Leitsatz (redaktionell)

Aus dem Zweck des BVG § 35, die Hilfe zu lebensnotwendigen Verrichtungen gegen andere Hilfeleistungen abzugrenzen, ergibt sich, daß der Beschädigte als hilflos anzusehen ist, wenn er in regelmäßiger Wiederkehr - wenn auch nicht notwendigerweise an jedem Tag - für zahlreiche Verrichtungen des täglichen Lebens der Hilfe anderer bedarf und für diese Hilfe eine fremde Person in erheblichem Maße in Anspruch genommen werden muß. Wenn - wie hier - neben der Hilfe für einzelne gewöhnliche Verrichtungen des täglichen Lebens Hilfeleistungen treten, die in ihrer Art ungewöhnliche sind, aber in regelmäßiger Wiederkehr zur unmittelbaren Existenzsicherung des Beschädigten gewährt werden müssen, damit der Beschädigte bestehen kann (hier: Bougieren, das ist: Dehnen der Harnröhre), müssen auch sie bei der Frage, ob die Hilfsbedürftigkeit den für die Hilflosigkeit erforderlichen Grad erreicht, berücksichtigt werden. Es kommt dann darauf an, ob die Hilfe insgesamt so häufig und mit einem so großen Zeitaufwand gewährt werden muß, daß sie erheblich mehr bedeutet als eine Hilfe nur für einzelne Verrichtungen und auch in ihrem Umfang über eine verhältnismäßig geringfügige Beistandsleistung hinausgeht.

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. Juli 1963 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger erhielt auf Grund der 1949 nach dem (Württemb.-Bad.) Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) anerkannten Schädigungsfolgen Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vom Hundert (v. H.). Bei der Umanerkennung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) durch Bescheid vom 21. Juni 1951 wurden die frühere Leidensbezeichnung und die MdE übernommen; hierbei wurde eine Entscheidung über die Bewilligung einer Pflegezulage nicht getroffen. 1953 mußte die linke Niere entfernt werden; darauf erließ das Versorgungsamt (VersorgA) den Ergänzungsbescheid vom 20. August 1953, in dem die Schädigungsfolgen wie folgt neu bezeichnet wurden: Völlige Versteifung des rechten Hüftgelenks bei Gelenkausschneidung nach Granatsplitterverwundung, Verkürzung des Beines um 10 cm, Bänderlockerung und Beugehemmung im rechten Kniegelenk, Entfernung der linken Niere wegen Steineiterniere nach Blasen- und Harnröhrenverletzung mit Abszeßbildung, Harnröhrenfistel und Harninfekt.

1959 beantragte der Kläger Pflegezulage; die Voraussetzungen des Anspruchs wurden versorgungsärztlich (Dr. M) verneint. Mit dem auf § 62 BVG gestützten Bescheid vom 24. September 1959 lehnte das VersorgA den Antrag ab. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Im Berufungsverfahren machte der Kläger unter Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses des Dr. M insbesondere geltend, daß regelmäßige Dehnungen (Bougierungen) der Harnröhre durch die Ehefrau notwendig seien. Das Landessozialgericht (LSG) holte darüber, in welchem Umfang der Kläger fremder Hilfe dauernd bedürfe, von der Chirurgischen Universitäts-Klinik und Poliklinik T. ein fachurologisches Gutachten von Prof. Dr. S/Dr. O und ein orthopädisch-fachliches Gutachten von Prof. Dr. B ein. Mit Urteil vom 4. Juli 1963 verurteilte es den Beklagten, ab 1. Juli 1959 Pflegezulage nach Stufe I zu gewähren, und ließ die Revision zu. Die Berufung sei nicht nach § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen, denn der angefochtene Bescheid stelle eine Erstentscheidung über die Pflegezulage nach dem BVG dar. Das Sozialgericht (SG) habe mit Recht festgestellt, daß der Kläger wegen der völligen Versteifung des rechten Hüftgelenks fremde Hilfe beim An- und Auskleiden sowie zum An- und Ablegen des Stützapparates und für die Gesundheitspflege des rechten Beines benötige. Er bedürfe zusätzlich wegen einer schädigungsbedingten Harnröhrenstenose regelmäßiger Bougierungen. Dr. M habe die Zuerkennung einer Pflegezulage als unbedingt berechtigt bezeichnet; die gleiche Auffassung habe Prof. Dr. S vertreten, weil alle zwei bis drei Wochen eine sich über drei bis vier Tage hinziehende Bougierung, die sich in drei Stufen vollziehe, erforderlich sei. Die Ehefrau des Klägers sei in dieser Tätigkeit von Prof. Dr. H unterwiesen worden. Sie werde von ihr auch sach- und fachgerecht durchgeführt und sei mit einem erheblichen Mühe- und Zeitaufwand verbunden. Zu der Dehnungsbehandlung komme der noch weit größere Aufwand für die sachgemäße Pflege des Kathetermaterials, seine Sterilisation, die Aufbereitung von Spülflüssigkeit, die Sterilisation von Schalen und Gefäßen sowie für die Reinigung von verschmutzter und durchnäßter Wäsche. Die regelmäßig wiederkehrende Dehnungsbehandlung stelle deshalb, wie Prof. Dr. S abschließend zum Ausdruck gebracht habe, für die Ehefrau eine große Belastung dar. Falls die Behandlung nicht von ihr durchgeführt werden könnte, wäre nach dem Sachverständigengutachten eine häufige mehrtägige stationäre Behandlung mit allen damit verbundenen Kosten (für Reise, Behandlung, Unterkunft und Verpflegung) erforderlich, was infolge der beschwerlichen Reise für den Kläger mit großen Strapazen verbunden wäre. Auf Grund des Gutachtens des Prof. Dr. S vertrete auch Prof. Dr. B die Auffassung, daß beim Kläger - wenn auch nicht aus orthopädischen Gründen - Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG vorliege. Dieser Auffassung schließe sich der Senat an. Bei den Bougierungen handele es sich um regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen, für die der Kläger in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedürfe. Sie seien nicht nur für eine gewisse Übergangszeit, sondern für die Dauer erforderlich, was sich aus der von Prof. Dr. S hervorgehobenen Recidivneigung der Harnröhrenstenose ergebe. An der Hilflosigkeit des Klägers im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG könne sich dadurch nichts ändern, daß es sich bei der Bougierung nicht um "gewöhnliche" Verrichtungen des täglichen Lebens, sondern im Gegenteil gerade um nicht alltägliche, "ungewöhnliche" Pflegemaßnahmen handele, die aber für die Existenz des Klägers lebensnotwendig seien. Auch für sie sei eine Pflegezulage zu gewähren, wenn die weitere Voraussetzung einer regelmäßig wiederkehrenden und für die Dauer erforderlichen erheblichen Hilfeleistung erfüllt sei. Soweit § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG von im Ablauf des täglichen Lebens regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen spreche, könne dies nicht dahin aufgefaßt werden, daß eine Pflegezulage nur für solche Verrichtungen gewährt werden dürfe, die sich jeden Tag wiederholen. Es müsse genügen, daß die Verrichtungen in bestimmten Abständen immer wieder benötigt würden und insgesamt einen so erheblichen Umfang annähmen, daß sie einen wirtschaftlich meßbaren Wert haben, der durch die Rente nicht mehr als mitabgegolten angesehen werden könne. Diese Voraussetzung sei hier erfüllt. Zu Unrecht wende der Beklagte ein, es sei nicht einzusehen, warum die Bougierung, die sicher auch von jedem praktischen Arzt vorgenommen werde, eine mehrtägige stationäre Behandlung des Klägers erfordere, falls sie nicht von der Ehefrau durchgeführt würde. Zunächst stehe nicht einmal fest, ob jeder praktische Arzt die Bougierung ohne besondere fachärztliche Unterweisung durchführen könne. Allenfalls könne ein praktischer Arzt das Einführen des Katheters bewerkstelligen, während die Hauptarbeit der Sterilisation der Instrumente usw. doch der Ehefrau überlassen bliebe. Im übrigen dürfte ein vielbeschäftigter Arzt wohl kaum die Zeit aufbringen, den Katheter drei bis vier Tage hintereinander mehrmals täglich zu wechseln und abschließend mitten in der Nacht oder am Morgen noch jeweils die Blasen- und Harnröhrenspülung vorzunehmen. Die Bougierung diene zwar sicher der Linderung oder Behebung körperlicher Beschwerden, die der Kläger beim Wasserlassen habe, und sei darum auch als eine Maßnahme der Heilbehandlung im Sinne des § 10 Abs. 1 BVG anzusehen. Dem Kläger stünde deshalb hierfür ein Anspruch auf ambulante ärztliche Behandlung (§ 11 Abs. 1 Nr. 1 BVG) zu, wenn die Bougierung auf diese Weise durchgeführt werden könnte. Nach dem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung habe sich jedoch der behandelnde Arzt geweigert, die Bougierung vorzunehmen. Daraus folge, daß diese zwangsläufig im Rahmen einer stationären Krankenhausbehandlung vorgenommen werden müßte, die aber dem Kläger, da sich an seinem Wohnort kein Krankenhaus befinde, wegen der sich ständig zweimal monatlich wiederholenden beschwerlichen Reise dorthin und zurück kaum zugemutet werden könne.

Es verbliebe somit nach § 12 BVG aF und § 11 Abs. 3 BVG nF nur noch die Möglichkeit, die Bougierung durch Pflegekräfte in Hauspflege durchführen zu lassen. Hierzu bedürfte es jedoch der Zustimmung des Klägers, die dieser nicht erteile, weil er nur von seiner Ehefrau gepflegt zu werden wünsche. Dieser Wunsch sei auch nicht unberechtigt; denn es handele sich um sehr intime Pflegemaßnahmen, in denen die Ehefrau ärztlich unterwiesen worden sei.

Mit der zugelassenen Revision rügt der Beklagte Verletzung des § 35 BVG. Das LSG habe verkannt, daß es sich bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, gleichgültig, ob die Hilfe täglich oder nur in größeren Abständen erforderlich sei, nicht um einzelne Verrichtungen handeln dürfe. Außerdem sei, wenn die Hilfe nicht fortwährend geleistet werde, erforderlich, daß die Hilfe dauernd in Bereitschaft sein müsse. Danach sei für die Gewährung der Pflegezulage allein der dauernde Leidenszustand des Beschädigten und die durch diesen Zustand bedingte dauernde persönliche Pflege entscheidend, wobei jedoch wirtschaftliche Gesichtspunkte, zB die Höhe der Kosten für die Behebung einzelner Beschwerden, unberücksichtigt bleiben müßten. Der Kläger habe nicht behauptet und das Berufungsgericht nicht festgestellt, daß der Kläger zu den regelmäßigen und gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens, wozu vor allem Waschen, Ankleiden, Rasieren, Essen und Trinken gehörten, einer ständigen Hilfskraft dauernd oder auch nur in erheblichem Umfang bedürfe. Die einzelne, in regelmäßigen Zeitabständen erforderliche Bougierung begründe noch weniger die Pflegebedürftigkeit als die tägliche und ebenfalls zeitraubende Zubereitung von Diätkost oder die tägliche Hilfe beim An- und Auskleiden oder im Straßenverkehr, Verrichtungen, die das Bundessozialgericht (BSG) nicht als ausreichend für die Hilflosigkeit erklärt habe. Das LSG habe auch den Begriff der im Ablauf des täglichen Lebens regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zu weit ausgelegt. Eine in großen Abständen von mehreren Wochen auftretende Wiederholung von Verrichtungen schließe schon die erforderliche dauernde Pflegebereitschaft einer Pflegeperson aus. Bei der ein- bis zweimal im Monat zu leistenden Hilfe könne das Erfordernis, daß eine Hilfskraft ständig bereitstehen müsse, nicht bejaht werden. In dem Urteil des BSG vom 25. April 1961 - 11 RV 660/59 - sei mit Recht sogar eine tägliche Bougierung und künstliche Harnröhrenerweiterung mit fremder Hilfe als einzelne und damit die Pflegezulage nicht begründende Verrichtung angesehen worden. Die zu § 10 ff BVG vertretene Auffassung des Berufungsgerichts würde dazu führen, daß der Kläger auf die ihm gesetzlich zustehende Heilbehandlung verzichten könne, um sich dafür eine Pflegezulage einzutauschen. Auch der Hinweis des LSG auf den Mühe- und Zeitaufwand für die sachgemäße Pflege des Kathetermaterials sei nicht geeignet, die gesetzlichen Voraussetzungen des § 35 BVG zu begründen; denn hierbei handele es sich - abgesehen von dem nur in einem zeitlichen Abstand von zwei bis drei Wochen erforderlichen Aufwand - nicht um eine unmittelbare Pflegemaßnahme für den Kläger. Der Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 4. Juli 1963 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Ulm vom 9. Mai 1961 (richtig: 19. Mai 1961) als unbegründet zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen. Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und daher zulässig; sachlich ist sie nicht begründet.

Das LSG hat mit Recht die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG als zulässig angesehen, weil ein Ausschließungsgrund nicht gegeben ist. Die Berufung betraf die erstmalige Bewilligung der Pflegezulage nach dem BVG, nicht eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG. Die Berufung war daher nicht nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen (s. dazu BSG 8, 97; BSG in SozR SGG § 148 Nr. 17). Trotz der 1949 erfolgten Ablehnung der Pflegezulage nach dem KBLG handelte es sich bei dem angefochtenen Bescheid vom 24. September 1959 (Widerspruchsbescheid vom 25. November 1959), mit dem die Pflegezulage erstmalig nach dem BVG verweigert wurde, um eine Erstfeststellung (BSG 3, 256 f; 4, 23).

Streitig ist der Anspruch auf die Pflegezulage ab 1. Juli 1959. Nach § 35 Abs. 1 BVG in der bis zum Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes (1. NOG) vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) geltenden Fassung (aF) war Voraussetzung für den Anspruch auf Pflegezulage, daß der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. § 35 Abs. 1 idF des 1. NOG (nF) bestimmt, daß Pflegezulage zu gewähren ist, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Fassung ist durch das Zweite Neuordnungsgesetz vom 21. Februar 1964 nicht geändert worden. Mit der Neufassung des § 35 BVG ist nur der Wortlaut, nicht der Inhalt der Vorschrift geändert worden. In fast wörtlicher Anlehnung an die Verwaltungsvorschrift Nr. 1 Abs. 1 zu § 35 BVG aF wurde lediglich der Begriff der Hilflosigkeit näher umschrieben (vgl. auch BSG vom 29. Mai 1962 - 10 RV 1235/58 - Breith. 1962, 1088; BSG vom 24. April 1963 - 11 RV 800/62 - BVBl 1963, 95/96). In diesem Sinne ist er aber im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversorgungsgerichts (RVG 2, 188; 6, 43; 7, 218) schon während der Geltung des § 35 BVG aF ausgelegt worden (BSG 8, 99; 12, 22). Die fremde Hilfe muß hiernach für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - nicht nur für einzelne - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfang dauernd erforderlich sein (BSG 8, 99; 12, 22). In Anwendung dieses Begriffs der Hilflosigkeit hat das LSG zutreffend festgestellt, daß beim Kläger die wegen der völligen Versteifung des rechten Hüftgelenks beim An- und Auskleiden sowie zum An- und Ablegen des Stützapparates und für die Gesundheitspflege des rechten Beines erforderliche (tägliche) Pflege allein für die Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes nicht ausreicht. Es hat die Pflegezulage jedoch wegen der zusätzlich in Abständen von zwei bis drei Wochen notwendigen Bougierungen, die auf Grund der schädigungsbedingten Harnröhrenstenose erforderlich sind, zuerkannt. Hierzu hat es von der Revision nicht angegriffen festgestellt, daß die über drei bis vier Tage sich hinziehende Bougierung in Stufen durchzuführen ist, daß zunächst ein steriler Gummikatheter Charr . 8 in die Harnröhre eingeführt wird, der dort zwei bis drei Stunden liegenbleibt, anschließend für dieselbe Zeit ein steriler Gummikatheter Charr . 12. Sodann wird, falls nicht starke Schmerzen zur Unterbrechung der Behandlung zwingen, ein Katheter Charr . 14 für eine ganze oder halbe Nacht eingeführt. Nach Entfernung der Katheter erfolgt eine Spülung der Blase und der Harnröhre mit Kamillentee. Die Bougierung wird nach den Feststellungen des LSG von der darin von Prof. Dr. H unterwiesenen Ehefrau, und zwar - nach dem Gutachten von Prof. Dr. S - sach- und fachgerecht durchgeführt. Zu dieser mit einem erheblichen Mühe- und Zeitaufwand verbundenen Dehnungsbehandlung kommt noch der von Prof. Dr. S bestätigte weit größere Aufwand für die sachgemäße Pflege des Kathetermaterials, seine Sterilisation, die Aufbereitung der Spülflüssigkeit, die Sterilisierung von Schalen und Gefäßen sowie für die Reinigung von verschmutzter und durchnäßter Wäsche. Das LSG hat außerdem festgestellt, daß eine Krankenhausbehandlung am Wohnort des Klägers nicht möglich ist, daß der Kläger somit beschwerliche und kaum zumutbare Reisen zu einem auswärtigen Krankenhaus ausführen müßte, wenn seine Ehefrau nicht die Pflege übernommen hätte, von der er allein gepflegt zu werden wünscht.

Auf Grund dieser Feststellungen waren unter den besonderen Verhältnissen dieses Falles die Voraussetzungen für die Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG erfüllt. Das Gesetz verlangt, daß der Beschädigte in erheblichem Umfange fremder Hilfe für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens dauernd bedarf. Damit hat es auf den höchstpersönlichen Lebensbereich, somit auf das zur Erhaltung der Existenz des Beschädigten Notwendige abgestellt. Es sollen solche Verrichtungen außer Betracht bleiben, die mit der Pflege und Wartung seiner Person nicht unmittelbar zusammenhängen, sondern nur zur Lebensführung im weiteren Sinne gehören. Darum kann die Hilflosigkeit zB nicht mit der Notwendigkeit fremder Hilfe bei der Ausübung beruflicher Tätigkeit oder - bei einer Frau - der Bewirtschaftung des Haushalts begründet werden (BSG 12, 23). Dagegen ist nicht erforderlich, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird, es genügt schon, daß die Hilfskraft in Bereitschaft sein muß (BSG 8, 99). Bei der Hilfe zu den "gewöhnlichen" und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen handelt es sich in der Regel zugleich auch um tägliche Beistandsleistungen. Aus dem Zweck der Vorschrift, die Hilfe zu lebensnotwendigen Verrichtungen gegen andere Hilfeleistungen abzugrenzen, ergibt sich aber, daß der Beschädigte als hilflos anzusehen ist, wenn er in regelmäßiger Wiederkehr - wenn auch nicht notwendigerweise an jedem Tag - für zahlreiche Verrichtungen des täglichen Lebens der Hilfe anderer bedarf (RVG 6, 45, 46; BSG in SozR RVO § 558 c aF Nr. 1), und für diese Hilfe eine fremde Person in erheblichem Maße in Anspruch genommen werden muß (BSG 8, 98/99). Wenn - wie hier - neben die Hilfe für einzelne gewöhnliche Verrichtungen des täglichen Lebens Hilfeleistungen treten, die in ihrer Art ungewöhnlich sind, aber in regelmäßiger Wiederkehr gewährt werden müssen, damit der Beschädigte bestehen kann, müssen auch sie bei der Frage, ob die Hilfsbedürftigkeit den für die Hilflosigkeit erforderlichen Grad erreicht, berücksichtigt werden. Es ist möglich, daß sie einen höheren Zeitaufwand, auch mehr Mühe und Hingabe erfordern als zahlreiche täglich wiederkehrende Hilfeleistungen. Es kommt dann darauf an, ob die Hilfe insgesamt so häufig und mit einem so großen Zeitaufwand gewährt werden muß, daß sie erheblich mehr bedeutet als eine Hilfe nur für einzelne Verrichtungen und auch in ihrem Umfang über eine verhältnismäßig geringfügige Beistandsleistung hinausgeht. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist nach den Besonderheiten des einzelnen Falles zu beurteilen. Dabei ist der Begriff der Hilfe für die regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen nicht eng auszulegen. Darunter fallen alle Handlungen, die mit der Wartung und Pflege der Person des Beschädigten unmittelbar zusammenhängen. Wie das BSG bereits entschieden hat, gehört dazu zB das Auswechseln einer Halskanüle und die damit zusammenhängende Säuberung im Bereich einer Kehlkopffistel (BSG vom 24. April 1963 - 11 RV 800/62 - in BVBl 1963, 95). § 35 erwähnt die "gewöhnlichen" Verrichtungen nicht, um notwendige besondere Hilfsmaßnahmen auszuschließen, sondern nur um klarzustellen, daß Verrichtungen, die insofern ungewöhnlich sind, als sie zur Erhaltung der körperlichen Existenz des Beschädigten nicht erforderlich sind, außer Betracht bleiben müssen (BSG vom 24. April 1963 aaO S. 96). Dienen die außergewöhnlichen Verrichtungen aber der unmittelbaren Existenzsicherung des Beschädigten, gehören sie zu den Umständen, die Hilflosigkeit begründen können. Darum muß hier nicht nur das Bougieren und das Nachspülen mit Kamillentee, sondern auch die Aufbereitung der Spülflüssigkeit und die zu einer sachgemäßen Pflege erforderliche Sterilisierung des Kathetermaterials sowie der Schalen und Gefäße zu den Verrichtungen gerechnet werden, für die der Kläger fremder Hilfe bedarf. Die Ehefrau des Klägers leistet ihre Hilfe nicht nur für einige täglich wiederkehrende Verrichtungen und für die Zeit, in der das Bougieren durchgeführt wird; die Hilfe muß - von dem Ablauf der zweiten Woche nach dem Bougieren an - mindestens einige Tage in Bereitschaft bleiben, weil der Beginn der Behandlung sich nach den Beschwerden des Klägers richtet, die sich nicht in genauen zeitlichen Abständen einstellen, sondern nur alle zwei bis drei Wochen. Neben die Dehnungsbehandlung tritt somit auch die Notwendigkeit einer zeitlich beschränkten Bereitschaft der Hilfskraft. Die Hilfeleistungen insgesamt erlauben die Feststellung, daß der Kläger fremder Hilfe nicht nur in geringfügigem, sondern in erheblichem Umfang bedarf, auch nicht nur gelegentlich und vorübergehend, sondern in regelmäßiger Wiederkehr, zum Teil täglich. Dabei fällt ins Gewicht, daß es sich bei der Bougierung um eine intime Pflegemaßnahme handelt, die überdies besonderes Einfühlungsvermögen voraussetzt und darum eine sorgfältig ausgewählte und uneingeschränkt zur Verfügung stehende Hilfskraft erfordert. Es wäre lebensfremd anzunehmen, daß der Kläger, obgleich das Bougieren eine ständige tatsächliche Bereitschaft oder Hilfe nicht erfordert, eine ausreichende Pflege anders als durch eine ständig zur Verfügung stehende Hilfskraft erhalten könnte. Der Senat ist, ohne von der bisherigen Rechtsprechung zu § 35 BVG abweichen zu wollen, der Auffassung, daß Art und Umfang der in diesem Sonderfall notwendigen Hilfe den Anspruch auf Pflegegeld rechtfertigen. Er läßt sich hierbei auch von der Erwägung leiten, daß die Erfordernisse, die an die Hilflosigkeit zu stellen sind, insbesondere soweit es sich um die Pflegezulage der Stufe I handelt, nicht überspannt werden dürfen. Denn das Gesetz gewährt die Pflegezulage in fünf Stufen, wobei neben der Schwere der Gesundheitsstörung und dem hierdurch verursachten Grad der Hilflosigkeit die für die Pflege erforderlichen Aufwendungen von Bedeutung sind. Der hier vertretenen Auffassung des Senats steht die Entscheidung des 11. Senats vom 25. April 1961 - 11 RV 660/59 - (SozEntsch BSG IX 3, BVG - 1. KOVNG - § 35 Nr. 1) nicht entgegen; dort war zu entscheiden, ob das Bougieren allein den Anspruch auf die Pflegezulage begründen kann. Dies wurde verneint, weil es sich dort nur um eine einzelne Verrichtung handele. Der Kläger brauchte fremde Hilfe ausschließlich für die instrumentelle Harnröhrenerweiterung und Harnentleerung, die nach den vom BSG zugrunde gelegten Feststellungen höchstens einmal täglich notwendig und zeitlich verschiebbar war. Das Urteil bietet keinen Anhalt, daß das Bougieren sich in Stufen vollziehen mußte oder einen längeren Zeitraum in Anspruch nahm; es läßt im Gegenteil erkennen, daß nur eine kurzfristige, als unkompliziert anzusehende Verrichtung auszuführen war.

Es bedurfte nicht der grundsätzlichen Entscheidung, ob und inwieweit im Rahmen des § 35 BVG eine Verrichtung berücksichtigt werden kann, die in den Bereich der Heilbehandlung nach den §§ 10 ff BVG fällt. § 12 BVG aF sah vor, daß dem Beschädigten mit seiner Zustimmung Hilfe und Wartung durch Krankenpfleger, Krankenschwestern oder andere Pflegekräfte (Hauspflege) gewährt werden kann, wenn seine Aufnahme in eine Heilanstalt geboten, aber nicht ausführbar ist oder wenn ein wichtiger Grund vorliegt, den Beschädigten bei seinen Familienangehörigen zu belassen. Diese Bestimmung ist in § 11 Abs. 3 BVG nF übernommen und allgemein auf die Fälle nicht durchführbarer Krankenhausbehandlung für anwendbar erklärt worden. Da die Hauspflege durch berufliche Kräfte an die Zustimmung des Beschädigten gebunden ist, kann ihm eine solche Hilfe nach dem Willen des Gesetzes nicht aufgedrängt werden. Es bleibt, wenn eine Krankenhausbehandlung oder eine ambulante Behandlung nicht möglich oder nicht zumutbar ist, bei der Versorgung durch Angehörige oder durch von dem Beschädigten selbst ausgewählte Hilfskräfte. Das Gesetz trägt insoweit den Wünschen des Beschädigten Rechnung. Daraus ergibt sich, daß ihm keine Nachteile erwachsen dürfen, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. Persönliche Hilfeleistungen der Angehörigen können jedenfalls insoweit nicht als Maßnahmen angesehen werden, die bei der Beurteilung der Hilflosigkeit außer Betracht zu bleiben hätten. Das LSG hat eingehend begründet, weshalb die Aufnahme in ein Krankenhaus oder die ambulante Behandlung durch einen Arzt nicht möglich ist oder dem Kläger nicht zugemutet werden kann. Schon die Intimität der Hilfe beim Bougieren erfordert, daß dem Beschädigten in einem solchen Fall selbst überlassen bleiben muß, wer ihm Hilfe gewährt. Die Feststellungen des LSG sind von der Revision nicht angegriffen worden und damit der Entscheidung zugrunde zu legen. Sie ergeben, daß der Kläger nicht nur auf der Behandlung durch seine Ehefrau besteht, sondern daß dafür auch stichhaltige Gründe sprechen, ohne daß dem Erfordernis einer ausreichenden und sachgemäßen Pflege Abbruch getan wird.

Das LSG hat hiernach § 35 BVG nicht verletzt, wenn es in Übereinstimmung mit Dr. M und dem Gutachten des Prof. Dr. S und des Prof. Dr. B die Pflegezulage der Stufe I zuerkannt hat.

Da somit das angefochtene Urteil nicht zu beanstanden ist, mußte die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380433

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