Leitsatz (amtlich)
Versicherungspflichtige Beschäftigungen vor dem 1957-04-01, für die Arbeitnehmeranteile des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung nicht erhoben wurden, können - abgesehen von den Versicherten der knappschaftlichen Rentenversicherungen - nicht zur Erfüllung der Anwartschaft dienen; sie begründen keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld.
Normenkette
AVAVG § 85 Fassung: 1957-04-03, § 57 Fassung: 1957-04-03, §§ 74, 96; AVAVG 1927 § 96; AVAVGÄndG 1956-12 Art. 9 § 20
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 24. November 1958 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I Der am 13. September 1886 geborene Kläger bezieht seit dem 1. Oktober 1951 Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung. Zuletzt war er vom 21. Januar 1946 bis zum 26. Oktober 1957 als Lagerarbeiter beschäftigt. Arbeitnehmeranteile des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung waren für ihn wegen des Rentenbezugs nicht entrichtet worden.
Am 30. Oktober 1957 meldete sich der Kläger arbeitslos. Die Beklagte bewilligte ihm mit Verfügung vom 13. November 1957 Arbeitslosengeld vom 2. November 1957 an für 156 Unterstützungstage. Mit Bescheid vom 10. Februar 1958 stellte sie die Zahlung rückwirkend vom 2. November 1957 an ein, weil der Kläger infolge des Ruhegeldsbezugs keine Anwartschaft erworben habe. Von Rückforderung der in der Zeit vom 2. November 1957 bis zum 4. Februar 1958 in Höhe von 591,30 DM gezahlten Unterstützungsbeträge wurde abgesehen.
II Nach Zurückweisung seiner Einwendungen durch Widerspruchsbescheid vom 12. März 1958 rief der Kläger das Sozialgericht (SG.) Hamburg an. Dieses hob mit Urteil vom 5. August 1958 die Bescheide der Beklagten vom 10. Februar und 12. März 1958 auf und verurteilte sie, an den Kläger über den 4. Februar 1958 hinaus für weitere 75 Unterstützungstage dem Grunde nach das Arbeitslosengeld zu zahlen. Berufung wurde zugelassen. Nach Auffassung des SG. ist der Kläger innerhalb der Rahmenfrist vom 30. Oktober 1955 bis zum 31. März 1957 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Erst vom 1. April 1957 an sei er nach Inkrafttreten des § 57 des Änderungsgesetzes zum Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG n.F.) versicherungsfrei geworden. Hieran ändere der Umstand nichts, daß der Kläger nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 20 für die (ehemalige) britische Besatzungszone Arbeitnehmeranteile zur Arbeitslosenversicherung nicht zu entrichten hatte. Zwar hätten solche Beschäftigungen unter der Geltung des § 96 AVAVG a.F. nicht zum Erwerb der Anwartschaft dienen können, dies sei für die gegenwärtige Rechtslage jedoch unerheblich, weil das AVAVG n.F. eine dem § 96 AVAVG a.F. entsprechende Vorschrift nicht mehr enthalte. Selbst wenn der Gesetzgeber versäumt haben sollte, für eine gewisse Zeit eine Übergangsregelung hinsichtlich des im früheren § 96 AVAVG a.F. angesprochenen Personenkreises zu treffen, bestehe kein Anlaß, das in seinem Wortlaut klare Gesetz jetzt insoweit einschränkend auszulegen.
III Der von der Beklagten eingelegten Berufung gab das Landessozialgericht (LSG.) Hamburg durch Urteil vom 24. November 1958 statt, indem es das Urteil des SG. aufhob und die Klage abwies. Da der Kläger bereits vor dem 1. April 1957 das 65. Lebensjahr vollendet habe und deshalb gemäß § 57 AVAVG n.F. versicherungsfrei sei, könne er seinen vermeintlichen Anspruch allein auf eine Anwartschaftszeit stützen, die vor diesem Zeitpunkt liege. Zwar habe er in der Zeit vom 30. Oktober 1955 bis zum 31. März 1957 in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden, jedoch infolge des Bezugs von Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung nach dem damals in der britischen Besatzungszone geltenden Recht der Arbeitslosenversicherung die auf ihn entfallenden Beitragsanteile nicht mehr entrichtet. Deshalb habe jene versicherungspflichtige Beschäftigung auch nicht nach § 96 Satz 1 AVAVG a.F. zum Erwerb der Anwartschaft dienen können. Eine Sonderregelung, die etwa Altfälle von der Voraussetzung der erfüllten Anwartschaft ausnehme, habe der Gesetzgeber nicht getroffen. Revision wurde zugelassen.
IV Gegen das am 15. Januar 1959 zugestellte Urteil legte der Kläger am 27. Januar 1959 mit dem Antrage Revision ein, unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Hamburg vom 5. August 1958 zurückzuweisen. Er begründete die Revision am gleichen Tage, indem er sich auf die Entscheidungsgründe des sozialgerichtlichen Urteils bezog und führte weiterhin dazu aus, bei einem derartigen Anspruch auf Arbeitslosengeld aus langfristiger Arbeitnehmertätigkeit müsse aus sozialen Erwägungen die versicherungspflichtige Beschäftigung genügen; es sei nicht auf die förmliche Erfüllung der Anwartschaft abzustellen.
Die Beklagte beantragte, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Sie bezog sich auf die Entscheidungsgründe im Urteil des LSG., die ihrer Meinung nach sachlich und rechtlich zuträfen.
V Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Der Kläger hat sie auch frist- und formgerecht eingelegt sowie begründet. Sie ist daher zulässig.
Die vorausgegangene Berufung war, wie bereits das LSG. im Ergebnis zutreffend festgestellt hat, nach § 143 SGG zulässig, weil nicht Dauer oder Höhe der Leistung, sondern eine Unterstützungsvoraussetzung selbst, nämlich die Erfüllung der Anwartschaft, in Streit steht.
Die Revision ist jedoch nicht begründet. Der Kläger hatte sich am 30. Oktober 1957 arbeitslos gemeldet. Sein Anspruch auf Arbeitslosengeld war nach dem 1. April 1957, dem Tage des Inkrafttretens des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des AVAVG vom 23. Dezember 1956 (BGBl. I S. 1018) nach neuem Recht zu beurteilen (vgl. BSG. 9 S. 240 ff.). Auszugehen war daher von § 74 Abs. 1 AVAVG n.F. Danach hat Anspruch auf Arbeitslosengeld, wer arbeitslos ist, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, die Anwartschaft erfüllt, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt hat. Nach § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG n.F. hat die Anwartschaftszeit erfüllt, wer in der Rahmenfrist sechsundzwanzig Wochen oder sechs Monate in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden hat. Die Rahmenfrist des § 85 AVAVG n.F. geht dem Tage der Arbeitslosmeldung, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllt sind, unmittelbar voraus. Im Falle des Klägers läuft sie daher vom 30. Oktober 1955 bis zum 29. Oktober 1957. Sie fällt also teilweise unter die Geltungsdauer des neuen, teilweise unter die des alten Rechts.
In den Wochen nach dem 1. April 1957 hatte der Kläger nicht in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden, da § 57 Satz 1 AVAVG n.F. bestimmt, daß eine Beschäftigung von Arbeitnehmern, die das 65. Lebensjahr vollendet haben, versicherungsfrei ist. Der Kläger hatte das 65. Lebensjahr bereits 1951 erreicht und bezog seit dem 1. Oktober 1951 Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung. Eine Anwartschaftszeit im Sinne des § 85 AVAVG n.F. war insoweit also nicht erfüllt.
VI Im Hinblick auf die Übergangsvorschriften des Art. IX des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des AVAVG vom 23. Dezember 1956 blieb aber zu prüfen, ob der Kläger durch die vor dem 1. April 1957 liegenden Beschäftigungszeiten eine Anwartschaft auf Arbeitslosengeld erworben haben könnte. In Art. IX § 20 Abs. 1 dieses Gesetzes sind Regelungen für den Fall getroffen, daß ein Anspruch auf Arbeitslosengeld auf einer vor seinem Inkrafttreten erfüllten Anwartschaftszeit beruht. Ob tatsächlich vor dem 1. April 1957 eine Anwartschaft erworben wurde, ist also allein aus den vor jenem Zeitpunkt geltenden Vorschriften zu ermitteln (vgl. BSG. 7 S. 282). Das folgt auch aus dem Wortlaut der Übergangsvorschrift selbst "auf einer vor Inkrafttreten dieses Gesetzes erfüllten Anwartschaftszeit". Ferner ergibt sich aus dem Inhalt des Art. IX § 20 Abs. 1, daß nur die Geltungsdauer von Vorschriften des alten Rechts über den 1. April 1957 hinaus erstreckt, nicht dagegen eine rückwirkende Anwendung von Regelungen der Neufassung des AVAVG angeordnet ist.
Die Anwartschaft nach der bis zum 30. März 1957 geltenden Fassung des AVAVG wurde unter den Voraussetzungen des damaligen § 95 erfüllt, jedoch war durch § 96 AVAVG a.F. - abgesehen von den Versicherten der knappschaftlichen Rentenversicherung - bestimmt, daß versicherungspflichtige Beschäftigungen, für die Arbeitnehmeranteile des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung nicht erhoben wurden, nicht zum Erwerb der Anwartschaft dienen.
Der Kläger hatte infolge des Bezugs von Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung gemäß Nr. 2 der SVD Nr. 20 (ArbBl. für die brit. Zone 1957 S. 19), die von dem Ersten Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts vom 30. Mai 1956 (BGBl. I S. 437) unberührt geblieben war, die auf ihn entfallenden Beitragsanteile zur Arbeitslosenversicherung nicht mehr zu entrichten. Deshalb konnten auch seine Beschäftigungen in der Zeit vom 30. Oktober 1955 bis zum 31. März 1957 eine Anwartschaft nicht bewirken.
Entgegen der vom Kläger in der Revisionsinstanz vorgetragenen Meinung stellt Art. IX § 20 des Änderungsgesetzes für sämtliche Übergangsregelungen dort ausdrücklich darauf ab, daß ein Anspruch auf Arbeitslosengeld auf einer vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erfüllten Anwartschaftszeit beruht. Diese ist Anspruchsvoraussetzung. Damit ist ausgeschlossen, daß bloße Zeiten versicherungspflichtiger Beschäftigung genügen.
VII Nicht zutreffend ist in diesem Zusammenhang schließlich auch die Auffassung des Erstrichters, daß dem Begehren des Klägers stattzugeben sei, weil in der Neufassung des AVAVG eine dem § 96 a.F. entsprechende Vorschrift fehle. Wenn durch Art. IX § 20 a.a.O. auf die Anwartschaftserfüllung nach altem Recht ausdrücklich Bezug genommen wird, dann gelten - wie bereits dargelegt - für diese Anwartschaftserfüllung auch die Voraussetzungen und Bedingungen des alten Rechts. Einer besonderen Übergangsregelung bezüglich des in § 96 AVAVG a.F. angesprochenen Personenkreises bedurfte es daher nicht. Der Kläger hatte nach altem Recht keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, weil er nach § 96 AVAVG a.F. keine Anwartschaft erwerben konnte; er hat auch nach den Bestimmungen des neuen Rechts keine Anwartschaftszeit erfüllt, da nach § 57 Satz 1 AVAVG n.F. seine Beschäftigungen versicherungsfrei waren. Von Rechts wegen ist daher kein Weg zu eröffnen, auf dem ein Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Übergangszeit gewährt werden könnte.
Die Beklagte war deshalb nach § 185 AVAVG n.F. berechtigt und verpflichtet, dem Kläger das mit Bescheid vom 13. November 1957 bewilligte Arbeitslosengeld zu entziehen.
Das Urteil des LSG. war nach alledem im Ergebnis zu bestätigen; die Revision war zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen