Leitsatz (amtlich)
Beantragt der Versorgungsberechtigte die Anhörung eines bestimmten Arztes gemäß § 109 SGG "ohne Kostenvorschuß", so leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel, wenn der Tatsachenrichter über diesen Antrag weder durch besonderen Beschluß noch in den Urteilsgründen entscheidet.
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. April 1965 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Mit Bescheid vom 12. Oktober 1956 wurde der Antrag der Kläger auf Hinterbliebenenrente abgelehnt, weil der Tod ihres an einem dekompensierten Myocardschaden, arterieller Emboli und Herzmuskelschaden verstorbenen Ehemannes und Vaters (B.) nicht auf die als Schädigungsfolgen im Sinne einer nicht richtunggebenden Verschlimmerung anerkannt gewesenen Durchblutungsstörungen im Bereich der Kranzgefäße des Herzens aufgrund von Aderverhärtung ursächlich zurückzuführen sei. Das Sozialgericht (SG) verurteilte nach Anhörung des Prof. Dr. S den Beklagten mit Urteil vom 12. Oktober 1960, den Klägern Witwen- und Waisenrente zu zahlen. Im Berufungsverfahren wurde auf Antrag der Kläger gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten des Dr. W vom 6. August 1962 eingeholt. Am 5. Februar 1965 erstattete Dr. Dr. H von der Medizinischen Universitätsklinik B ein Gutachten. Mit Schriftsatz vom 13. April 1965 wandten sich die Kläger gegen dieses Gutachten und beantragten, notfalls nach § 109 SGG ohne Kostenvorschuß als Gutachter Prof. Dr. H zu hören. Mit Urteil vom 29. April 1965 wies das Landessozialgericht (LSG) unter Abänderung des SG-Urteils die Klage in vollem Umfang ab. Der Tod sei durch einen arteriellen Verschluß beider Femoralarterien im Bereich der Leistenbeuge eingetreten. Es sei nicht wahrscheinlich, daß B. an den Folgen einer Schädigung gestorben sei. Die Beurteilungen von Prof. Dr. S und Dr. W seien durch das Gutachten des Dr. Dr. H widerlegt.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügen die Kläger als Verfahrensmängel Verletzung der §§ 109, 128 SGG. Das LSG habe den Antrag auf gutachtliche Anhörung des Prof. Dr. H gemäß § 109 SGG übergangen. Über diesen Antrag, der auch hilfsweise gestellt werden könne, sei weder in der mündlichen Verhandlung vom 29. April 1965 noch durch Beschluß oder im Urteil entschieden worden, obwohl das Beweisthema rechtserheblich gewesen sei. Das LSG habe im Urteilstatbestand auf das schriftliche Vorbringen der Beteiligten im einzelnen und damit auch auf diesen Beweisantrag Bezug genommen, jedoch nicht darüber entschieden. Insoweit habe das LSG seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrundegelegt und deshalb auch gegen § 128 SGG verstoßen.
Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen. Die Kläger hätten ihr Rügerecht verloren, weil sie in der mündlichen Verhandlung die Nichtstattgabe des Antrages nach § 109 SGG nicht gerügt hätten, obwohl sie diesen Mangel hätten rügen können.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und auch statthaft, da die Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt haben, der vorliegt (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164, 166 SGG).
Zutreffend rügt die Revision, daß das LSG den von den Klägern gemäß § 109 SGG gestellten Antrag auf Anhörung des Prof. Dr. H übergangen habe.
Nachdem die Kläger das Gutachten vom 5. Februar 1965 erhalten hatten und mit Verfügung vom 15. März 1965 befragt worden waren, ob die Klage zurückgenommen werde, haben sie sich alsbald mit Schriftsatz vom 13. April 1965 zu dem Gutachten geäußert und gebeten, sofern das Gericht noch Zweifel an der Berechtigung des erhobenen Anspruchs habe, ein Obergutachten einzuholen. Im anschließenden Absatz heißt es dann: Notfalls werde Antrag nach § 109 SGG ohne Kostenvorschuß gestellt und als Gutachter Prof. Dr. H, Ludwigshafen, benannt. Damit hatten die Kläger zunächst angeregt, bei noch bestehenden Zweifeln an der Begründetheit des Anspruchs ein Obergutachten von Amts wegen einzuholen; sie hatten ferner hilfsweise, d. h. für den Fall, daß das LSG sich zu einer solchen Sachaufklärung von Amts wegen nicht veranlaßt sehen sollte, den Antrag gestellt, Prof. Dr. H nach § 109 SGG zu hören. Bei diesem Hilfsantrag hat es sich um einen Antrag nach § 109 Abs. 1 SGG gehandelt. Denn es war nicht nur die Vorschrift des § 109 SGG ausdrücklich bezeichnet, sondern auch der zu hörende Arzt namentlich benannt worden (vgl. BSG aaO Nr. 5). Einen solchen Antrag muß das Gericht auch dann, wenn er nur hilfsweise für den Fall gestellt wurde, daß dem Klageantrag nicht oder nicht in vollem Umfang entsprochen wird, beachten (BSG in SozR SGG § 109 Nr. 1 und 17). Der Zusatz "ohne Kostenvorschuß" änderte hieran nichts. § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG bestimmt ohne Einschränkung, daß auf Antrag des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden "muß" . Diese zwingende Verfahrensvorschrift (vgl. BSG aaO Nr. 1) setzt sonach nicht die vorherige Bereiterklärung des Antragstellers zur Leistung eines Kostenvorschusses voraus. Das ergibt sich aus Satz 2 der Vorschrift, wo es heißt, daß die Anhörung von der Leistung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht werden "kann" . Ist das Gericht sonach nicht genötigt, die Anhörung des nach § 109 SGG benannten Arztes von der Leistung eines Kostenvorschusses abhängig zu machen, liegt es vielmehr in seinem Ermessen, ob es einen Kostenvorschuß verlangen will oder nicht, so muß es auch dem Antragsteller gestattet sein, etwa bei schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen - im Schriftsatz vom 13. April 1965 war darauf hingewiesen worden, daß die Klägerin eine Witwenrente von 176,- DM beziehe - zu beantragen, daß von der Anforderung eines Kostenvorschusses abgesehen werde. Das Gericht muß sich dann schlüssig werden, ob dem in dieser Form gestellten Antrag stattzugeben oder ob er nach Abs. 1 Satz 2 des § 109 SGG abzulehnen ist. Seine Entscheidung hat es entweder durch besonderen Beschluß oder in den Urteilsgründen bekannt zu geben (vgl. BSG aaO Nr. 26). Im vorliegenden Fall hat das LSG auf den nach § 109 SGG gestellten Antrag nichts veranlaßt, es ist hierauf auch weder im Tatbestand noch in den Gründen des Urteils eingegangen. Darin liegt ein wesentlicher Verstoß gegen § 109 SGG (vgl. BSG aaO Nr. 26).
Daran ändert der Umstand nichts, daß in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 29. April 1965 der Antrag nach § 109 SGG nicht mehr erwähnt ist. Zwar hat das Bundessozialgericht (BSG) in BSG 3, 284, gestützt auf §§ 202 SGG, 295 der Zivilprozeßordnung (ZPO) entschieden, daß ein Kläger, der die gutachtliche Anhörung eines Arztes nach § 109 SGG beantragt hatte, mit der Behauptung, das Gericht habe seinem Antrag nicht entsprochen, einen Mangel im Verfahren nicht mehr rügen könne, wenn er den Mangel bis zum Schlusse der nächsten mündlichen Verhandlung, in der über das Ergebnis der Beweisaufnahme verhandelt wurde, nicht gerügt hat, obgleich er ihn rügen konnte (ähnlich BSG-Entscheidung vom 18. April 1958 - 8 RV 289/56 -, in "Die Kriegsopferversorgung" 1958 6/58 Nr. 827). In BSG 3, 284 war aber der Sachverhalt anders: Dort war dem Antrag nach § 109 SGG vom LSG stattgegeben und das Gutachten auch von dem benannten Sachverständigen mit unterzeichnet worden. Der Kläger hatte mit der Revision lediglich geltend gemacht, er sei von diesem Sachverständigen selbst nicht untersucht worden. In der Entscheidung ist darauf hingewiesen worden, dem Kläger sei durch die Übersendung des Gutachtens bekannt gewesen, daß das Gutachten in der vorliegenden Form als Beweismittel benützt und zur Grundlage des Urteils gemacht werden sollte und er daher vor der mündlichen Verhandlung ausreichend Gelegenheit hatte, seine Beanstandung geltend zu machen (aaO Seite 285). Aus dem Beschluß des 8. Senats des BSG ist, da nähere Einzelheiten fehlen, nicht erkennbar, ob der Kläger den Verfahrensmangel erkannt und deshalb das Rügerecht verloren hatte. Daß der Antrag dort übergangen worden sei, ist nicht ersichtlich. Im Gegensatz hierzu hat im vorliegenden Fall das LSG auf den Antrag nach § 109 SGG überhaupt nicht reagiert und über ihn weder positiv noch negativ entschieden. Die Kläger hatten den Antrag nach § 109 SGG nach Erhalt des Gutachtens vom 5. Februar 1965, kurze Zeit vor der am 29. April 1965 stattfindenden mündlichen Verhandlung, nämlich am 13./14. April 1965 gestellt. Sie mußten nicht damit rechnen, daß das LSG den Antrag übergehen würde, konnten vielmehr ohne eine gegenteilige Feststellung des LSG in der mündlichen Verhandlung zur Frage der Aufrechterhaltung des Antrags nach § 109 SGG erwarten, daß das Gericht entweder den ihnen günstigen Beurteilungen von Prof. Dr. S und Dr. W folgen, ein Gutachten nach § 103 SGG einholen oder über den Antrag nach § 109 SGG - ohne Kostenvorschuß - entscheiden würde. Ebenso konnte das LSG, das in dem Urteil auf das schriftliche Vorbringen der Beteiligten Bezug genommen hat, nur davon ausgehen, daß der Antrag nach § 109 SGG aufrecht erhalten werde und daß der Kläger auf einer Entscheidung über den Antrag durch die vollbesetzte Richterbank bestehe (vgl. BSG aaO Nr. 33).
Da das LSG stattdessen den Antrag nach § 109 SGG übergangen hat, kann den Revisionsklägern nicht entgegengehalten werden, sie hätten ihr Rügerecht nach den §§ 202 SGG, 295 ZPO verloren.
Die festgestellte Verletzung des § 109 SGG macht die Revision bereits statthaft; diese ist auch begründet, da nicht auszuschließen ist, daß das Urteil, wenn das LSG über den Antrag nach § 109 SGG entschieden hätte, anders ausgefallen wäre. Das Gericht konnte zwar unter Umständen den Antrag mit Rücksicht auf die bereits 1962 nach § 109 SGG erfolgte Anhörung des Dr. W ablehnen, sofern die erneute Anhörung eines Arztes des Vertrauens nicht durch das Gutachten von 1965 gerechtfertigt erschien (BSG aaO Nr. 14 und Nr. 18). Das LSG hat jedoch insoweit und auch zu den Voraussetzungen des § 109 Abs. 2 SGG keine Entscheidung getroffen; da die unterlassene Entscheidung im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden kann, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen