Entscheidungsstichwort (Thema)

Prüfung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungs- und Verordnungsweise anhand von Durchschnittswerten der jeweiligen Arztgruppe. Schätzung des Umfanges unwirtschaftlicher ärztlicher Leistungen

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Zu der nach RVO § 368n Abs 5 nF vorzunehmenden Überwachung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung im einzelnen gehört auch die Prüfung der Verordnungsweise; hierfür gelten im wesentlichen die gleichen Grundsätze, wie sie die Rechtsprechung für die Prüfung der Behandlungsweise entwickelt hat.

2. Für die Wirtschaftlichkeitsprüfung sind zwei Verfahrensabschnitte zu unterscheiden, nämlich zum einen die Feststellung, ob überhaupt eine Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- oder Verordnungsweise vorliegt, und zum anderen, welchen Umfang die unwirtschaftlichen Mehrkosten ausmachen; nur für den ersten Verfahrensschritt kommt es darauf an, ob die Überschreitung der Durchschnittswerte noch im normalen Streubereich liegt oder ob sie schon die Übergangszone betrifft oder so offensichtlich ist, daß es zu ihrer Feststellung keiner weiteren Beweise bedarf.

3. Die sich aus einem Kostenvergleich ergebende Vermutung der Unwirtschaftlichkeit erstreckt sich auf die Behandlungs- oder Verordnungsweise des Kassenarztes im ganzen, ohne daß - eben weil keine Einzelfälle geprüft worden sind - einzelne Kostenbereiche als weniger betroffen ausgesondert werden können; der Umfang des unwirtschaftlichen Mehraufwandes ist dann zu schätzen, wobei sich die Schätzung auch auf einen Bereich erstrecken kann, der unterhalb der Grenze der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit liegt und die Zone der normalen Streuung jedenfalls noch nicht erfaßt.

 

Orientierungssatz

Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Tätigkeit braucht nicht anhand einzelner Behandlungs- oder Verordnungsfälle geprüft zu werden, wenn die Behandlungs- oder Verordnungskosten des Kassenarztes in einem offensichtlichen Mißverhältnis zu den Durchschnittswerten seiner Fachgruppe stehen. In einem solchen Falle ergibt sich die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- oder Verordnungsweise in der Regel schon aus einem Vergleich mit den Durchschnittswerten, es sei denn, daß Besonderheiten der jeweiligen Praxis den Mehraufwand ganz oder teilweise rechtfertigen oder der Mehraufwand für einen Minderaufwand in anderen Leistungsbereichen ursächlich gewesen ist (vgl BSG 1974-07-03 6 RKa 29/73 = SozR 2200 § 368n Nr 3).

 

Normenkette

RVO § 368n Abs. 5 Fassung: 1976-12-28, Abs. 4 Fassung: 1955-08-17

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 22.09.1976; Aktenzeichen L 1 Ka 26/73)

SG Dortmund (Entscheidung vom 09.08.1973; Aktenzeichen S 7 Ka 16/72)

 

Tenor

Auf die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. September 1976 aufgehoben, soweit es die Arzneimittelregresse der Beklagten gegen den Kläger für das I. und III. Quartal 1969 betrifft. Insoweit wird die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 9. August 1973 zurückgewiesen. Die Beklagte und die Beigeladenen haben dem Kläger ein Fünftel der Kosten des Klage- und Berufungsverfahrens zu erstatten.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger nimmt als praktischer Arzt an der ersatzkassenärztlichen Versorgung teil. Er behandelt seine Patienten vorwiegend nach den Grundsätzen der homöopathisch-anthroposophischen Medizin. Der Kläger wendet sich gegen Arzneikostenregresse der Beklagten für das I., II. und III. Quartal 1969 und Honorarkürzungen für das II. und IV. Quartal 1969.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) überstiegen die durchschnittlichen Verordnungskosten des Klägers im Verhältnis zur Fachgruppe der Praktiker die entsprechenden Durchschnittswerte im I. Quartal 1969 um 53.08 %, im II. Quartal 1969 um 97,94 % und im III. Quartal 1969 um 61,42 %. Hinsichtlich der Honorare für Sonderleistungen lagen seine durchschnittlichen Behandlungskosten im II. und IV. Quartal 1969 um mehr als 90 % über den entsprechenden Durchschnittswerten praktischer Ärzte.

Die Prüfungskommission der Beklagten für Ersatzkassen setzte in den Bescheiden vom 2. Oktober 1969, 8. Januar 1970 und 20. April 1970 für das I., II. und III. Quartal 1969 Arzneikostenregresse in Höhe von 10 % der jeweiligen Verordnungskosten fest und kürzte in weiteren Bescheiden das vom Kläger angeforderte Honorar in der Leistungssparte der Sonderleistungen für das II. und IV. Quartal 1969. Der Widerspruch des Klägers hiergegen blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid der Beschwerdekommission der Beklagten für Ersatzkassen vom 29. Dezember 1971). Die Beschwerdekommission erhöhte jedoch in dem Widerspruchsbescheid auf die Widersprüche der Beigeladenen zu 1) den Arzneikostenregreß für das II. Quartal 1969 auf 25 % der Verordnungskosten und die Honorarkürzungen für das II. und IV. Quartal 1969 auf jeweils 20 % der Honorarforderungen in der Leistungssparte der Sonderleistungen. Sie hielt die Erhöhung des Arzneikostenregresses für erforderlich, um die Verordnungskosten des Klägers auf einen Betrag zurückzuführen, der etwa 37,5 % über den Durchschnittswerten der Fachgruppe der Praktiker liege. Mit einem Zuschlag in dieser Größenordnung sei der Besonderheit der homöopathisch-anthroposophischen Praxisausrichtung des Klägers hinreichend Rechnung getragen.

Durch Urteil vom 9. August 1973 hat das Sozialgericht (SG) die Klage des Klägers abgewiesen.

Auf die Berufung des Klägers hat das LSG für das Land Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 22. September 1976 unter teilweiser Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Arzneikostenregresse für das I. und III. Quartal 1969 und die Honorarkürzungen in der Leistungssparte der Sonderleistungen für das II. und IV. Quartal 1969 jeweils in der Gestalt der Widerspruchsentscheidung vom 29. Dezember 1971 aufgehoben. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen.

Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen folgendes ausgeführt: Hinsichtlich der Arzneikostenregresse für das I. und III. Quartal 1969 und die Honorarkürzungen in der Leistungssparte der Sonderleistungen für das II. und IV. Quartal 1969 seien die angefochtenen Bescheide fehlerhaft.

Die Prüfungsgremien der Beklagten hätten allerdings entgegen der Auffassung des Klägers zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit seiner Verordnungsweise keine Einzel- oder Beispielfallprüfung durchführen müssen. Die Prüfungsausschüsse ständen in der Wahl der Prüfmethode grundsätzlich frei, sie müßten lediglich eine Methode anwenden, die geeignet sei, Aufschlüsse über die Wirtschaftlichkeit der Verordnungs- oder Behandlungsweise zu geben. Der hier angestellte Kostenvergleich, bei welchem die Durchschnittswerte des Arztes mit denen seiner Fachgruppe verglichen würden, sei eine solche geeignete Methode. Die Prüfungsgremien der Beklagten hätten den Kläger auch mit den durchschnittlichen Verordnungskosten der Fachgruppe für Praktiker vergleichen dürfen. Der Kläger sei selbst praktischer Arzt und bezeichnet sich auch als solcher. Die von ihm bevorzugte homöopathisch-anthroposophische Behandlungsmethode sei keine Besonderheit, die den Vergleich seiner Verordnungskosten mit denen der Fachgruppe der Praktiker ausschließe. Aus dem Gutachten des Privatdozenten Dr. K ergebe sich, daß bei homöopathisch-anthroposophischer Verordnungs- und Behandlungsmethode im Vergleich zu den Verordnungskosten der allopathisch behandelnden Ärzte keine erhöhten Aufwendungen entstünden. Deren Kosten seien im Gegenteil in der Regel sogar niedriger als die der allopathisch behandelnden Praktiker. Nach den Ausführungen des Sachverständigen lägen sie im Durchschnitt etwa 10 bis 15 % unter den durchschnittlichen Verordnungskosten der allopathisch tätigen praktischen Ärzte. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, daß die vom Kläger behandelten Patienten im Verhältnis zu den von praktischen Ärzten Besonderheiten aufwiesen, die dem angestellten Kostenvergleich entgegenstünden.

Die Prüfungsgremien der Beklagten hätten jedoch hinsichtlich der Arzneikostenregresse für das I. und III. Quartal 1969 ebenso wie bei den Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise nicht über den durch die Unwirtschaftlichkeit verursachten Mehraufwand hinausgehen dürfen. Die Arzneikostenregresse seien so festgesetzt worden, daß nach ihrem Abzug die durchschnittlichen Verordnungskosten des Klägers pro Fall im I. Quartal 1969 nur noch um 37,7 % und im III. Quartal 1969 nur noch um 45,27 % über den entsprechenden Durchschnittswerten der Vergleichsgruppe der Praktiker lägen. Dadurch seien mit den fraglichen Regressen Kostenbereiche erfaßt worden, die im Rahmen eines Kostenvergleichs noch nicht als Ausdruck eines unwirtschaftlichen Mehraufwandes angesehen werden könnten. Davon könne nur gesprochen werden, soweit zwischen den Kosten des geprüften Vertrags- oder Kassenarztes und den entsprechenden Durchschnittswerten seiner Fachgruppe ein offensichtliches Mißverhältnis bestehe. Dabei seien hinsichtlich der Abweichung Verschiebungen nach oben wie nach unten für zulässig zu halten. Die Grenze zwischen angemessenen und nicht mehr angemessenen Abweichungen verlaufe bei Werten um 50 % über den Durchschnittswerten. Kostenüberschreitungen unterhalb dieser Grenze seien nicht Ausdruck eines die Annahme unwirtschaftlicher Verordnungs- oder Behandlungsweise rechtfertigenden offensichtlichen Mißverhältnisses. Unwirtschaftlicher Mehraufwand sei zwar auch in Kostenbereichen unterhalb der genannten 50 % - Grenze denkbar. Um diesen zu erfassen, bedürfe es jedoch besonderer Feststellungen. Diese hätten die Prüfungsgremien der Beklagten nicht getroffen. Sie hätten lediglich die Verordnungskosten des Klägers mit denen der Fachgruppe der Praktiker verglichen, ohne das genaue Ausmaß des auf die Unwirtschaftlichkeit der Verordnungsweise entfallenden Mehraufwandes festzulegen. Diese pauschale Art der Feststellung eines unwirtschaftlichen Mehraufwandes sei an sich nicht zu beanstanden. Die Prüfungsgremien seien nicht verpflichtet, den Umfang des wirtschaftlichen Mehraufwandes genau zu bestimmen. Sähen sie davon jedoch ab, so dürften die von ihnen festgesetzten Arzneikostenregresse und Honorarkürzungen keine Kostenbereiche erfassen, die unterhalb der Grenzen zwischen angemessenen und nicht mehr angemessenen Überschreitungen lägen. In diesen Fällen müsse das Ausmaß des unwirtschaftlichen Mehraufwandes, der auf die Kostenbereiche zulässiger Abweichungen entfalle, genau festgestellt werden. In den in Rede stehenden Fällen müßten die angefochtenen Entscheidungen in vollem Umfange aufgehoben werden, da das Gericht die Höhe der Arzneikostenregresse und Honorarkürzungen nicht selbst bestimmen könne. Der Arzneikostenregreß für das II. Quartal 1969 sei hingegen nicht zu beanstanden. Soweit es die Honorarkürzungen für das II. und IV. Quartal 1969 in der Leistungssparte der Sonderleistungen anbelange, seien diese ebenfalls fehlerhaft, weil auch hier ausreichende Feststellungen zur Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise in diesem Bereich fehlten. Der Kläger habe zwar mit seinen Behandlungskosten insoweit die Durchschnittswerte der praktischen Ärzte in den genannten Quartalen erheblich überschritten. Der Kostenvergleich sei hier jedoch keine geeignete Methode, um die Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise des Klägers zu prüfen. In diesem Bereich sei in der homöopathisch-anthroposophischen Behandlungsmethode eine Besonderheit zu sehen, die den Kostenvergleich als ein geeignetes Verfahren zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise ausschließe.

Auf die von der Beklagten und den Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG erhobenen Beschwerden hat der erkennende Senat die Revision durch Beschluß vom 30. März 1977 insoweit zugelassen, als die Beschlüsse der Prüfungskommission der Beklagten über Arzneikostenregresse für das I. und III. Quartal 1969 im Streit sind.

In diesem Umfange haben die Beklagte und die Beigeladenen Revision eingelegt. Zur Begründung führen die Revisionskläger im wesentlichen übereinstimmend aus: Es sei nicht ersichtlich, aus welchen Gründen das LSG die Toleranzgrenze für das Vorliegen eines offensichtlichen Mißverhältnisses erst bei einer Kostenüberschreitung von 50 % als gegeben ansehe. Dies ergebe sich insbesondere nicht aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Danach liege diese Grenze vielmehr bereits bei 40 %iger Kostenüberschreitung. Das BSG verlange nur bei Kostenüberschreitungen unterhalb dieser Grenze eine Einzelfallprüfung bzw. eine Darlegung der Unwirtschaftlichkeit an Hand einer ausreichenden Anzahl von Beispielsfällen. Überschreitungen oberhalb der Grenze rechtfertigten pauschale Prüfungsmaßnahmen und pauschale Kostenregresse. Die vom LSG vertretene Auffassung würde in der Praxis zu einem kaum durchführbaren Prüfungsaufwand zwingen. Letztlich hätte dies zur Folge, daß eine Kostenüberschreitung bis zu 50 % in keinem Falle zu einer Regreßforderung führen könnte. Im übrigen enge die starre Festlegung des LSG auf eine Grenze von 50 % zwischen angemessenem und nicht mehr angemessenem Überschreiten den Beurteilungsspielraum der Prüfungsinstanzen erheblich ein und widerspreche der auch vom BSG erhobenen Forderung nach möglichst individueller Betrachtungs- und Beurteilungsweise. Im Falle des Klägers sei nach den Feststellungen des LSG der Regreß so festgesetzt worden, daß nach ihrem Abzug die durchschnittlichen Verordnungskosten des Klägers nur noch um 37,7 % bzw. 45,27 % über den Durchschnittswerten der Vergleichsgruppe lägen. Das belasse dem Kläger einen angemessenen Teil der von ihm verursachten Kostenüberschreitungen.

Die Revisionskläger beantragen sinngemäß übereinstimmend,

das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als es die Arzneimittelregresse gegen den Kläger für die Quartale I und III 1969 betrifft und insoweit die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revisionen zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ergänzend im wesentlichen aus: Mit der Einführung des Begriffs des offensichtlichen Mißverhältnisses sei von einer grundsätzlichen Einstellung des Rechts abgegangen worden. Danach müsse nämlich derjenige, der von einem anderen etwas fordere, den Bestand der Forderung beweisen. Es gebe zwar auch den Begriff des prima-facie-Beweises. Davon sei jedoch in Fällen der vorliegenden Art nur mit großer Zurückhaltung Gebrauch zu machen. Die Feststellung, daß ein offensichtliches Mißverhältnis vorliege, sei im Grunde ein Entgegenkommen gegenüber den Prüfungsgremien, denn ihnen werde damit zugestanden, daß sie ihre Aufgabe an sich nicht gelöst hätten. Der Einwand der Revisionskläger, in der Praxis würden erhebliche Schwierigkeiten entstehen, wenn ein offensichtliches Mißverhältnis nur dann angenommen würde, sobald die Überschreitung mehr als 50 % betrüge, liefe darauf hinaus, daß die Prüfungsausschüsse dazu übergehen dürften, alle Überschreitungen unter 50 % nicht mehr in ihre Prüfung einzubeziehen, weil die Einzelfallprüfung eine unzumutbare Belastung heraufbeschwören würde. Das sei jedoch nicht richtig. Die Praxis der Prüfungsausschüsse gehe vielmehr dahin, auch dann zu prüfen, wenn die Grenze des offensichtlichen Mißverhältnisses nicht erreicht sei. Eine Erschwernis der Arbeit der Prüfungsgremien würde damit durch das angefochtene Urteil nicht herbeigeführt. Wenn aber bis zu einer bestimmten Grenze eine Einzelfallprüfung durchzuführen sei, könne nicht auf dem Umweg der Feststellung eines offensichtlichen Mißverhältnisses in den Bereich der Einzelfallprüfung hineingekürzt werden. In diesem Falle müßten die Prüfungsgremien den wahren Sachverhalt möglichst zutreffend feststellen, wie sie dazu auch dann verpflichtet seien, wenn ein offensichtliches Mißverhältnis nicht vorliege. Selbst wenn man nicht der Meinung des LSG sei, daß die Grenze stets bei 50 % zu ziehen wäre, so könne sie jedenfalls nicht darunter liegen. Der Arzt, der es hinnehmen müsse, daß seine Wirtschaftlichkeit geprüft werde, habe einen Anspruch darauf, daß seine Leistungen einer sachbezogenen Prüfung unterzogen würden. Wenn man dem Arzt beim Umfang seiner ärztlichen Tätigkeit und den dadurch entstehenden Kosten einen gewissen Ermessensspielraum einräume, so könne man diesen nicht dadurch wieder einengen, daß man durch pauschale Festsetzungen von Kostenregressen darin eingreife.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat über die Revisionen mit zwei ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Kassenärzte entschieden. Die angefochtenen Regreßbescheide - in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 29. Dezember 1971 - sind von einem Ausschuß erlassen worden, der nur mit Kassenärzten besetzt war. Der Rechtsstreit betrifft deshalb ausschließlich eine Angelegenheit des Kassenarztrechts (§ 12 Abs 3 iVm § 33 Satz 2 und § 40 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -; BSGE 42, 268, 269 mit weiteren Nachweisen).

Die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen sind begründet. Die angefochtenen Bescheide vom 2. Oktober 1969 und 20. April 1970 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Dezember 1971, über die der Senat allein zu entscheiden hatte, sind rechtmäßig; denn die darin von der Beklagten festgesetzten Arzneikostenregresse von jeweils 10 % der Verordnungskosten des Klägers für das I. und III. Quartal 1969 sind nicht zu beanstanden.

Zu der im Gesetz vorgeschriebenen "Überwachung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung im einzelnen" (§ 368 n Abs 4 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF bzw Abs 5 nF) gehört auch die Prüfung der kassenärztlichen Verordnungsweise, für die im wesentlichen die gleichen Grundsätze gelten wie für die Prüfung der Behandlungsweise. Diese Grundsätze sind weitgehend von der Rechtsprechung entwickelt worden (vgl insbesondere BSGE 11, 102, 112 ff; 17, 79; 19, 123). Danach braucht die Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Tätigkeit nicht anhand einzelner Behandlungs- oder Verordnungsfälle geprüft zu werden, wenn die Behandlungs- oder Verordnungskosten des Kassenarztes in einem offensichtlichen Mißverhältnis zu den Durchschnittswerten seiner Fachgruppe stehen. In einem solchen Falle ergibt sich die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- oder Verordnungsweise in der Regel schon aus einem Vergleich mit den Durchschnittswerten, es sei denn, daß Besonderheiten der jeweiligen Praxis den Mehraufwand ganz oder teilweise rechtfertigen oder der Mehraufwand für einen Minderaufwand in anderen Leistungsbereichen ursächlich gewesen ist (vgl BSG in SozR 2200 § 368 n Nr 3).

Von diesen Grundsätzen für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit einer Verordnungsweise ist auch das LSG ausgegangen. In diesem Zusammenhang hat es unangegriffen (§ 163 SGG) festgestellt, daß der Kläger zutreffend mit der Fachgruppe der Praktiker zu vergleichen war und daß Praxisbesonderheiten, die dem angestellten Kostenvergleich entgegenstehen würden, nicht erkennbar sind. Davon ist somit auszugehen. Das LSG hat die von ihm gleichwohl angenommene Rechtswidrigkeit der Regresse allein damit begründet, daß diese einen Bereich erfaßt haben, der noch zu den "angemessenen" Abweichungen vom Durchschnitt gehöre. Arzneikostenregresse wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise dürften nämlich nach Auffassung des LSG nicht über den die Unwirtschaftlichkeit verursachenden Mehraufwand hinausgehen. Dem kann der Senat nicht folgen.

Unzutreffend, mindestens mißverständlich ist es schon, wenn das LSG alle Behandlungs- oder Verordnungskosten eines Kassenarztes, die noch kein offensichtliches Mißverhältnis zu den Durchschnittswerten erkennen lassen, ohne weitere Unterscheidung zu den "angemessenen" Abweichungen rechnet. Richtig ist allerdings, daß um die (aus höheren und niedrigeren Einzelwerten ermittelten) Durchschnittswerte ein gewisser Streubereich liegt, innerhalb dessen für die Annahme einer unwirtschaftlichen Behandlungs- oder Verordnungsweise in der Regel, d.h. vorbehaltlich der Feststellung eines unwirtschaftlichen Verhaltens im Einzelfall, kein Raum ist (vgl BSGE 19, 123, 128). Wie dieser Bereich einer "angemessenen" Streuung (mit entsprechenden Abweichungen von den Durchschnittswerten) näher abzugrenzen ist, kann hier auf sich beruhen. Keinesfalls erstreckt er sich, wie das LSG offenbar angenommen hat, bis an die Grenze der durch ein offensichtliches Mißverhältnis zu den Durchschnittswerten gekennzeichneten Unwirtschaftlichkeit. Zwischen dem Bereich einer normalen Streuung und dem einer offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit liegt vielmehr eine Übergangszone, die - wäre z.B. eine Abweichung von den Durchschnittswerten bis zu 20 % als normal anzusehen - von hier bis zur Grenze der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit reicht. Liegen die Behandlungs- oder Verordnungskosten des Kassenarztes in dieser Übergangszone, so braucht zur Feststellung eines unwirtschaftlichen Verhaltens nicht, wie im Bereich der normalen Streuung, eine Prüfung nach Einzelfällen stattzufinden; andererseits darf allein aus der Überschreitung der Durchschnittswerte noch nicht, wie im Falle eines offensichtlichen Mißverhältnisses, ohne weiteres auf Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden. Erforderlich, aber im allgemeinen auch ausreichend ist vielmehr, daß die Unwirtschaftlichkeit anhand einer die Behandlungs- oder Verordnungsweise des Kassenarztes "genügend beleuchtenden Zahl von Beispielen" nachgewiesen wird (BSGE 19, 123).

Wird unter Beachtung dieser Grundsätze ein unwirtschaftliches Verhalten des Kassenarztes festgestellt, so können die Prüfungsinstanzen den Umfang der unwirtschaftlich erbrachten oder verordneten Leistungen in der Regel im Wege der Schätzung ermitteln (BSGE 11, 102, 114 ff; SozR 2200 § 368 n Nr 3 am Ende). Das gilt nicht nur für den Fall, daß die Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- oder Verordnungsweise sich aus dem offensichtlichen Mißverhältnis zu den Vergleichswerten ergibt, sondern auch dann, wenn - innerhalb der genannten Übergangszone - der Nachweis der Unwirtschaftlichkeit erst anhand von Beispielen geführt wird. Auch in diesem Falle kann mithin der Umfang der unwirtschaftlichen Mehrkosten geschätzt werden; einer genauen Feststellung ihres Ausmaßes bedarf es - entgegen der Ansicht des LSG - nicht.

Für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit sind demnach zwei Verfahrensabschnitte zu unterscheiden: Zunächst ist zu prüfen, ob überhaupt - dem Grunde nach - eine Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- oder Verordnungsweise vorliegt; ist dies der Fall, so ist in einem zweiten Schritt der Umfang der unwirtschaftlichen Mehrkosten zu bestimmen. Nur bei der ersten Fragestellung kommt es darauf an, welcher Art die Überschreitung der Durchschnittswerte durch den Kassenarzt ist, ob sie sich noch im normalen Streubereich bewegt, ob sie schon die genannte Übergangszone betrifft oder ob sie so offensichtlich ist, daß es zu ihrer Feststellung keiner weiteren Beweise bedarf. Je nachdem, welcher Sachverhalt vorliegt, sind die Voraussetzungen für eine Feststellung der Unwirtschaftlichkeit - Prüfung nach Einzelfällen, Anführung von Beispielen oder allein ein Kostenvergleich - verschieden.

Ist hiernach ein unwirtschaftliches Verhalten des Kassenarztes festgestellt worden, so hat es für die weitere Frage, welchen Umfang die unwirtschaftlichen Mehrkosten erreichen, keine Bedeutung mehr, unter welchen Voraussetzungen die Feststellung der Unwirtschaftlichkeit dem Grunde nach getroffen worden ist. Das gilt insbesondere für den - hier vorliegenden - Fall, daß diese Feststellung allein auf einem Kostenvergleich beruht. Die Vermutung der Unwirtschaftlichkeit erstreckt sich dann auf die Verordnungsweise des Kassenarztes im ganzen, ohne daß - gerade weil keine Einzelfälle überprüft worden sind - einzelne Kostenbereiche als weniger betroffen ausgesondert werden können. Die Vermutung der Unwirtschaftlichkeit beschränkt sich also nicht auf einen Kostenbereich, der oberhalb der Grenze der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit liegt. Deshalb brauchen, soweit ein Arzneikostenregreß auch den Bereich unterhalb dieser Grenze erfassen soll, nicht, wie das LSG meint, besondere Voraussetzungen ("Feststellung des genauen Ausmaßes der Unwirtschaftlichkeit") vorzuliegen. Entgegen der Auffassung des LSG kann vielmehr, wenn das Mißverhältnis zwischen den Behandlungs- oder Verordnungskosten des Kassenarztes und den Durchschnittswerten seiner Fachgruppe offensichtlich ist, der Umfang des unwirtschaftlichen Mehraufwandes stets geschätzt werden, wobei sich die Schätzung auch auf einen Bereich erstrecken kann, der unterhalb der Grenze der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit liegt und die Zone der normalen Streuung jedenfalls noch nicht erfaßt. Das hindert die Prüfungsinstanzen im Rahmen des ihnen zustehenden Ermessens nicht, ihre Schätzung mit Beispielen aus der Behandlungs- oder Verordnungspraxis des Arztes zu belegen; dies kann vor allem dann zweckmäßig sein, wenn die Behandlungs- oder Verordnungskosten jene Grenze nur unwesentlich überschreiten. Auch in einem solchen Falle muß indessen die Unwirtschaftlichkeit nicht mit Beispielen begründet werden; es ist auch nicht erforderlich, ihr "genaues Ausmaß" festzustellen, was im übrigen für die Prüfungsinstanzen, soweit überhaupt möglich, in der Regel mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten verbunden wäre.

In den streitigen Quartalen haben die Verordnungskosten des Klägers nach den Feststellungen des LSG den Durchschnitt seiner Fachgruppe erheblich überschritten, nämlich in I/1969 um 53,08 % und in III/1969 um 61,42 %. Ob eine Überschreitung um 53,08 % in jedem Falle ein offensichtliches Mißverhältnis gegenüber dem Durchschnittswert bedeutet, läßt der Senat unentschieden (vgl BSGE 19, 123, 128, wo für Überschreitungen der Durchschnittsbeträge "um etwa 15 bis 40 % - dieses nur in einem Falle -" kein offensichtliches Mißverhältnis angenommen worden ist; vgl ferner die Übersicht über die einschlägige Rechtsprechung der Landessozialgerichte bei Heinemann/Liebold, Kassenarztrecht, 4. Aufl., Stand: Dezember 1976, Bd. II S. IV 61 ff). Im vorliegenden Falle erhält diese erhebliche Überschreitung des Durchschnittswertes durch den Kläger im ersten Quartal 1969 dadurch ein zusätzliches Gewicht, daß die Verordnungskosten des Klägers für 1969 im zweiten Quartal um 97,94 % und im dritten Quartal um 61,42 % über dem Durchschnitt gelegen haben, Werte, die für sich schon die Annahme eines offensichtlichen Mißverhältnisses rechtfertigen. Die Überschreitung um rd. 53 % im ersten Quartal 1969 war mithin keine Ausnahme oder eine nur vereinzelte Erscheinung. Unter diesen Umständen hat der Senat keine Bedenken, es zu bejahen, daß in der Überschreitung des Durchschnittswertes der Arzneimittelkosten um mehr als 53 % in I/1969 und - erst recht - um mehr als 61 % in III/1969 jeweils ein offensichtliches Mißverhältnis zu sehen ist.

Dann haben aber die Prüfungsinstanzen, wie das SG im Ergebnis zutreffend entschieden hat, den vom Kläger jeweils zu ersetzenden Regreßbetrag schätzen dürfen, ohne verpflichtet zu sein, diese Schätzung mit Beispielen aus der Verordnungspraxis des Klägers oder sonstigen "besonderen" Feststellungen über den genauen Umfang der Unwirtschaftlichkeit näher zu belegen. Im übrigen hat die Beklagte im Verwaltungsverfahren eine Reihe von Einzelfällen herangezogen und dabei die schon aus dem Kostenvergleich gewonnene Vermutung der Unwirtschaftlichkeit bestätigt gefunden. Auf die Revision der Beklagten und der Beigeladenen hat der Senat hiernach das Urteil des LSG aufgehoben, soweit es den Arzneikostenregreß für die Quartale I und III 1969 betrifft, und hat insoweit die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen.

Über die Kosten ist nach § 193 SGG entschieden worden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654790

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