Leitsatz (amtlich)
Nicht Selbständiger im Sinne von AVAVG § 75 Abs 3 S 1 ist ein Arbeitsloser, der während seiner Arbeitslosigkeit gerade erst ein kleines landwirtschaftliches Anwesen von 1 Hektar übernommen hat, das noch keine oder nur geringe Erträgnisse abwirft.
Leitsatz (redaktionell)
1. Die vom BSG zu AVAVG aF § 87a aufgestellten Grundsätze zum Begriff des selbständigen Gewerbetreibenden und zur Arbeitslosigkeit der sogenannten Doppelberufler gelten nicht für AVAVG § 75 Abs 3 nF.
2. Bei der Anwendung des AVAVG § 75 Abs 3 nF spielt der Ertrag und der Umfang der selbständigen Tätigkeit nur in den Fällen des Abs 3 S 2, nicht aber in den Fällen des Abs 3 S 1 eine Rolle. Nicht jede Art einer selbständigen Betätigung hat schon die Eigenschaft eines "Selbständigen" iS des AVAVG § 75 Abs 3 S 1 nF zur Folge.
Normenkette
AVAVG § 75 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1957-04-03, § 87a Fassung: 1927-07-16, § 75 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts München vom 9. Januar 1959 wird wie folgt abgeändert:
Die Bescheide der Beklagten vom 9. April 1958 und 9. Mai 1958 werden aufgehoben.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Das Arbeitsamt Bayreuth bewilligte dem Kläger am 20. Dezember 1957 für 78 Tage Arbeitslosengeld (Alg), beginnend mit dem 18. Dezember 1957. Am 17. Februar 1958 meldete sich der Kläger beim Arbeitsamt I... arbeitslos und beantragte Alg. Der Direktor des Arbeitsamts B... erklärte durch Verfügung vom 17. März 1958 dieses Arbeitsamt für zuständig. Das Arbeitsamt I... lehnte den Antrag am 9. April 1958 mit der Begründung ab, der Kläger habe am 15. Februar 1958 ein landwirtschaftliches Anwesen übernommen, sei dadurch selbständig geworden und gelte nach § 75 Abs. 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) nicht als arbeitslos. In seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, das Anwesen bestehe nur aus einem baufälligen Wohnhaus, Stall, Stadel sowie aus drei Tagewerken Land; er habe kein Großvieh, sondern nur zwei Ziegen. Der Widerspruch wurde am 9. Mai 1958 zurückgewiesen. Seit dem 7. April 1958 ist der Kläger wieder als Maurer tätig.
Auf die Klage hin hob das Sozialgericht (SG) die Bescheide des Arbeitsamtes auf und verurteilte die Beklagte dem Grunde nach, dem Kläger Alg für die Zeit vom 17. Februar bis 18. März 1958 und Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 19. März bis 7. April 1958 nachzuzahlen. Zur Begründung führte es aus, der Kläger sei zwar als Landwirt selbständig. Von einer selbständigen Tätigkeit im Sinne des § 75 Abs. 3 AVAVG könne aber nur gesprochen werden, wenn der Betreffende einen selbständigen Betrieb habe, der nach allgemeiner Anschauung Lebensgrundlage zu sein pflege. Hiervon könne aber bei einem landwirtschaftlichen Besitz von drei Tagewerken ohne Großvieh, mit nur zwei Ziegen, baufälligen Gebäuden sowie verwahrlostem Boden nicht die Rede sein. Die Tätigkeit als Landwirt sei nur insoweit von Bedeutung, als eine Anrechnung des Einkommens auf das Alg nach § 95 AVAVG stattzufinden habe. Das SG ließ die Berufung zu.
Gegen das am 23. Januar 1959 zugestellte Urteil legte die Beklagte unter Beifügung einer Einverständniserklärung des Klägers am 20. Februar 1959 Sprungrevision ein und begründete sie am 20. März 1959.
Sie trägt vor, der Kläger gelte nach § 75 Abs. 3 AVAVG nicht als arbeitslos, da er die selbständige Tätigkeit erst nach Eintritt der Arbeitslosigkeit aufgenommen habe. Auf § 75 Abs. 3 Satz 2 AVAVG könne er sich nicht berufen, weil nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes diese Vorschrift nur dann zum Zuge komme, wenn die selbständige Tätigkeit schon vor Verlust der unselbständigen Beschäftigung ausgeübt worden sei. Eine Landwirtschaft sei eine selbständige Tätigkeit, auf den Umfang und den Ertrag komme es nicht an. Daher sei es ohne Bedeutung, ob sie ein Voll- oder ein Nebenhergewerbe darstelle. Dies ergebe sich schon daraus, daß selbst in den Fällen des Satzes 2 die Arbeitslosigkeit schon dann ausgeschlossen sei, wenn der Umfang der Arbeit 18 Stunden wöchentlich überschreite oder das Einkommen über 15, - DM liege. So würde schon bei einem wöchentlichen Einkommen von 16,- DM Arbeitslosigkeit zu verneinen sein; eine selbständige Tätigkeit mit einem solchen Einkommen könne aber keine Lebensgrundlage darstellen.
Die Beklagte, beantragt,
das Urteil des SG München vom 9. Januar 1959 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat seine Klage zurückgenommen, soweit er Alhi begehrt hatte. Er beantragt,
die Bescheide vom 9. April und 9. Mai 1958 aufzuheben und insoweit die Revision zurückzuweisen.
II.
Die nach § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Sprungrevision ist nicht begründet, weil das SG mit Recht angenommen hat, der Kläger sei trotz des Betriebes seiner kleinen Landwirtschaft kein Selbständiger und habe deshalb Anspruch auf Alg.
Zunächst bestehen keine durchgreifenden Bedenken dagegen, daß der Kläger Aufhebung der Bescheide des Arbeitsamts I... vom 9. April und 9. Mai 1958 begehrt, durch die ihm Alg für die Zeit vom 17. Februar bis 18. März 1958 versagt worden ist, auch wenn das Arbeitsamt B... ihm bereits durch Bescheid vom 20. Dezember 1957 Alg für insgesamt 78 Wochentage, also auch für die obengenannte Zeit, bewilligt hatte. Denn der Kläger hat am 17. Februar 1958 beim Arbeitsamt I... Alg beantragt, dieses Arbeitsamt hat über diesen Antrag ablehnend entschieden. Damit ist aber der Bescheid des Arbeitsamts B..., soweit die Bewilligung, des Alg über den 16. Februar 1958 hinausgeht, stillschweigend aufgehoben und das von dort bereits bewilligte Alg wieder entzogen worden. Davon gehen auch die Beteiligten aus, so daß der Kläger ein Rechtsschutzinteresse auf Erlaß eines Bescheides über die Bewilligung oder Versagung von Alg für die strittige Zeit hat.
Nach § 75 Abs. 3 AVAVG gelten nicht als arbeitslos Selbständige ohne Rücksicht auf ihr Einkommen. Wer schon vor dem Verlust der unselbständigen Beschäftigung nebenher selbständig war, gilt als arbeitslos, wenn er nach dem Verlust der unselbständigen Beschäftigung aus seiner Tätigkeit in dem selbständigen Beruf kein über die Grenzen des § 66 Abs. 2 hinausgehendes Einkommen hat, der Umfang seiner Tätigkeit 18 Stunden wöchentlich nicht überschreitet und nach den Gesamtumständen angenommen werden kann, daß er auch künftig berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig sein will. Die Beklagte meint nun, der Kläger habe keinen Anspruch auf Alg, weil er durch die Übernahme der Landwirtschaft Selbständiger geworden sei. Dies ist jedoch hier nicht der Fall. Zu dem bisherigen Recht hatte der Senat (vgl. BSG 2, 67) ausgesprochen, als selbständiger Gewerbetreibender im Sinne des § 87a Abs. 1 Satz 1 AVAVG aF sei nur anzusehen, wer unter seinem Namen und auf seine Rechnung entweder selbst oder durch andere ein Gewerbe betreibe, das nach allgemeiner Anschauung Lebensgrundlage zu sein pflege. Soweit jedoch ein Doppelberufler offensichtlich nicht ein volles Gewerbe selbst oder durch andere betreibe, sei für die Feststellung seiner Arbeitslosigkeit entscheidend, ob er im Sinne des § 87a Abs. 2 AVAVG aF durch den Betrieb soweit gebunden sei, daß er keine anderen als geringfügige Beschäftigungen auszuüben vermöge. Diese Rechtsprechung ist zwar durch die Neufassung des § 75 Abs. 3 überholt, weil es in dessen Satz 1 nunmehr ausdrücklich heißt, daß Selbständige ohne Rücksicht auf ihr Einkommen nicht als arbeitslos gelten. Lediglich in den Fällen des Satzes 2, wenn also vor Eintritt der Arbeitslosigkeit eine unselbständige Beschäftigung nebenher ausgeübt wurdet spielt nach dem Gesetzeswortlaut der Ertrag und der Umfang der Tätigkeit eine Rolle, und diese Vorschrift ist auf den Kläger nicht anwendbar, weil er erst nach Eintritt der Arbeitslosigkeit das landwirtschaftliche Anwesen erworben hat. Der Senat ist jedoch der Auffassung, daß nicht jede Art einer selbständigen Betätigung schon die Eigenschaft eines "Selbständigen" im Sinne des § 75 Abs. 3 Satz 1 AVAVG zur Folge hat. Schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ist als selbständige Tätigkeit nur eine solche anzusehen, die sich nicht eben erst im Aufbau befindet, sondern einen gewissen Umfang hat und die Arbeitszeit des Betreffenden entsprechend in Anspruch nimmt. Eine solche Mindeststufe erfordert § 75 Abs. 3 Satz 1; nur wenn die Tätigkeit in einem solchen Grad betrieben wird, kommt es auf ihren Ertrag nicht an. Nicht Selbständiger im Sinne dieser Bestimmung ist deshalb ein Arbeitsloser, der während seiner Arbeitslosigkeit gerade erst ein kleines landwirtschaftliches Anwesen übernommen hat, das noch keine oder nur geringe Erträgnisse abwirft. Der Grundbesitz des Klägers beträgt nach den Feststellungen des SG, die von der Revision nicht angegriffen und damit nach § 163 SGG für das Bundessozialgericht bindend sind, nur drei Tagewerke (1 ha) ohne ein Stück Großvieh mit zwei bis drei Ziegen und baufälligem Gebäude sowie mit verwahrlostem Boden. Der Kläger hatte ihn soeben erworben, dazu noch im Winter, in dem es in der Landwirtschaft kaum Erträgnisse gibt.
Eine derartige Betätigung kann nicht als die eines Selbständigen angesehen werden, wie sie § 75 Abs. 3 Satz 1 AVAVG voraussetzt, zumal der Kläger seine berufsmäßige. Tätigkeit als Arbeitnehmer (Maurer) voll fortgesetzt hat. Die ablehnenden Bescheide des Arbeitsamts waren daher aufzuheben.
Der Kläger hat seinen Antrag in der Revisionsinstanz auf die Aufhebung dieser Bescheide beschränkt. Der Senat hatte daher nicht mehr zu prüfen, ob auch die übrigen Voraussetzungen für die Bewilligung des Alg gegeben sind. Vielmehr hat sich die Beklagte bereit erklärt, darüber einen neuen Bescheid zu erteilen, bei dem sie die Rechtsauffassung des Senats berücksichtigen wird.
Die Sprungrevision ist mithin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2304774 |
BSGE, 224 |