Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkennung der Verfolgteneigenschaft. aktiver Einsatz
Leitsatz (amtlich)
1. Strafvollzug in einer Militärstrafanstalt während des 2. Weltkriegs konnte zu einer militärischen Dienstverrichtung werden, wenn Tätigkeiten verrichtet wurden, die unter den Begriff des militärischen Dienstes fielen (Anschluß an BSG vom 13.10.1959 - 11/10 RV 63/57 = BSGE 10, 251 und vom 25.2.1971 - 12 RJ 388/70 = BSGE 32, 239).
2. Aktiver Einsatz iS des § 1 Abs 2 Nr 1 BEG ist nicht ausgeschlossen, weil sich ein Soldat der Teilnahme an Geiselerschießungen durch Flucht entziehen wollte.
3. Flucht zur Abwendung der Teilnahme an Geiselerschießungen ist eine "in Bekämpfung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" und "in Abwehr der Verfolgung" begangene Handlung iS von § 1 Abs 3 Nr 2 BEG.
Orientierungssatz
1. Für die Anerkennung der Verfolgteneigenschaft nach § 1 Abs 1 BEG ist erforderlich, daß der Betroffene wegen der dort genannten Gründe verfolgt wurde. Bei der Verfolgung aus Gründen politischer Gegnerschaft müssen daher die nationalsozialistischen Verfolger den Betroffenen für einen politischen Gegner gehalten haben. Es wird hingegen nicht vorausgesetzt, daß der Betroffene auch eine gegen den Nationalsozialismus gerichtete Einstellung hatte. Maßgebend ist vielmehr, wie die nationalsozialistischen Verfolger den Betroffenen beurteilten und weshalb sie gegen ihn vorgingen.
2. Der Begriff "aktiv" beinhaltet nicht die Entfaltung einer besonderen Tätigkeit, insbesondere nicht unbedingt einen kämpferischen Einsatz. Ein Unterlassen kann einen aktiven Einsatz darstellen, wenn nach nationalsozialistischer Auffassung ein Handeln erwartet wurde.
Normenkette
RVO § 1251 Abs 1 Nr 1; BEG § 1 Abs 2 Nr 1; RVO § 1251 Abs 1 Nr 4; BEG § 1 Abs 3 Nr 2; BVG § 2 Abs 1 Buchst b
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 18.09.1986; Aktenzeichen L 12 J 1961/85) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 16.04.1985; Aktenzeichen S 9 J 2459/84) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) streitig.
Der 1923 in der Ukraine geborene Kläger diente in den Jahren 1942/1943 als Hilfsfreiwilliger in der deutschen Wehrmacht. 1943 wurde er wegen Wehrkraftzersetzung und Vorbereitung der Fahnenflucht kriegsgerichtlich verurteilt. Von Juli 1943 bis Mai 1945 befand er sich daraufhin in Haft.
Im September 1968 beauftragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von EU-Rente; die Zeit von August 1942 bis Mai 1943 machte er als Ersatzzeit der Verfolgung durch den Nationalsozialismus geltend. Die Beklagte lehnte den Antrag, nachdem sie die Entschädigungsakten des Bundesverwaltungsamtes beigezogen hatte, mit Bescheid vom 4. März 1969 zunächst ab. Das Bundesverwaltungsamt war bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, der Kläger sei zwangsweise in die Wehrmacht eingetreten, da er anderenfalls als Arbeiter nach Deutschland geschickt worden wäre; er habe aber gehofft fliehen zu können. Gegen die Ablehnung seines Entschädigungsantrags hatte der Kläger erfolglos vor dem Landgericht Köln geklagt.
Gegen die Ablehnung seines Rentenantrages erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Mannheim. Die Beklagte bewilligte ihm daraufhin mit Bescheid vom 10. Juni 1970 EU-Rente ab 1. September 1968, ließ aber die Zeit von August 1942 bis Mai 1945 unberücksichtigt. Im August 1973 unterbreitete sie dem Kläger ein Angebot, nach dem ua die Zeit vom 15. März 1942 bis 15. August 1943 als Ersatzzeit des militärischen Dienstes anerkannt werden sollte. Mit schriftlicher Erklärung zu den Gerichtsakten vom 4. Oktober 1973 nahm der Kläger dieses Angebot an und zog seine Klage zurück.
Im September 1983 beantragte der Kläger, die Zeit von Juli 1943 bis Mai 1945 als Ersatzzeit bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 7. März 1984 ab. Zur Begründung führte sie an, das Landgericht Köln habe festgestellt, daß der Kläger nicht zum Personenkreis des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) gehöre. Die Zeit des Aufenthaltes im Konzentrationslager von August 1943 bis Mai 1945 könne daher nicht als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) angerechnet werden. Auch handele es sich bei der verbüßten Strafhaft nicht um eine Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO.
Klage und Berufung des Klägers blieben erfolglos (Urteil des SG Mannheim vom 16. April 1985; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Baden-Württemberg vom 18. September 1986). Das LSG stützte die Zurückweisung der Berufung darauf, daß die Beklagte zu Recht eine Rücknahme nach § 44 Abs 1 des Sozialgesetzbuches-Verwaltungsverfahren (SGB 10) abgelehnt habe. Die Entscheidung, die geltend gemachte Zeit von Juli 1943 bis Mai 1945 nicht als Ersatzzeit gemäß § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO anzuerkennen, sei richtig gewesen. Der Kläger habe seine Verfolgteneigenschaft iS des § 1 BEG nicht nachgewiesen. Seine Verurteilung sei nicht aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus den anderen in § 1 Abs 1 BEG genannten Gründen erfolgt, sondern aus Gründen der Erhaltung militärischer Disziplin. Es komme auf die Beweggründe der Verfolgungsstellen an. Dagegen sei es unerheblich, weshalb der Kläger die Wehrkraftzersetzung oder Fahnenflucht geplant habe. Der Vollzug der Strafe sei auch nicht über das normale Maß hinausgegangen oder durch Verfolgungsgründe erschwert worden; die Behauptung des Klägers, an ihm seien medizinische Versuche unternommen worden, und er sei im Konzentrationslager Buchenwald gewesen, sei nicht erwiesen. Der Ausnahmetatbestand des § 1 Abs 2 Nr 1 BEG sei nicht erfüllt; denn selbst wenn man von der Richtigkeit der nicht bewiesenen Behauptung des Klägers ausgehe, er habe die Flucht geplant, um nicht an Geiselerschießungen russischer Frauen und Kinder teilnehmen zu müssen, könne darin kein aktiver Einsatz iS dieser Vorschrift gesehen werden. Mangels aktiven Einsatzes sei auch nicht § 1 Abs 3 Nr 2 BEG anzuwenden. Da der Kriegsdienst selbst keine Verfolgungsmaßnahme dargestellt habe, komme die 2. Alternative der Vorschrift ebenfalls nicht in Betracht. Der Vortrag des Klägers sei somit insgesamt unschlüssig, so daß die Vernehmung eines von ihm benannten, in der Sowjetunion lebenden Zeugen nicht notwendig sei. Zudem sei der Zeuge, der ebenfalls in der Wehrmacht gedient habe, nach Auskunft der deutschen Botschaft in Moskau durch eine Vernehmung der Gefahr einer rechtsstaatswidrigen Verfolgung oder eines Schadens im sozialen Umfeld ausgesetzt; er sei daher unerreichbar bzw seine Vernehmung unverhältnismäßig. Schließlich könne die geltend gemachte Zeit der Strafhaft auch nicht gemäß § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO als Ersatzzeit anerkannt werden.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen und formellen Rechts.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. September 1986 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 7. März 1984 zu verurteilen, ihm eine höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Berücksichtigung der Zeit von Juli 1943 bis Mai 1945 als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die kraft Zulassung durch den Senat statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision ist in dem Sinn begründet, daß das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom Berufungsgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen lassen eine abschließende Entscheidung nicht zu.
Zutreffend ist das LSG auch davon ausgegangen, daß der Antrag des Klägers vom September 1983 ein Neufeststellungsbegehren iS des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 darstellt. Dabei kann offen bleiben, ob im Hinblick auf die vergleichsweise Regelung im Vorprozeß eine teilweise Rücknahme des den Vergleich ausführenden Bescheides allgemein zulässig wäre (vgl Hauck/Haines Sozialgesetzbuch, SGB X/1, 2, Anm 13 zu K § 44). Die Beklagte hat hier jedenfalls den zweiten Antrag des Klägers vom September 1983, wie die Begründung ihres ablehnenden Bescheids zeigt, inhaltlich neu überprüft, ohne sich auf die vergleichsweise Erledigung im Vorprozeß zu berufen, und hat damit eine neue, eigenständig anfechtbare Entscheidung getroffen.
Das LSG hat aber verkannt, daß im Falle des Klägers möglicherweise das Recht unrichtig angewendet worden ist und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Es ist bei hinreichender entsprechender Tatsachenermittlung nicht ausgeschlossen, daß die streitige Zeit als Ersatzzeit iS des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO oder des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO anzuerkennen ist.
Nach § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten ua Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes iS der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) angerechnet, der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist. Militärischer Dienst ist jeder nach deutschem Wehrrecht geleistete Dienst als Soldat oder Wehrmachtsbeamter (§ 2 Abs 1 Buchst a BVG; vgl zB BSGE 10, 251, 253; BSG SozR 2200 § 1251 RVO Nrn 105, 113, 114). Der Wehrdienst war nicht ipso iure mit dem Beginn einer Strafverbüßung beendigt. Nur bestimmte Strafen hatten nach den Vorschriften des Wehrrechts das Erlöschen des Wehrdienstverhältnisses zur Folge: Nach § 32 Nr 1 des Militärgesetzbuches idF vom 10. Oktober 1940 (RGBl I S. 1348) war mit dem Verlust der Wehrwürdigkeit das Ausscheiden aus jedem Wehrdienstverhältnis verbunden; sonst schieden Soldaten nach § 23 Abs 1 des Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935 (RGBl I S. 609) aus dem aktiven Wehrdienst bloß aus, wenn wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat auf Gefängnis von mehr als einem Jahr oder auf Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter erkannt worden war (vgl BSGE 10, 251, 253). Allerdings war der Soldat während einer Strafhaft - parallel zu einem Urlaub - grundsätzlich vorübergehend vom Dienst entbunden. Der Strafvollzug in einer Militärstrafanstalt war selbst nicht militärische Dienstverrichtung, er diente in der Regel nicht militärischen Zwecken. Er konnte es aber dadurch werden, daß während des Strafvollzugs Tätigkeiten verrichtet wurden, die unter den Begriff des militärischen Dienstes fielen; derartige Tätigkeiten waren militärische Dienstverrichtungen, auch wenn sie von Soldaten verrichtet wurden, die eine Strafe in einer Militärstrafanstalt verbüßten (vgl BSGE 10, 251, 254/255). In dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis der prinzipiellen Entbindung vom militärischen Dienst und in Sonderfällen dennoch gegebener militärischer Dienstverrichtung während des Strafvollzugs in einer Militärhaftanstalt ordnet sich die grundsätzliche Aussage des 12. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) in BSGE 32, 239, 240, auf die sich das LSG allein und zu stark verkürzt beruft, ohne weiteres ein, wonach die Zeit der Strafverbüßung keine Zeit militärischen oder militärähnlichen Dienstes iS der §§ 2 und 3 BVG sei, da hier der Beitragsausfall aus der Sphäre des Betroffenen komme und insofern für die in §1251 RVO getroffene Ersatzzeitregelung atypisch sei. Der 12. Senat hat dabei zugleich deutlich gemacht, daß Ausnahmen - etwa im Blick auf die Art und das Maß der Strafe oder die Herkunft der Bestrafung allein aus dem Status als Soldat - durchaus möglich, freilich im konkreten Fall nicht gegeben seien. Das LSG hat zu den Ausnahmen iS beider Urteile des BSG keinerlei Feststellungen getroffen. Es wird daher, um über die Klage unter dem Blickwinkel des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO entscheiden zu können, zunächst hierzu entsprechende Ermittlungen anzustellen haben.
Eine Anerkennung der strittigen Zeit als Ersatzzeit kommt auch gemäß § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO in Betracht. Danach sind ua Zeiten der Freiheitsentziehung iS des § 43 BEG als Ersatzzeiten anzurechnen, wenn der Versicherte Verfolgter iS des § 1 BEG ist. Nach den unangegriffenen und damit für den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des LSG lag beim Kläger eine Freiheitsentziehung vor. Die Entscheidung über die Klage hängt demzufolge davon ab, ob der Kläger Verfolgter iS des § 1 BEG ist. Zu Recht hat das LSG ausgeführt, daß es bei dieser Frage nicht darauf ankommt, ob die Entschädigungsbehörde eine Entschädigung abgelehnt hat. Denn im Rentenverfahren ist über die Verfolgteneigenschaft ohne Bindung an die Entscheidung der Entschädigungsbehörde zu befinden (BSG SozR Nr 20 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nr 95; Urteil des erkennenden Senats vom 25. Juni 1987 - 5b RJ 30/86 = VdK-Mitteilungen 1987 Nr 10 S. 24). Nicht in vollem Umfang zutreffend ist aber die Auslegung des Begriffs des Verfolgten iS des § 1 BEG durch das LSG, wobei das Berufungsgericht mit der Entscheidung des BSG vom 30. April 1982 (SozR 2200 § 1251 Nr 95) zutreffend davon ausgegangen ist, daß § 1251 Abs 1 Nr 4 auf den gesamten § 1 BEG verweist, also auch auf die Fälle, in denen der Versicherte einem Verfolgten iS des Abs 1 der Vorschrift gleichgestellt wird (Abs 2) oder in denen der Versicherte als Verfolgter gilt (Abs 3).
Soweit das LSG die Verfolgteneigenschaft nach § 1 Abs 1 BEG verneint hat, ist seine Entscheidung nicht zu beanstanden. Gemäß dieser Vorschrift ist Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus anderen dort genannten Gründen verfolgt worden ist und hierdurch zB Schaden an seiner Freiheit erlitten hat. Nach den Feststellungen des LSG erfolgte die kriegsgerichtliche Verurteilung des Klägers wegen Wehrkraftzersetzung und Vorbereitung der Fahnenflucht. Hieraus hat es den Schluß gezogen, daß die Verurteilung nicht aus den in § 1 Abs 1 BEG genannten Gründen, insbesondere der politischen Gegnerschaft, erfolgte, sondern aus Gründen der Erhaltung militärischer Disziplin. Gegen eine derartige Folgerung ist nichts einzuwenden. Für die Anerkennung der Verfolgteneigenschaft nach § 1 Abs 1 BEG ist erforderlich, daß der Betroffene gerade wegen der dort genannten Gründe verfolgt wurde. Bei der Verfolgung aus Gründen politischer Gegnerschaft müssen daher die nationalsozialistischen Verfolger den Betroffenen für einen politischen Gegner gehalten haben. Es wird hingegen nicht vorausgesetzt, daß der Betroffene auch eine gegen den Nationalsozialismus gerichtete Einstellung hatte. Maßgebend ist vielmehr, wie die nationalsozialistischen Verfolger den Betroffenen beurteilten und weshalb sie gegen ihn vorgingen (Brunn ua, Das Bundesentschädigungsgesetz 1. Teil 1981 S 12; Blessin-Giessler, Bundesentschädigungsgesetz, 1967 § 1 S 222; Brunn-Hebenstreit, Bundesentschädigungsgesetz, 1965, § 1 RdNrn 1, 4; Blessin-Ehrig-Wilden, Bundesentschädigungsgesetz, 3. Aufl 1960 § 1 RdNr 5). Diese Auslegung entspricht dem Willen des Gesetzgebers, der - wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt - eine so weitgehend wie nur mögliche Objektivierung des Tatbestandes erreichen wollte. Daher wurde der ursprüngliche Begriff der "politischen Überzeugung" durch den Begriff der "politischen Gegnerschaft" ersetzt, um klar zum Ausdruck zu bringen, daß in erster Linie darauf abzustellen ist, daß der nationalsozialistische Staat den Betroffenen als politischen Gegner verfolgt hat (BT-Drucks II/1949 zu § 1 S 85, 86; BT-Drucks II/2382 zu § 1 S 2, 3).
Allerdings brauchte eine Verfolgungsmaßnahme nicht ausschließlich auf den in §1 Abs 1 BEG genannten Gründen zu beruhen. Eine kriegsgerichtliche Verurteilung wegen Wehrkraftzersetzung und Vorbereitung zur Fahnenflucht konnte daher eine Verfolgungsmaßnahme darstellen, wenn sie nicht nur aus Gründen der Erhaltung militärischer Disziplin erfolgte, sondern daneben auch die in § 1 Abs 1 BEG genannten Gründe für die Verurteilung mitursächlich waren (Bundesgerichtshof -BGH- RzW 1975, 264; Brunn ua aaO S 9, 10). Das wäre der Fall, wenn die Wehrkraftzersetzung und die geplante Fahnenflucht aus einer gegen den Nationalsozialismus gerichteten Gesinnung begangen wurden, die nationalsozialistischen Verfolger das erkannt hätten und daher eine besonders harte Strafe verhängt worden wäre (Brunn-Hebenstreit § 1 RdNr 6; BSGE 32, 239, 240). Nach den Feststellungen des LSG wurde der Kläger aber für die damaligen Verhältnisse noch relativ milde bestraft.
Der Aufenthalt im Konzentrationslager, wie vom Kläger vorgetragen, spricht für sich allein ebenfalls nicht für eine politische Verfolgung. Denn in solchen Lagern befanden sich auch Personen, die dorthin aus unpolitischen Gründen eingeliefert wurden. Daher ist nur der Aufenthalt von Verfolgten iS des § 1 BEG in Konzentrationslagern eine Ersatzzeit (BSG SozR 2200 § 1251 Nr 14; erkennender Senat Urteil vom 25. Juni 1987 - 5b RJ 30/86 = VdK-Mitteilung 1987 Nr 10 S 24).
Nicht zugestimmt werden kann dem LSG dagegen, soweit es die in § 1 Abs 2 Nr 1 und Abs 3 Nr 2 BEG beschriebenen Alternativen wegen eines fehlenden aktiven Einsatzes abgelehnt hat.
Gemäß § 1 Abs 2 Nr 1 BEG wird dem Verfolgten iS des Abs 1 gleichgestellt, wer durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist, weil er sich aufgrund eigener Gewissensentscheidung und unter Gefährdung seiner Person aktiv gegen die Mißachtung der Menschenwürde oder gegen die sittlich, auch durch den Krieg nicht gerechtfertigte Vernichtung von Menschenleben einsetzte. Der Kläger trägt vor, er sei nicht freiwillig in die Wehrmacht eingetreten und habe von Anfang an beabsichtigt, sich bei entsprechender Gelegenheit abzusetzen. Zur Flucht habe er sich entschlossen, als er an der Erschießung russischer Frauen und Kinder teilnehmen sollte. Unterstellt man einmal die Richtigkeit dieser Behauptungen, so setzte sich der Kläger iS des § 1 Abs 2 Nr 1 BEG aufgrund eigener Gewissensentscheidung gegen die Mißachtung der Menschenwürde und die Vernichtung von Menschenleben ein. Im Gegensatz zur Auffassung des LSG ist ein aktiver Einsatz iS der Vorschrift nicht ausgeschlossen, weil sich der Kläger der Teilnahme an den Geiselerschießungen durch Flucht entziehen wollte. Bereits in einer früheren Entscheidung hat der erkennende Senat im Falle eines von seinem Arbeitsplatz geflohenen polnischen Zwangsarbeiters entschieden, daß in diesem Verhalten eine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und damit ein Verfolgungstatbestand liegen kann (BSG Urteil vom 25. Juni 1987 - 5b RJ 30/86 = VdK-Mitteilung 1987 Nr 10 S 24). Eine Flucht ist schon als äußeres Geschehen kein bloß passives Verhalten, sondern ein - mitunter sogar sehr - aktives Handeln. In Fällen wie dem des Klägers griff sie darüber hinaus unmittelbar gestaltend in andere Lebensverhältnisse insofern ein, als sie eine Erschwerung der geplanten Erschießungen bewirkte. Denn für Erschießungen waren nicht nur Waffen und Munition notwendig, sondern auch Soldaten, die diese Waffen bedienten. Die Flucht von Soldaten hatte somit die gleiche Folge, wie wenn die Waffen oder die Munition unbrauchbar gemacht worden wären. Hinzu kommt, daß auch andere Soldaten zu einem ähnlichen Verhalten hätten veranlaßt werden können. So ist aus der Sitzungsniederschrift vom 18. September 1986 des LSG zu entnehmen, daß der Kläger erklärte, er sei als Unteroffizier Gruppenführer gewesen und habe mit anderen Kameraden die Flucht geplant. Unter solchen Umständen kann ein aktiver Einsatz im Ergebnis nicht verneint werden. Diese Auslegung entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, wonach der Begriff "aktiv" nicht die Entfaltung einer besonderen Tätigkeit, insbesondere nicht unbedingt einen kämpferischen Einsatz beinhaltet (BT-Drucks II/2382 zu § 1 S 3).
Selbst wenn man den Schwerpunkt der Handlung darin sähe, daß es der Kläger nur unterlassen habe, an den Erschießungen teilzunehmen, kann ein aktiver Einsatz bejaht werden. Ein Unterlassen kann nämlich einen aktiven Einsatz darstellen, wenn nach nationalsozialistischer Auffassung ein Handeln erwartet wurde (Blessin-Ehrig-Wilden aaO § 1 RdNr 43). So wurde bei einem Kommandanten einer Volkssturmeinheit ein aktiver Einsatz und damit die Verfolgteneigenschaft iS des § 1 Abs 2 Nr 1 BEG bejaht, der einen militärisch bedeutungslosen Ort nicht verteidigen ließ, damit unsinniges Blutvergießen vermied und wegen Befehlsverweigerung hingerichtet wurde (BGH RzW 1957, 116, 117).
Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob durch die Flucht die Erschießung von Geiseln tatsächlich erschwert oder verhindert wurde. Die Widerstandshandlung setzt nach dem Willen des Gesetzgebers nur eine sittliche Entscheidung voraus. Es kommt hingegen nicht darauf an, ob der aus Überzeugung geleistete Widerstand bestimmte Erfolgsaussichten hatte (BT-Drucks IV/3423 zu Art I § 1 S 2). Widerstand ist auch dann als Verdienst anzusehen, wenn er das Unrecht weder beseitigen noch wesentlich mildern konnte (BGH RzW 68, 304, 305; 66, 410; aA noch BGH RzW 62, 68, 69). Ferner ist es unerheblich, ob es sich um spezifisch nationalsozialistisches Unrecht handelte (BGH RzW 68, 304, 306), oder ob auch andere kriegführende Nationen gleiches oder ähnliches Unrecht begingen.
Die Verfolgteneigenschaft kann zwar auszuschließen sein, wenn lediglich eine Widersetzung gegen eine Anordnung der deutschen Besatzungsmacht vorlag (BGH RzW 67, 211) oder wenn der Betroffene allein wegen seiner Nationalität verfolgt wurde (BSG SozR 2200 § 1251 Nr 14). Nach dem Vortrag des Klägers kommt dies aber nicht in Betracht, da er sich aktiv gegen den Nationalsozialismus einsetzte und seine Nationalität für die Strafverfolgungsbehörden unerheblich war.
Allerdings setzt die Anwendung des § 1 Abs 2 Nr 1 BEG voraus, daß der Betroffene wegen der dort genannten Gründe verfolgt wurde. Die nationalsozialistischen Verfolger müßten daher gewußt haben, daß der Kläger die Flucht plante, um nicht an den Erschießungen teilzunehmen und sie durch seine Flucht zu erschweren. Ob die Strafverfolgungsbehörden die Beweggründe des Klägers kannten und bei der Strafzumessung berücksichtigten, kann indes hier offen bleiben. Sofern nämlich seine Motive unerkannt blieben, kommt auf jeden Fall die Ausnahmeregelung des § 1 Abs 3 Nr 2 BEG zur Anwendung.
Nach dieser Vorschrift gilt als Verfolgter iS des Abs 1 zum einen auch der Geschädigte, der eine ihm zur Last gelegte Handlung in Bekämpfung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft oder in Abwehr der Verfolgung beging, aber den Beweggrund dieser Handlung verbergen konnte. Es werden Widerstandshandlungen erfaßt, bei denen es gelang, den Zweck der Handlung zu verschleiern, um mit einer normalen Strafe davonzukommen. Die Bestrafung wegen einer solchen Widerstandshandlung stellt eine politische Verfolgung iS der Ersatzzeitregelung dar, wobei die zur Last gelegte Handlung auch in der Begehung einer unpolitischen Straftat liegen kann (BSG SozR 2200 § 1251 Nr 95 S 255). Es genügt, daß auf seiten des Geschädigten ein Beweggrund gegeben war, der den in § 1 Abs 1 oder Abs 2 Nr 1 oder Nr 2 BEG genannten Verfolgungsgründen entspricht (BGH RzW 1959, 21; Brunn ua aaO S 30; Blessin-Ehrig-Wilden aaO § 1 RdNr 56). Nach dem Vortrag des Klägers sind die Voraussetzungen des Verfolgungsgrundes gemäß § 1 Abs 2 Nr 1 BEG erfüllt. Die geplante Flucht bedeutet einen aktiven Einsatz und daher ein Bekämpfen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Zum anderen gilt nach § 1 Abs 3 Nr 2 BEG als Verfolgter, wer eine ihm angelastete Handlung in Abwehr der Verfolgung beging. Hierbei kann offenbleiben, ob der Kriegsdienst als solcher, wie vom LSG angenommen, keine Verfolgungsmaßnahme ist. Bei der Weigerung des Klägers, an den Erschießungen teilzunehmen, wären seine Motive offensichtlich geworden und er hätte uU mit einer strengen Bestrafung rechnen müssen. Dies stellt eine drohende Verfolgung dar. Ferner bezog sich die Abwehr der Verfolgung auf die Geiseln, deren drohende Erschießung erschwert bzw verhindert werden sollte. Die Abwehrhandlung muß nicht eine eigene Verfolgung betreffen. Es genügt, wenn eine nationalsozialistische Unrechtsmaßnahme von anderen abgewendet werden sollte (BGH RzW 1959, 251; Blessin-Giessler aaO § 1 S 229; Brunn-Hebenstreit aaO § 1 RdNr 19).
Nach allem kann der Auffassung des LSG, der Vortrag des Klägers sei hinsichtlich § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO iVm § 1 BEG unschlüssig, nicht gefolgt werden. Wenn die Behauptungen des Klägers der Wahrheit entsprechen, ist er als Verfolgter gemäß § 1 BEG anzuerkennen und der strittige Zeitraum als Ersatzzeit gemäß § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO anzurechnen. Das Urteil des LSG kann daher keinen Bestand haben, der Sachverhalt muß noch weiter aufgeklärt werden. Soweit das LSG die Vernehmung des vom Kläger benannten, in der Sowjetunion wohnenden Zeugen unter den gegebenen Umständen als unzulässig bzw unverhältnismäßig angesehen hat, ist die Entscheidung nicht zu beanstanden. Es kann jedoch versucht werden, eine schriftliche Äußerung des Zeugen zu erlangen. Bei seiner Unerreichbarkeit besteht nämlich die Möglichkeit, eine etwaige schriftliche Äußerung des Zeugen urkundenbeweislich zu verwerten (BGH NJW 1984, 2039; Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 43. Aufl 1985 § 363 Anm 1). Die Verwertung von Privaturkunden ist im geltenden Verfahrensrecht gemäß § 416 der Zivilprozeßordnung iVm § 118 Abs 1 SGG ausdrücklich vorgesehen. Ferner muß festgestellt werden, ob noch andere Zeugen ermittelt werden können. Auch ist denkbar, daß die Entschädigungsakten des Bundesverwaltungsamtes die Angaben des Klägers bestätigen oder daß sich aus diesen Akten weitere Beweismittel ergeben.
Inwieweit die vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen durchgreifen, kann offenbleiben. Da die Revision materiell begründet ist, muß der Rechtsstreit schon deshalb an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen