Entscheidungsstichwort (Thema)
Tod eines niederschlesischen Landwirts auf seinem Hof an Hungertyphus (1946)
Leitsatz (amtlich)
Eine Verschleppung iS des BVG § 5 Abs 1 Buchst d setzt eine Ortsveränderung oder eine Verhinderung der Rückkehr voraus.
Leitsatz (redaktionell)
1. Zustände, denen alle Bevölkerungskreise längere Zeit in gleicher Weise ausgesetzt waren, wie Mangelzustände hinsichtlich der Ernährung und Versorgung mit Arzneimitteln, können nur dann als "besondere Gefahr" iS des BVG § 5 Abs 1 Buchst d angesehen werden, wenn sie der Besetzung eigentümlich sind. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, wenn der Tod nicht auf Maßnahmen der militärischen Besetzung, sondern der polnischen Zivilverwaltung durchzuführen ist.
2. Auch die Voraussetzungen des BVG § 5 Abs 1 Buchst e liegen nicht vor, wenn der schädigende Vorgang auf einer Gefahrenquelle beruht, der eine Verbindung mit typischen Kriegsgeschehen nicht mehr eigen ist, nämlich der polnischen Zivilverwaltung.
Normenkette
BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07, Buchst. e
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 20. November 1956 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente nach ihrem am 11. März 1946 verstorbenen Ehemann. Die Eheleute bewirtschafteten in Niederschlesien eine Landwirtschaft von 26 Morgen. Im Januar 1945 mußte die Klägerin mit ihren Kindern die Heimat verlassen. Ihr Ehemann, der zum Volkssturm eingezogen worden war, kehrte etwa Mitte 1945 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in seine niederschlesische Heimat zurück. Er konnte ungehindert von der sowjetischen Besatzungsmacht der Arbeit auf seinem kleinen Hof nachgehen und die Ernte einbringen. Am 1. Oktober 1945 wurde das Dorf unter polnische Zivilverwaltung gestellt und der gesamte Grundbesitz enteignet. Der verstorbene Ehemann der Klägerin mußte seit diesem Zeitpunkt, wie alle ehemaligen deutschen Hofeigentümer, auf seinem Hof bei unzureichender Versorgung mit Lebens- und Arzneimitteln Zwangsarbeit für die polnische Verwaltung leisten. Anfang März 1946 ist der Ehemann der Klägerin angeblich an Hungertyphus erkrankt und am 11. März 1946 verstorben.
Das Versorgungsamt (VersorgA.) hat den Antrag auf Versorgung abgelehnt und ausgeführt, nach den eigenen Angaben der Klägerin sei die Erkrankung ihres Ehemannes, die den Tod herbeigeführt hat, weder auf militärischen noch auf militärähnlichen Dienst noch auf eine unmittelbare Kriegseinwirkung zurückzuführen, so daß eine Schädigung gemäß § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht vorliege. Die gegen diese Ablehnung eingelegte Berufung hatte Erfolg, das Oberversicherungsamt (OVA.) M hat der Klägerin Hinterbliebenenversorgung ab 1. Januar 1952 zugesprochen. Auf den hiergegen eingelegten Rekurs, der als Berufung auf das Landessozialgericht (LSG.) übergegangen ist, hat das LSG. das Urteil des OVA. aufgehoben und die Klage gegen den ablehnenden Bescheid abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Verhältnisse, die den Tod des Ehemannes der Klägerin mit Wahrscheinlichkeit herbeigeführt haben, seien nicht Auswirkungen der Besetzung deutschen Gebiets durch sowjetische Truppen oder Auswirkungen von Maßnahmen des sowjetischen Besatzungsregimes gewesen, sondern gingen ausschließlich zu Lasten der polnischen Zivilverwaltung und seien vor allem Ausfluß der Schikanen des im Heimatort des Verstorbenen eingesetzten polnischen Bürgermeisters gewesen. Der Ehemann der Klägerin sei auch nicht verschleppt worden und sein Tod sei auch nicht auf nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge zurückzuführen, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen hätten. Infolgedessen seien die Tatbestände des § 1 Abs. 2 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. d und e BVG nicht erfüllt.
Das LSG. hat die Revision zugelassen, weil Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden waren.
Mit der Revision hat die Klägerin beantragt,
1. das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des OVA. M vom 7. Juli 1953 mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß dieses in seinem Ausspruch zu I) wie folgt geändert wird: Der Bescheid des Beklagten vom 7. Juli 1952 wird aufgehoben und der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin vom 1. Januar 1952 ab Witwenrente nach dem BVG zu gewähren;
2. hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen;
3. die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungs- und Revisionsverfahren dem Beklagten aufzuerlegen.
Die Klägerin, die sich für die Statthaftigkeit der Revision auf § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) stützt, rügt eine Verletzung des § 1 Abs. 2 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. d und e BVG. Sie ist der Ansicht, daß der Tod ihres Ehemannes auf schädigende Vorgänge zurückzuführen ist, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Wenn das Berufungsgericht dies deshalb verneine, weil der Tod ausschließlich zu Lasten der polnischen Zivilverwaltung gehe, so sei diese Rechtsansicht unzutreffend und beruhe auf einer zu engen Auslegung des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG. Das Gebiet Niederschlesien sei durch die Sowjets besetzt worden und habe auch im Zeitpunkt des Todes ihres Ehemannes noch unter sowjetischer Besetzung gestanden. Hieran könne sich dadurch nichts ändern, daß sich die sowjetische Besatzungsmacht zu ihrer eigenen Entlastung für die Durchführung bestimmter Aufgaben der polnischen Verwaltung bedient habe. Trotz dieses Umstandes sei nämlich die Tätigkeit der polnischen Zivilverwaltung nur unter der Aufsicht und den Befehlen der sowjetischen Besatzungsmacht erfolgt und nur in den Grenzen der von dieser Besatzungsmacht erlassenen Richtlinien möglich gewesen. Zumindest sei jedoch der Tod ihres Ehemannes auf nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben, zurückzuführen. Die Besetzung Niederschlesiens durch die Sowjets und die Einsetzung der polnischen Zivilverwaltung stelle eine nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge dar. Dies habe auch einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen; denn es sei eine allgemeine Erfahrungstatsache, daß mit der militärischen Besetzung in Auswirkung des verlorenen Krieges für jeden in diesen Gebieten wohnenden Deutschen außerordentliche Gefahren entstanden seien. Die Unsicherheit hinsichtlich der Person und des Eigentums während einer militärischen Besetzung durch feindliche Streitkräfte oder der in ihrem Auftrag und ihrem Befehl tätig werdenden Verwaltungsstellen müßten als kriegseigentümlicher Gefahrenbereich angesehen werden. Da der Ursachenzusammenhang insofern nicht streitig sei, ergebe sich ihr Witwenrentenanspruch zumindest aus § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG.
Der Beklagte beantragt im Schriftsatz vom 22. Mai 1957,
die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. November 1956 als unbegründet zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, daß eine unrichtige Anwendung des § 1 Abs. 2 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. d und e BVG nicht vorliege. Das Berufungsgericht sei ohne Rechtsirrtum davon ausgegangen, daß die völlig unzureichende Verpflegung und die äußerst schlechte ärztliche Versorgung, die für die Erkrankung und den Tod des Ehemannes der Klägerin mit Wahrscheinlichkeit ursächlich waren, keine der militärischen Besetzung eigentümliche Gefahren darstellten. Die Heimat des Verstorbenen sei von den Sowjets besetzt worden, ohne daß dadurch die deutsche Bevölkerung im wesentlichen in der Ausübung ihrer Eigentumsrechte gehindert wurde. Dieser Zustand habe sich erst geändert, als das Dorf und das Gebiet, in dem der Verstorbene lebte, unter polnische Zivilverwaltung kam. Erst nach diesem Zeitpunkt habe der Verstorbene, der damals enteignet wurde, keine genügende Nahrung erhalten, obwohl er schwer arbeiten mußte. Die zum Tode des Ehemannes der Klägerin führenden Verhältnisse und Maßnahmen gingen ausschließlich zu Lasten der polnischen Zivilverwaltung. Deshalb könne bei den angeschuldigten Ereignissen auch nicht von der nachträglichen Auswirkung kriegerischer Vorgänge gesprochen werden, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben.
Die vom LSG. gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie konnte keinen Erfolg haben.
Nach § 38 Abs. 1 Satz 1 BVG steht der Klägerin ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente zu, wenn ihr Ehemann an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 2 BVG verstorben ist. Das LSG. hat das Vorliegen einer Schädigung im Sinne dieser Vorschrift mit Recht verneint. Als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG gelten nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebietes oder Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Hiernach ist ein wesentliches Tatbestandsmerkmal der unmittelbaren Kriegseinwirkung die in § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG näher bezeichnete besondere Gefahr, die den schädigenden Vorgang verursacht haben muß. Daraus ergibt sich, wie das LSG. unter Bezug auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG. Bd. 2 S. 99 ff.) mit Recht folgert, daß Zustände, denen alle Bevölkerungskreise längere Zeit in gleicher Weise ausgesetzt waren, wie Mangelzustände hinsichtlich der Ernährung und Versorgung mit Arzneimitteln, begrifflich nicht als "besondere Gefahr" im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG angesehen werden können, selbst wenn die Gefahr ursächlich mit der Besetzung zusammenhängt, sondern nur dann, wenn sie der Besetzung eigentümlich ist. Nach den Feststellungen des LSG. ist der Tod des Ehemannes der Klägerin ausschließlich auf Maßnahmen der polnischen Zivilverwaltung, insbesondere der unzureichenden Versorgung mit Lebens- und Arzneimitteln sowie der unzureichenden ärztlichen Betreuung zurückzuführen. Ob unter diesen Umständen der Tod des Ehemannes der Klägerin infolge einer "besonderen Gefahr" im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG eingetreten ist, brauchte nicht näher geprüft zu werden, denn in jedem Falle ist diese Gefahr nicht auf Vorgänge zurückzuführen, die infolge der militärischen Besetzung eingetreten sind. Es ist auch nicht möglich, die Maßnahmen der polnischen Zivilverwaltung als "unmittelbar" mit der sowjetischen Besetzung zusammenhängend anzusehen. Es kann für die zu treffende Entscheidung dahinstehen, ob die polnische Zivilverwaltung nur unter Aufsicht der sowjetischen Besatzungsmacht und nur in den Grenzen der von der sowjetischen Besatzung erlassenen Richtlinien tätig werden konnte. Maßgebend ist allein die Tatsache, daß seit dem 1. Oktober 1945 die Heimat des Verstorbenen unter polnischer Zivilverwaltung stand. Es kann deshalb bei Maßnahmen, die allein auf diese Verwaltung zurückgehen, nicht von unmittelbaren Kriegseinwirkungen durch einen schädigenden Vorgang, der mit der Besetzung deutschen Gebietes zusammenhängt, gesprochen werden.
Das LSG. ist im Ergebnis auch zutreffend davon ausgegangen, daß die Behandlung des Ehemannes der Klägerin durch die polnischen Zivilbehörden nicht als "Verschleppung" im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG angesehen werden kann. Eine Verschleppung im Sinne dieser Vorschrift erfordert begrifflich eine Ortsveränderung oder eine verhinderte Rückkehr (vgl. dazu § 234 a StGB, wenngleich dort die Verschleppung, damit sie strafbar ist, u.a. die Verbringung in ein fremdes Gebiet voraussetzt). Eine Änderung des Lebens- und Wirkungskreises allein genügt hiernach nicht, so daß die Enteignung des Ehemannes der Klägerin und die damit verbundenen Folgen, die seinen Tod mitbeeinflußt haben könnten, nicht eine Verschleppung im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG ist. Auch wenn dem Ehemann der Klägerin etwa zur damaligen Zeit die Abwanderung aus seinem Heimatort nicht möglich gewesen sein sollte, so läge auch in diesem Umstand nicht eine Verschleppung im Sinne einer "verhinderten Rückkehr". Für eine Annahme, daß der Ehemann der Klägerin nur vorübergehend von einem anderen Ort in seinen Heimatort gekommen war, um diesen wieder zu verlassen, besteht nach dem festgestellten Sachverhalt kein Anlaß. Allein ein "Festhalten" kann dem Begriff "Verschleppung" im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG nicht untergeordnet werden. So erklärt es sich, daß in früheren Gesetzen, die für Schädigungen "durch Festhaltung" Versorgung gewährten, die "Festhaltung" besonders neben der "Verschleppung" als ein zur Entschädigung berechtigender Tatbestand angeführt wurde (vgl. dazu § 2 Nr. 2 des Personenschädengesetzes vom 15.7.1922 - RGBl I S. 620 - und § 1 Nr. 2 des Besatzungsschädengesetzes vom 17.7.1922 - RGBl. I S. 624 -). Das LSG. ist daher ohne Rechtsirrtum davon ausgegangen, daß die Klägerin ihren erhobenen Versorgungsanspruch auch nicht mit Erfolg auf § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG in Verbindung mit §§ 1, 38 BVG stützen kann.
Schließlich ist dem LSG. auch darin beizupflichten, daß auch nicht die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG vorliegen. Nach dieser Vorschrift gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben, wenn diese Auswirkungen im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen. Für die Annahme einer unmittelbaren Kriegseinwirkung ist hiernach erforderlich, daß zwischen dem kriegerischen Vorgang, der einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen hat, und der nachträglichen schädigenden Auswirkung dieses Gefahrenbereichs ein ursächlicher Zusammenhang besteht (BSG. 4 S. 231/232). Ein Gefahrenbereich ist somit nicht mehr kriegseigentümlich, wenn sich die Gefahren in dem Zeitpunkt ihrer Auswirkung von anderen, nicht durch kriegerische Vorgänge entstandene Gefahren, nicht mehr unterscheiden (BSG. in SozR. BVG § 5 Bl. Ca 6 Nr. 18). Im vorliegenden Fall entspringt der schädigende Vorgang, wie bereits ausgeführt ist, den Maßnahmen der polnischen Zivilverwaltung, also einer Gefahrenquelle, der eine Verbindung mit typischem Kriegsgeschehen nicht mehr eigen ist.
Die Revision der Klägerin war daher gemäß § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen