen zugesprochen hätte.
Im übrigen sei angemerkt, daß das LSG den Konkursverwalter und nunmehrigen Prozeßbevollmächtigten des Klägers allein schon im Rahmen der dem LSG obliegenden Sachaufklärungspflicht hätte hören müssen. Nach den Angaben des Klägers diente die - vom Konkursverwalter offenbar genehmigte - Anfertigung von Schablonen der Beseitigung von Mängeln, die in einer Vielzahl von Fällen - angeblich - gerügt worden waren. Dies bestätigen die schriftlichen Ausführungen des Prozeßbevollmächtigten (Bl 173ff, 263ff), wobei er in diesem Zusammenhang auf hohe, nicht eintreibbare Außenstände, vornehmlich holländischer Kunden, verwies. Es ist nicht auszuschließen, daß es sich bei diesem Vorbringen um eine Sachdarstellung des Konkursverwalters handelt, die allein auf seinem Wissen beruhte und nicht auf Informationen des Klägers. Könnte man hiervon ausgehen, würde diesem Umstand erhebliches Gewicht zugunsten des Klägers beizumessen sein. Sowohl der in zweiter Instanz gehörte Sachverständige als auch das Berufungsgericht hatten die Notwendigkeit, Schablonen herzustellen, verneint und ua deswegen die Angaben des Klägers in Zweifel gezogen, weil sie nur von einer Mängelrüge des Kunden K. ausgegangen waren. Dem wollte der Kläger ua dadurch entgegentreten, daß er F und E P., Geschäftsführer bzw Techniker der in Konkurs geratenen Beschäftigungsfirma, als Zeugen benannt hatte (Bl 111). Infolgedessen durfte das Berufungsgericht von einer Einvernahme auch dieser Zeugen nicht absehen.
Überdies hat das LSG nicht bedacht, daß der Kläger infolge seiner schweren Verletzungen einer erheblichen nervlichen Belastung ausgesetzt war und ggf noch ist. Insoweit wird ua auf das von Dr. M für die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erstellte Gutachten vom 31. März 1977 verwiesen. Vermeintlich widersprüchliche Angaben des Klägers lassen sich möglicherweise damit erklären. Ebenso meint das Berufungsgericht, die Glaubwürdigkeit des Zeugen N. deswegen in Frage stellen zu müssen, weil seine Aussage einseitig zugunsten des Klägers ausgerichtet sei und viele Einzelheiten enthalte, die offensichtlich nicht auf einer eigenen Wahrnehmung beruhten. Diese Offensichtlichkeit hat das LSG nicht belegt. Im übrigen hat es bei seinen Überlegungen unberücksichtigt gelassen zum einen, daß der Kläger nach seinen Angaben die Sauerstoffflaschen wegen des Konkurses auf seinen Namen ausgeliehen hatte, zum anderen, daß dieser Vorgang während der Arbeitszeit geschah. Unter diesen Aspekten könnte dies für einen betrieblichen Zusammenhang sprechen.
Schließlich ist das in zweiter Instanz eingeholte Sachverständigengutachten mit wesentlichen Mängeln behaftet. So ist ua Art und Umfang der erforderlich gewesenen Mängelbeseitigung und das damit verbundene Erfordernis, Schablonen herzustellen - wie ausgeführt - bisher noch nicht festgestellt worden. Desweiteren meint der Sachverständige, der Kläger hätte das Nagelgerät auch an die im Betrieb vorhandene Druckluftanlage anschließen können. Damit will er offenbar die Ansicht vertreten, allein deswegen sei die beabsichtigte betriebliche Arbeit im Hobbyraum nicht erforderlich gewesen. Der Sachverständige bezieht sich insoweit auf die Zeugenaussage H.(Bl 113), läßt aber die Angaben des Zeugen K. (Bl 115) unbeachtet. Dieser Zeuge hatte nicht zu bestätigen vermocht, daß die Druckluftanlage, deren Bedienung ihm oblegen hatte, noch zur Unfallzeit in Betrieb war, und offengelassen, ob etwa deren Abbau schon begonnen hatte. Jedenfalls waren die seinerzeit noch tätigen Arbeiter - so der Zeuge K. - schon mehrere Wochen vor Weihnachten 1976 mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt. Ob noch weitere Mängel die Verwertung des Sachverständigengutachtens hindern, kann nach alledem dahinstehen.
Das Berufungsgericht hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen