Entscheidungsstichwort (Thema)
Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers bei Tuberkulose-Verdacht
Leitsatz (amtlich)
Der Rentenversicherungsträger ist zur Tuberkulosebekämpfung und -behandlung nach RVO § 1244a verpflichtet, wenn der von ihm bestellte Arzt oder der Amtsarzt beim Gesundheitsamt den Verdacht auf eine aktive behandlungsbedürftige Tuberkulose geäußert hat (Weiterführung von BSG 1971-11-24 4 RJ 275/71 = BSGE 33, 225 und BSG 1973-03-29 4 RJ 73/73 = BSGE 35, 285).
Leitsatz (redaktionell)
Aus der Verpflichtung des Rentenversicherungsträgers, Maßnahmen der Tuberkulosehilfe bereits bei Tuberkuloseverdacht durchzuführen, kann allerdings nicht hergeleitet werden, daß es genügt, wenn irgendein behandelnder Arzt diesen Verdacht äußert.
Normenkette
RVO § 1244a Abs. 1 Fassung: 1959-07-23; BSHG § 35 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1969-09-18, § 48 Abs. 1 Fassung: 1969-09-18, § 132 Fassung: 1969-09-18; BSeuchG § 3 Fassung: 1961-07-18, § 4 Fassung: 1961-07-18, § 5 Fassung: 1961-07-18, § 31 Fassung: 1961-07-18, § 34 Fassung: 1961-07-18, § 35 Fassung: 1961-07-18
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 1. Juni 1976 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die klagende Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) verlangt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Ersatz von Kosten, die durch die stationäre Behandlung der Versicherten G. entstanden sind.
Die Versicherte wurde Anfang November 1973 wegen einer Mikrohaematurie (geringfügige Ausscheidung roter Blutkörperchen im Urin) in das Universitätskrankenhaus H. eingewiesen. Während der stationären Untersuchung wurde die Diagnose Urogenital-Tuberkulose gestellt und am 26. November 1973 mit spezifischer Behandlung begonnen. Nach der Entlassung (29. November) befand sich die Versicherte vom 14. Dezember 1973 bis zum 19. Februar 1974 in der urologischen Klinik des Krankenhauses S. in D. Dort konnte die Einweisungsdiagnose Urogenital-Tbc nicht bestätigt werden. Die Beklagte lehnte die Erstattung der von der Klägerin übernommenen Krankenhauskosten ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, die vom 26. bis 29. November 1973 und vom 14. Dezember 1973 bis 19. Februar 1974 durch stationäre Krankenhausbehandlung der Versicherten angefallenen Krankenhauskosten zu erstatten (Urteil vom 26. November 1975). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 1. Juni 1976). Von einer die Leistungspflicht der Beklagten auslösenden Erkrankung im Sinne des § 1244 a Reichsversicherungsordnung (RVO) sei auch dann auszugehen, wenn die Behandlungsbedürftigkeit der Tuberkulose durch den behandelnden Arzt festgestellt werde. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung komme es nicht darauf an, ob sich die zunächst gestellte Diagnose später bestätigt habe und der ärztliche Dienst des Rentenversicherungsträgers beteiligt worden sei. Es sei auch nicht davon auszugehen, daß die Beklagte von Anfang an Zweifel an der Richtigkeit der Diagnose gehabt habe.
Die Beklagte hat die - zugelassene - Revision eingelegt, mit der sie die Verletzung des § 1244 a RVO rügt: Selbst wenn Absatz 1 dieser Vorschrift ausdehnend auf die Fälle angewendet werde, in denen alle beteiligten Ärzte eine aktive behandlungsbedürftige Tuberkulose diagnostizierten, führe dies im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung des § 1244 a RVO. Die Kostentragungspflicht des Rentenversicherungsträgers entfalle zumindest dann, wenn - wie hier - eine negative ärztliche Stellungnahme seines sozialmedizinischen Dienstes vorliege. Dem Rentenversicherungsträger müsse die Überprüfung der von fremden Ärzten gestellten Diagnose möglich sein.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zurückzuverweisen ist. Die Feststellungen des LSG reichen für die Entscheidung über den von der AOK erhobenen Erstattungsanspruch nicht aus.
Die Beklagte ist zur Kostenerstattung verpflichtet, wenn es ihre Aufgabe gewesen wäre, die stationäre Behandlung der Versicherten durchzuführen. Nach § 1244 a Abs 1 RVO haben Versicherte gegen den Rentenversicherungsträger Anspruch auf Maßnahmen nach §§ 1236 bis 1244 RVO - und damit auf stationäre Heilbehandlung -, wenn sie an aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose erkrankt sind. Der erkennende Senat hat wiederholt entschieden, daß Sinn und Zweck der Tuberkulosehilfe eine weite Auslegung des § 1244 a Abs 1 RVO gebieten. Deshalb setzt die Pflicht des Rentenversicherungsträgers über den Wortlaut dieser Vorschrift hinaus schon ein, wenn Amtsarzt und ärztlicher Dienst des Rentenversicherungsträgers eine entsprechende Diagnose gestellt haben, obgleich sich diese später als unrichtig erwies (SozR Nr 24 zu § 1244 a RVO = BSGE 33, 225). Gleiches gilt für den unbestätigt gebliebenen Tuberkuloseverdacht, sofern aus ärztlicher Sicht im Interesse des Kranken und zum Schutz seiner Umgebung eine spezifische Behandlung zunächst erforderlich schien (SozR Nr 32 zu § 1244 a RVO = BSGE 35, 285). Das folgt aus dem Charakter der Tuberkulosehilfe als Maßnahme der Seuchenbekämpfung. Die speziell für die Tuberkulosebekämpfung geltenden Bestimmungen befinden sich heute im Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Nach § 132 BSHG gehören die Träger der Rentenversicherung zu den sonstigen zur Tuberkulosebekämpfung verpflichteten Stellen. Damit gilt auch für sie § 48 Abs 1 BSHG, wonach es die Aufgabe der Tuberkulosehilfe ist, die Heilung Tuberkulosekranker zu fördern und zu sichern sowie die Umgebung der Kranken gegen die Übertragung der Tuberkulose zu schützen. Maßnahmen, die im Rahmen dieser Zielsetzung notwendig sind, können nur dann sinnvoll angewendet werden, wenn sie unverzüglich und nicht erst dann eingreifen, wenn jeder Zweifel an der Diagnose ausgeschlossen ist. Eine Verzögerung würde die wirksame Bekämpfung der aktiven behandlungsbedürftigen Tuberkulose als Volksseuche gefährden. Damit stimmt der in §§ 135, 60 BSHG zum Ausdruck gekommene Grundsatz überein, daß im Rahmen der Tuberkulosebekämpfung möglichst nur ein Leistungsträger von Anfang an verantwortlich sein soll. Es liegt somit im Wesen der Tuberkulosebekämpfung, die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers schon bei Verdacht auf aktive behandlungsbedürftige Tuberkulose einsetzen zu lassen und nicht abzuwarten, bis alle Bedenken am Vorliegen einer Tbc ausgeräumt sind.
Nach den Feststellungen des LSG haben im vorliegenden Fall erstmals die Ärzte des Universitäts-Krankenhauses H. eine Urogenital-Tuberkulose diagnostiziert. Wegen dieser Diagnose ist die Versicherte in das Krankenhaus S. eingewiesen worden. Das kann jedoch - entgegen der Ansicht des LSG - nicht ausreichen, die Beklagte nach § 1244 a RVO als verpflichtet anzusehen. Aus dem Erfordernis, Maßnahmen der Tuberkulosehilfe bereits bei Tuberkuloseverdacht durchzuführen, kann nicht hergeleitet werden, daß es genüge, wenn irgendein behandelnder Arzt des Versicherten den Verdacht auf aktive Tuberkulose äußert. Der Umstand, daß einerseits die (Kosten-) Pflicht des Rentenversicherungsträgers schon aufgrund einer Verdachtsdiagnose entsteht und auch für den Fall der später erwiesenen Unrichtigkeit dieser Diagnose bestehen bleibt, erfordert andererseits, die Voraussetzungen der Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers bei Verdacht auf Tbc auf möglichst einfache Weise eng zu begrenzen: die Diagnose des Verdachts auf Tbc - und zwar auf die aktive behandlungsbedürftige Erscheinungsform dieser Krankheit - muß von einem Amtsarzt des Gesundheitsamtes oder dem ärztlichen Dienst des Rentenversicherungsträgers gestellt sein.
In den bisher vom Bundessozialgericht entschiedenen Fällen hatte eine entsprechende Diagnose sowohl der zuständige Amtsarzt (beim Gesundheitsamt) als auch der ärztliche Dienst des Rentenversicherungsträgers gestellt (vgl BSGE 33, 225 und 35, 285). Der Senat sieht es als ausreichend für die Begründung der Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers an, wenn nur einer von beiden eine solche Feststellung getroffen hat (in BSGE 33, 225, 227 war das offengeblieben). Diese Folgerung liegt nahe, soweit es sich um den vom ärztlichen Dienst des Rentenversicherungsträgers geäußerten Tuberkuloseverdacht handelt. Sie wird zudem durch § 135 Abs 1 Satz 1 BSHG gestützt, wonach die Feststellung der Behandlungsbedürftigkeit durch einen amtlich bestellten Arzt, die zur sachlichen Zuständigkeit eines in § 132 BSHG genannten Leistungsträgers geführt hat, diese Zuständigkeit auch bei Änderung der Umstände bestehen bleiben läßt. Als amtlich bestellter Arzt gilt dabei auch der Arzt eines Trägers der Sozialversicherung; es kommt nicht darauf an, ob der Arzt Beamter, Vertrags- oder Vertrauensarzt ist (vgl BT-Drucks 3/1799 S 62 zu § 128 des Entwurfs eines Bundessozialhilfegesetzes, der dem heutigen § 135 BSHG entspricht iVm § 27 Abs 3 Satz 1 des Tuberkulosehilfegesetzes - THG - vom 23. Juli 1959, BGBl I Seite 513, Begründung zu § 8 des Entwurfs zum THG in BT-Drucks 3/349 Seite 15). Die Rechtsstellung des Gesundheitsamtes bei der Tuberkulosebekämpfung ist im Bundesseuchengesetz (BSeuchG) vom 18. Juli 1961 (BGBl I Seiten 1012, 1300) geregelt. Dieser Behörde ist schon der Verdacht auf Tbc unverzüglich zu melden (§ 3 Abs 1 Satz 1, § 5 Abs 1 Satz 1 BSeuchG). Meldepflichtig sind ua der behandelnde oder sonst hinzugezogene Arzt, in Krankenhäusern der leitende Arzt bzw der leitende Abteilungsarzt (§ 4 Abs 1 Nr 1, Abs 2 Satz 1 BSeuchG). Das Gesundheitsamt hat alsbald die erforderlichen Ermittlungen über Art, Ursache, Ansteckungsquelle und Ausbreitung der Krankheit anzustellen (§ 31 Abs 1 BSeuchG); es kann Schutzmaßnahmen treffen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer meldepflichtiger Krankheiten erforderlich ist (§ 34 BSeuchG). Bei Gefahr im Verzuge hat das Gesundheitsamt die erforderlichen Maßnahmen selbst anzuordnen und die zuständige Behörde hiervon sofort zu unterrichten. Diese kann die Anordnung ändern oder aufheben. Wird die Anordnung nicht innerhalb von zwei Tagen seit ihrem Erlaß aufgehoben, so gilt sie als von der zuständigen Behörde getroffen (§ 35 Abs 1 BSeuchG). Aus alledem ergibt sich, daß zwar die Entscheidung hinsichtlich der Durchführung von Tuberkulosemaßnahmen und die Durchführung selbst nicht dem Gesundheitsamt obliegt, diese Behörde aber ärztlicher Mittelpunkt der Tuberkulosefürsorge ist. Deshalb muß den ärztlichen Entscheidungen des Gesundheitsamtes besondere Bedeutung beigemessen werden.
Das Berufungsurteil enthält keine Feststellungen zu der Frage, ob der ärztliche Dienst der Beklagten den Verdacht auf eine aktive Tbc bei der Versicherten geäußert hat. Das LSG hat vielmehr gemeint, auf die Beteiligung des ärztlichen Dienstes der Beklagten komme es nicht an. Die Ausführungen, der Beklagten sei die im Universitätskrankenhaus gestellte Diagnose bekannt gewesen und es könne nicht davon ausgegangen werden, daß die Beklagte von Anfang an Zweifel an der Diagnose gehabt habe, reichen nicht aus, um eine Verpflichtung der Beklagten nach § 1244 a RVO anzunehmen. Erforderlich ist vielmehr, daß sie durch ihre Ärzte selbst die Diagnose bestätigt hat. Ob dies der Fall ist, hat das LSG nicht festgestellt. Im Berufungsurteil fehlen auch Ausführungen, ob der Amtsarzt des zuständigen Gesundheitsamtes den Verdacht auf Tuberkulose geäußert hat.
Da die für die Entscheidung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht vom Senat getroffen werden können, war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen, das bei erneuter Prüfung auch wird beachten müssen, ob die Diagnose auf eine aktive Tbc gelautet hat.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung durch das Berufungsgericht vorbehalten.
Fundstellen