Entscheidungsstichwort (Thema)
Subjektive Verweisbarkeit
Leitsatz (redaktionell)
Der bisherige Beruf des Versicherten, der Ausgangspunkt für die Prüfung der "subjektiven Verweisbarkeit" iS des RVO § 1246 S 2 ist, wird bei Pflichtversicherten in erster Linie durch die Dauer und den Umfang der grundsätzlich geforderten Ausbildung sowie durch die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit bestimmt. Daneben ist zwar auch die Höhe des Entgelts zu berücksichtigen; diese kann aber eine durch die Hauptmerkmale eindeutig bestimmte Einstufung des Berufs nicht wesentlich ändern.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Mai 1976 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen.
Tatbestand
Der im Jahr 1941 geborene Kläger war ab 1955 als Elektroinstallateur, zunächst als Lehrling, dann als Geselle beschäftigt. Im Jahr 1963 legte er die Meisterprüfung ab. Danach war er als selbständiger Elektroinstallateur tätig. Im Jahr 1969 erlitt er einen Sportunfall. Bis zum Oktober 1972 bezog er von der Beklagten Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Zeit. Seinen Antrag auf Weitergewährung der Rente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. März 1973 ab, weil er nicht mehr berufsunfähig sei.
Durch die Folgen des Unfalls ist die Leistungsfähigkeit des Klägers eingeschränkt; dieser ist jedoch seit November 1972 imstande, überwiegend im Sitzen auszuübende leichtere Arbeiten vollschichtig zu verrichten, wobei er längerer Arbeitspausen bedarf.
Das Sozialgericht (SG) Stuttgart hat die Beklagte verurteilt, die Rente weiter zu gewähren. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, der Kläger könne zwar den Beruf eines Elektroinstallateurs nicht mehr ausüben, sei aber - da er wegen seiner verhältnismäßig geringen Arbeitsentgelte nur der mittleren Versichertengruppe zuzuordnen sei - auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts mit Ausnahme ganz untergeordneter Tätigkeiten, insbesondere auch auf die Tätigkeit eines einfachen Arbeiters, verweisbar; entsprechende Berufe seien in der Wirtschaft in zahlreichem Maße vorhanden. Mit solchen Tätigkeiten könne er noch mindestens die Hälfte des Erwerbseinkommens seiner Versichertengruppe verdienen. Daß er längerer Arbeitspausen bedürfe, schränke seine Erwerbsfähigkeiten nicht ein, da bei dem heutigen Sozialverständnis in den Betrieben eine gewisse Disposition über Arbeitspausen, insbesondere bei schwerbeschädigten Arbeitskräften, durchaus möglich sei.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger die unrichtige Anwendung des § 1246 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Er beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts als unbegründet zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden mußte. Das Berufungsgericht hat § 1246 Abs 2 RVO unrichtig angewendet.
Nach dieser Bestimmung ist berufsunfähig der Versicherte, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit ua auf weniger als die Hälfte derjenigen eines gesunden Versicherten herabgesunken ist. Dabei ist der "bisherige Beruf" der Ausgangspunkt, nach dem sich die Zumutbarkeit der "Verweisungstätigkeit" bestimmt (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO). Die Rechtsprechung (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 11) hat hierzu den Gedanken eines Drei- oder Mehrstufenschemas entwickelt und die Arbeiterberufe in eine obere (Leitberuf: früher der anerkannte Lehrberuf, jetzt der Beruf mit längerer Ausbildung), mittlere (Leitberuf: früher der anerkannte Anlernberuf, jetzt der Beruf mit kürzerer Ausbildung) und untere Gruppe eingeteilt. In dem noch nicht veröffentlichten Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 - wird der oberen Gruppe noch eine Gruppe vorangestellt, der Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktionen zuzuordnen seien. - Daß die Versicherungsunterlagenverordnung (VuVO) und das Fremdrentengesetz (FRG) innerhalb der Arbeiterberufe nur drei Leistungsgruppen unterscheiden und der oberen Leistungsgruppe 1 auch Meister und Vorarbeiter im Stundenlohn zurechnen, mag hier bei der Beurteilung nach § 1246 Abs 2 RVO außer Betracht bleiben. -
Das Berufungsgericht hat den Kläger nicht der für ihn in Frage kommenden Gruppe zugeteilt und deswegen seine Verweisungsmöglichkeiten unrichtig beurteilt. Es verkennt zwar nicht, daß der Kläger als gelernter Elektroinstallateur, der die Gesellen- und die Meisterprüfung abgelegt und eine insgesamt 14 jährige Praxis, davon 8 Jahre als abhängig beschäftigter Pflichtversicherter, in diesem Beruf hat, an sich der oberen Versichertengruppe des Dreistufenschemas angehört. Es hat ihn aber dieser Gruppe deshalb nicht zugeordnet, weil er als abhängig Beschäftigter Arbeitsentgelte der unteren bis allenfalls der mittleren Gruppe erhalten und als Selbständiger Beiträge unterhalb des Durchschnitts der unteren, allenfalls der mittleren Gruppe entrichtet habe. Dieser Auffassung ist nicht zu folgen.
Der bisherige Beruf wird bei Pflichtversicherten in erster Linie durch die Dauer und den Umfang der grundsätzlich erforderlichen Ausbildung sowie durch die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit bestimmt. Daneben ist zwar unter anderen Gesichtspunkten auch die Höhe des Entgelts zu berücksichtigen; diese kann aber eine durch die Hauptmerkmale eindeutig bestimmte Einstufung des Berufs nicht wesentlich ändern. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO kann der Versicherte nur auf die Tätigkeiten verwiesen werden, die (ua) ihm "unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit" (sozial) "zugemutet werden können". Zumutbarkeitsmaßstab ist danach im wesentlichen der bisherige Beruf, der durch Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten gekennzeichnet ist, daneben sind die "besonderen Anforderungen" von Bedeutung; dies sind solche, "die sich von den Kenntnissen und Fertigkeiten unterscheiden und doch die Qualität des Berufs bestimmen" (SozR 2200 § 1246 Nr 4, Seite 8). Das Gesetz wählt von den verschiedenen Merkmalen, die die Berufe nach der Anschauung des täglichen Lebens rangmäßig unterscheiden mögen, die genannten als die entscheidenden aus, die im besonderen Maße die Stellung des Berufsinhabers im Rahmen der Rentenversicherung bestimmen. Der Gesetzgeber des Jahres 1957, dem die Bedeutung der Entlohnung für den Beruf nicht verborgen geblieben sein kann, hat hier eine Wertentscheidung getroffen. Er hat die "Höhe" des Berufs an den genannten Merkmalen gemessen. Dabei hat er die finanzielle Gegenleistung des Arbeitgebers hinsichtlich der sozialen Zumutbarkeit der Verweisung auf andere Tätigkeiten als weniger wesentlich angesehen. Daß hier nicht eine beiläufige Regelung, sondern eine Grundeinstellung des Gesetzgebers vorliegt, ergibt sich aus dem Zusammenhang der Vorschriften. Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO wird dem Versicherten eine verhältnismäßig große wirtschaftliche Einbuße (vgl SozR Nr 75 und 92 zu § 1246 RVO) zugemutet, während nach Satz 2 ein Herabsinken des sozialen Ansehens in ähnlichem Umfang nicht als zumutbar angesehen wird. Dies gilt für Pflichtversicherte, die nicht nur dem Versicherungszwang unterliegen, sondern auch in der Höhe ihrer Beiträge fest an die Entlohnung gebunden sind.
Die Bedeutung des bisherigen Berufs ist bei einem nach dem Handwerkerversicherungsgesetz (HwVG) pflichtversicherten selbständigen Handwerker nicht anders zu beurteilen (§ 1 Abs 5 HwVG); denn durch die besondere Regelung der Beitragshöhe (§ 4 HwVG) soll der Handwerker nur wirtschaftlich nicht übermäßig belastet werden und die Pflichtversicherung soll ihm lediglich eine Grundsicherung verschaffen.
Die Rechtsprechung hat es bei Pflichtversicherten zur Frage des bisherigen Berufs im allgemeinen weder auf das Entgelt noch auf die Beitragshöhe abgestellt. Wohl können bei der Prüfung der subjektiven Zumutbarkeit neben Ausbildung und Anforderungen "im Einzelfall auch noch sonstige Gesichtspunkte" berücksichtigt werden (BSGE 9, 254); solche sind aber hier nicht ersichtlich. Das Urteil des erkennenden Senats vom 20. August 1974 (SozR 2200 § 1246 Nr 3), in dem die Bedeutung der lohn- und gehaltstariflichen Eingruppierung als Indikator für die durch Arbeit und Beruf vermittelte soziale Stellung untersucht wird, betrifft einen anderen Fall: Damals stand der bisherige Beruf des Klägers (Ofenmaurer, Vorarbeiter und Kolonnenführer) auch in seiner sozialen Einordnung eindeutig fest, fraglich war dagegen, ob der Kläger auf leichte Bürotätigkeit verwiesen werden durfte; die Ansicht des Senats, die Entlohnung sei, allerdings nur in Verbindung mit anderen Indikatoren, ausschlaggebend für den sozialen Rang einer beruflichen Stellung, bezog sich auf die Bürotätigkeit.
Das Berufungsgericht hätte dem Umstand, daß der Kläger verhältnismäßig niedrige Entgelte erzielt hat, nicht die Bedeutung beimessen dürfen, daß sich dadurch sein sozialer Status ändere, weil - wie dargelegt - gegenüber der Zuordnung eines gelernten handwerklichen Berufs zur oberen Versichertengruppe der verhältnismäßig geringen Entlohnung keine wesentliche Bedeutung zukommt. Etwas anderes wäre es, wenn aus einer geringen Entlohnung rein tatsächlich geschlossen werden müßte, der Versicherte habe nur nach außen hin die Berufsstellung eines Facharbeiters bekleidet, in Wahrheit aber eine geringerwertige, etwa Hilfsarbeitertätigkeit, verrichtet. In einem solchen Fall wäre der Beruf nicht nach Ausbildung und Anforderung eines Lehrberufs, sondern nach der Bedeutung des ausgeübten Berufs, also zB einer Hilfsarbeitertätigkeit, zu beurteilen. Dazu hat das Berufungsgericht keine Feststellungen getroffen, denn dafür war hier kein Anhalt vorhanden.
Nach alledem kann der Kläger allenfalls noch auf diejenigen Tätigkeiten verwiesen werden, die aus der Gruppe der Arbeiter ohne Ausbildungsberuf durch hohe Anforderungen positiv herausragen.
Die Hilfserwägungen des Berufungsgerichts, auch bei Zuordnung des bisherigen Berufs zur oberen Gruppe sei der Rentenanspruch unbegründet, tragen die klagabweisende Entscheidung nicht. Denn die Ausführungen, herausgehobene Tätigkeiten der unteren Versichertengruppen, die den Kenntnissen und Fähigkeiten des Klägers entsprächen, seien "in der Wirtschaft in zahlreichem Maße vorhanden", sind zu allgemein gehalten. Falls das Berufungsgericht diese Feststellungen auf eine Gerichtskunde stützen will, hat es weder deren Grundlage im Urteil angegeben (SozR Nr 86 zu § 128 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), noch die Beteiligten auf diese Gerichtskunde hingewiesen (SozR Nr 91 zu § 128 SGG). Das hat der Kläger mit ausreichender Deutlichkeit gerügt.
Das Berufungsgericht wird im einzelnen zu prüfen haben, ob es Tätigkeiten gibt, die für den Kläger sowohl nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten als auch im Sinn der subjektiven Zumutbarkeit in Frage kommen, und es wird mindestens einige dieser Tätigkeiten konkret zu bezeichnen haben; eine erschöpfende Aufzählung aller zumutbaren Tätigkeiten ist weder erforderlich noch auch nur möglich.
Schließlich wird auch noch zu prüfen sein, ob der Kläger auf die jetzige Tätigkeit in seinem Betrieb verwiesen werden kann (vgl dazu die Urteile SozR Nrn 69 und 70 zu § 1246 RVO sowie vom 29. Juli 1976 - 4/12 RJ 74/75 - und vom 28. Januar 1977 - 5 RJ 10/76). Im übrigen liegt bei dem verhältnismäßig noch jungen Kläger eine Umschulung nahe. Dies wird das LSG wegen des Vorrangs einer Rehabilitation vor der Rentengewährung (§ 7 RehaAnglG) besonders zu prüfen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen