Leitsatz (amtlich)
Die Regelung des 2. EEG über die Erhöhung des beim Grundlohn zu berücksichtigenden Arbeitsentgelts (RVO § 180 Abs 1 S 3) gilt auch für Versicherungsfälle, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Regelung noch nicht abgeschlossen waren.
Leitsatz (redaktionell)
Das Krankengeld eines Versicherten erhöht sich auch dann, wenn der Höchstbetrag des Grundlohns während des Bezugs von Krankengeld durch Gesetzesänderung erhöht worden ist.
Normenkette
RVO § 180 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1957-07-27; EGG 2 § 1 Fassung: 1957-07-27
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 28. August 1959 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger war vom 27. September 1957 bis 28. Februar 1958 arbeitsunfähig krank. Sein Bruttoverdienst betrug in dem vor seiner Erkrankung liegenden, für die Berechnung des Grundlohnes maßgebenden Zeitraum - 1. bis 31. August 1957 - 664.98 DM. Das Krankengeld wurde nach dem bis Ende September 1957 geltenden Höchstgrundlohn von 16.67 DM bemessen. Der Kläger verlangt von der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK), bei der er versichert war, vom 1. Oktober 1957 an Berechnung des Krankengeldes nach einem Grundlohn von 22.- DM, weil von diesem Zeitpunkt an der höchstzulässige Grundlohn (§ 180 Abs. 1 Satz 3 RVO) durch das Zweite Einkommensgrenzengesetz vom 27. Juli 1957 (BGBl I 1070) auf diesen Betrag festgesetzt worden ist.
Die Beklagte lehnte den Anspruch des Klägers mit der Begründung ab, der Berechnung des Krankengeldes müsse für die gesamte Zeit der Arbeitsunfähigkeit der zur Zeit des Eintritts der Erkrankung, d. h. am 27. September 1957, maßgebende Grundlohn zugrunde gelegt werden. Neue Rechtsvorschriften fänden auf dem Gebiete der Sozialversicherung bei bereits eingetretenen Versicherungsfällen nur Anwendung, wenn der Gesetzgeber dies ausdrücklich angeordnet habe.
Gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten legte der Kläger Widerspruch ein, den die Beklagte mit dem Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 1958 zurückwies. Hiergegen erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Schleswig und beantragte,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides zur Zahlung von Krankengeld nach einem Grundlohn von 22.- DM seit dem 1. Oktober 1957 zu verurteilen.
Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
Das SG gab dem Antrag der Beklagten statt und führte in den Gründen im wesentlichen aus: Die Berechnung des Krankengeldes nach einem seit dem 1. Oktober 1957 erhöhten Grundlohn wäre nur gerechtfertigt, wenn der Gesetzgeber die schwebenden Versicherungsfälle ausdrücklich in die gesetzliche Neuregelung einbezogen hätte. Denn zwischen den Beiträgen und den Leistungen bestehe in der gesetzlichen Krankenversicherung eine Wechselwirkung in der Weise, daß sich die Leistungen in gleicher Weise wie die bis dahin entrichteten Beiträge nach dem bei der Entstehung des Anspruchs maßgebenden Grundlohn richteten.
Mit der hiergegen eingelegten Berufung verfolgte der Kläger seinen Anspruch auf erhöhtes Krankengeld vom 1. Oktober 1957 an weiter. Das Landessozialgericht (LSG) gab seiner Berufung statt, ließ die Revision jedoch zu.
Das LSG führte in den Gründen seiner Entscheidung im wesentlichen aus: Während die Rechtsprechung des ehemaligen Reichsversicherungsamts (RVA) zur Frage rückwirkender Anwendung gesetzlicher Leistungsverbesserungen, soweit es sich um Leistungen der Wochenhilfe handele, nur dem Risiko nach regelmäßig überschaubare, kurzfristige Fälle betreffe, handele es sich bei den Arbeitsunfähigkeitsfällen mit Anspruch auf Krankengeld um sehr unterschiedliche, oft lange dauernde Versicherungsfälle. Auch habe das ehemalige RVA bereits Ausnahmen von dem Grundsatze zugelassen, daß die Leistungen der Krankenversicherung auch der Höhe nach nach der Rechtslage zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalles zu beurteilen sind. Jedenfalls sei eine Ausnahme dann gerechtfertigt, wenn die für die Berechnung von Krankengeld maßgebende obere Grenze des Grundlohnes während des Laufs eines Versicherungsfalls kraft Gesetzes der veränderten Kaufkraft angepaßt werde. Eine solche Anpassung werde erfahrungsgemäß ohnehin erst verspätet durchgeführt, wenn das Bedürfnis für eine Neuregelung schon längere Zeit hindurch bestanden habe. Daß die Beklagte solchenfalls noch keine höheren Beiträge erhalten habe, stehe deshalb einer höheren Leistungsgewährung nicht entgegen, weil sonst auch ein Versicherter, der am 1. Oktober oder nur wenige Tage danach erkrankt sei, kein höheres Krankengeld erhalten könnte. In der sozialen Krankenversicherung gelte das Prinzip der Solidarität, wonach ein Versicherter gegebenenfalls auch ohne Rücksicht auf seine bisherige Beitragsleistung in vollem Umfange in den Genuß von Versicherungsleistungen komme; es hätten alle gesunden Versicherten mit ihren Beiträgen für die im Zeitpunkt einer Erhöhung arbeitsunfähig erkrankten Versicherten einzutreten. Eine Begrenzung der Leistungserhöhung auf Versicherte, die erst nach dem 1. Oktober 1957 erkrankt seien, erscheine daher nicht gerechtfertigt.
Die Beklagte legte gegen das Urteil des LSG Revision mit dem Antrage ein,
das Urteil des LSG aufzuheben und dasjenige des SG zu bestätigen.
Sie trug zur Begründung ihrer Revision im wesentlichen vor, das Krankengeld des Klägers müsse nach der Rechtsprechung des ehemaligen RVA nach den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen berechnet werden, die in der Zeit des Eintritts des Versicherungsfalles vorgelegen hätten. Das Zweite Einkommensgrenzengesetz enthalte keine gegenteilige Vorschrift.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen,
und trug insbesondere vor: Das Bundessozialgericht (BSG) sei bereits von dem Grundsatz der Einheit des Versicherungsfalles nach der Rechtsprechung des ehemaligen RVA abgewichen. Das Zweite Einkommensgrenzengesetz habe seinen Grund in der Veränderung des Lohn- und Preisgefüges. Auch in schwebenden Versicherungsfällen sei die Funktion des Krankengeldes zu beachten, den Arbeitsverdienst zu ersetzen und dadurch den Lebensunterhalt des Versicherten und seiner Familienangehörigen - auch unter veränderten Preisverhältnissen - zu gewährleisten.
Die in diesem Rechtsstreit zu entscheidende Frage geht dahin, ob das Zweite Einkommensgrenzengesetz vom 27. Juli 1957 (BGBl I 1070), das den Höchstgrundlohn (§ 180 Abs. 1 Satz 3 RVO) von bisher 16.67 DM täglich vom 1. Oktober 1957 an auf 22.- DM täglich heraufgesetzt hat (§ 1 Nr. 3 des Zweiten Einkommensgrenzengesetzes), sich auch auf beim Inkrafttreten dieses Gesetzes "schwebende" Versicherungsfälle erstreckt. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob das Gesetz, wie der Kläger meint, immer dann anzuwenden ist, wenn es sich um Ansprüche während der Geltungszeit des Gesetzes handelt, gleichgültig ob der Versicherungsfall, aus dem nach dem 1. Oktober 1957 ein Anspruch hergeleitet wird, bereits vor dem 1. Oktober 1957 eingetreten ist.
Der Senat hat sich bereits in zwei Entscheidungen mit der Frage befaßt, welchen Einfluß Änderungen der Lohnhöhe oder Änderung der gesetzlichen Vorschriften über die Dauer des Krankengeldes auf "schwebende Versicherungsfälle" haben (BSG 5, 283 ff - "gleitendes Krankengeld" - und BSG 16, 177 - Anwendung des neuen Leistungsrechts auf Ansprüche bereits ausgesteuerter Versicherter -). In der zuletzt genannten Entscheidung hat der Senat zwar den Ausgangpunkt der früheren Rechtsprechung des RVA beibehalten, "daß für Ansprüche aus Versicherungsfällen vor Inkrafttreten des neuen Rechts die bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften bestimmend bleiben" (Grunds. Entsch. RVA Nr. 2693, AN 1922, 281). Er hat jedoch in Einschränkung dieses Grundsatzes angenommen, daß die die Dauer des Krankengeldanspruchs betreffenden Vorschriften des Leistungsverbesserungsgesetzes vom 12. Juli 1961 (BGBl I 913) nach dem Zweck und der besonderen Regelung in diesem Gesetz (vgl. Art. 6 Abs. 3) auch für die "alten" Versicherungsfälle gelten, - also auch dann, wenn der Versicherte beim Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung nach altem Recht bereits mit Krankengeld ausgesteuert war, dieselbe Krankheit aber noch angedauert hat. In der Entscheidung BSG 5, 283 ff hat der Senat ausgesprochen, daß sich bei fortbestehender Krankheit im Falle der Unterbrechung des Krankengeldbezuges durch eine Zwischenbeschäftigung die Höhe des Krankengeldes nicht nach den Verhältnissen zur Zeit der Entstehung des Versicherungsfalles (Eintritt der Behandlungsbedürftigkeit) richtet, sondern nach dem Grundlohn vor Eintritt der letzten Arbeitsunfähigkeit zu berechnen ist. Zwar entspricht es dem Prinzip der Rechtssicherheit grundsätzlich, daß Rechtsverhältnisse, die in der Vergangenheit nach früherem Recht endgültig abgeschlossen worden sind, nachträglich keinem anderen Recht unterworfen werden. Da der Kläger jedoch auch nach altem Recht über den 30. September 1957 hinaus einen Anspruch auf Fortzahlung des Krankengeldes hatte, kann hier von einem zur Zeit der Rechtsänderung schon abgeschlossenen Versicherungsfall nicht gesprochen werden. Die Krankheit und Arbeitsunfähigkeit des Klägers war im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zweiten Einkommensgrenzengesetzes noch nicht endgültig abgeschlossen. Für solche schwebenden Versicherungsfälle ergibt aber der Sinn und Zweck des Gesetzes, daß auch sie davon erfaßt sein sollen. Denn die bis dahin geltende obere Begrenzung der Beitragspflicht und die damit verbundene Begrenzung der Leistungen sollte durch das Gesetz den veränderten Lohn- und Preisverhältnissen angepaßt werden. Die rechtliche Anpassung hinkt in aller Regel ohnehin der tatsächlichen Entwicklung nach, und es wäre daher unbegründet anzunehmen, daß der Gesetzgeber des Zweiten Einkommensgrenzengesetzes es bei schon schwebenden Versicherungsfällen bei dem bisherigen - seiner Auffassung nach durch die Verhältnisse überholten - Rechtszustand belassen wollte. Würde man annehmen, daß das Zweite Einkommensgrenzengesetz nicht auch die bei seinem Inkrafttreten schwebenden Versicherungsfälle erfaßt, so wäre die "Korrektur" des Beitrags- und Leistungsrechts, die der Gesetzgeber durch das Gesetz herbeiführen wollte, nur beschränkt wirksam. Diese Beurteilung hat zwar zur Folge, daß die Krankenkassen mit dem Inkrafttreten des Zweiten Einkommensgrenzengesetzes auch für die schon arbeitsunfähigen Versicherten höhere Leistungen bereithalten müssen, die der gesetzlichen Heraufsetzung des Höchstgrundlohnes entsprechen. Dieser Gesichtspunkt spricht jedoch - wie das LSG zutreffend ausgeführt hat - nicht entscheidend gegen die von dem Kläger beanspruchte Erhöhung des laufenden Krankengeldes. Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sind - nach dem Prinzip der Solidarität der der Versichertengemeinschaft angehörenden Versicherten - nicht streng nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit geordnet. Die in § 385 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vorgeschriebene Beitragsbemessung stellt eine genügende Sicherung für die Aufbringung der erforderlichen Mittel dar. Dies gilt auch für einen Leistungsverbesserungsschub, wie er durch das Zweite Einkommensgrenzengesetz herbeigeführt worden ist. Auf Grund dieses Gesetzes erhält die Beklagte vom 1. Oktober 1957 an - infolge Erhöhung der Begrenzung des Grundlohnes - auch höhere Beiträge von vielen nicht arbeitsunfähigen Versicherten, und diese höheren Beiträge dienen auch zur Finanzierung der am 1. Oktober 1957 schwebenden Leistungsfälle. Zutreffend hat das LSG auch in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats (vgl. insbesondere BSG 5, 283, 287) darauf hingewiesen, daß gerade das Krankengeld - anders als einmalige oder kurzfristige Leistungen - einer Anpassung an sich ändernde Verhältnisse seiner Natur nach bedarf. Gegenüber der Ansicht, daß im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ein strenges Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen Beiträgen und Leistungen bestehe ist zu betonen, daß die Gewährung des Krankengeldes nach dem Zweiten Buche der RVO der Aufgabe gerecht werden muß, die Lebenshaltung der Anspruchsberechtigten zu sichern (Lohnersatzfunktion). Die Erreichung dieses Zieles liegt auch gerade dem Zweiten Einkommensgrenzengesetz zugrunde, sein Sinn und Zweck rechtfertigen daher seine Anwendung auch auf schwebende Versicherungsfälle.
Hiernach war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen