Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 10.05.1961) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz von 10. Mai 1961 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten um die Zulässigkeit der von der Beklagten und der beigeladenen Landesversicherungsanstalt gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegten Berufungen. In dem Urteil des Sozialgerichts von 18. März 1960 wurde die Beklagte unter Aufhebung ihrer ablehnenden Bescheide von 12. Juli 1948 und 15. April 1958 verurteilt, den Kläger von 1. Dezember 1947 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Hiergegen legten beide Versicherungsträger Berufung ein. Bei erneuter Prüfung hielt die Beklagte den Anspruch für die Zeit von August 1956 an für begründet; infolgedessen setzte sie durch einen neuen Bescheid von 3. November 1960 die Rente für diese Zeit fest und beschränkte die Berufung auf die vorhergehende Zeit (Dezember 1947 bis Juli 1956). Dem schloß sich die Beigeladene an.
Das Landessozialgericht (LSG) gab den Berufungen statt. Es hielt sie trotz ihrer nachträglichen Beschränkung auf einen bereits abgelaufenen Zeitraum (§ 146 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –) für statthaft. Maßgebend für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels sei die Zeit seiner Einlegung. Spätere Verminderungen des Beschwerdegegenstandes seien nur erheblich, wenn sie auf Willkür beruhten. Willkürlich hätte aber weder die Beigeladene noch die Beklagte gehandelt, obwohl diese, ohne daß sich die bei der Bescheiderteilung am 15. April 1958 vorliegenden Verhältnisse in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht geändert hätten, durch ihr eigenes Verhalten, nämlich durch den neuen Bescheid von 3. November 1960, die Beschränkung der Rechtsmittel herbeigeführt habe. Dieser Bescheid sei auf Grund einer neuen Prüfung der Sach- und Rechtslage ergangen, bei der sich die Beklagte von der teilweisen Begründetheit des Anspruchs überzeugt habe. In Interesse des Klägers – auf Grund ihrer Fürsorgepflicht – habe sie daraufhin den Anspruch, in diesen Umfang anerkannt und die Berufung auf die vorhergehende Zeit beschränkt. Es sei unerheblich, ob sie das schon vor oder bei der Berufungseinlegung hätte tun können. Dafür, daß sie den ursprünglichen Berufungsantrag nur gestellt habe, um den Ausschließungsgrund des § 146 SGG zu umgehen, fehle jeder Anhalt.
Der Kläger legte die vom LSG zugelassene Revision ein mit dem Antrag,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufungen als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Nach seiner Ansicht hat das LSG die Berufungen zu Unrecht für statthaft erachtet.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragten, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten waren damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entschied.
Die Revision des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. Das LSG hat zu Recht die Zulässigkeit der Berufungen bejaht. Als sie eingelegt wurden, betrafen sie den Anspruch auf eine zeitlich unbegrenzte Rente. Durch die spätere Beschränkung auf einen abgelaufenen Zeitraum sind sie nicht nach § 146 SGG unstatthaft geworden.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (SozR SGG § 146 Da 3 Nr. 6, Da 4 Nr. 8; BSG 16, 134, 135) – die mit der Rechtsprechung der Zivilgerichte übereinstimmt (RG 168, 355; BGH 1, 29; NJW 1951, 274) – richtet sich die Zulässigkeit eines Rechtsmittels regelmäßig nach dem Zeitpunkt seiner Einlegung. Spätere Verminderungen der Beschwer sind nur dann von Bedeutung, wenn sie auf einer willkürlichen Beschränkung des Rechtsmittels beruhen. Diese Ausnahme ist nötig, um einer Umgehung der Voraussetzungen für die Statthaftigkeit des Rechtsmittels vorzubeugen, und gerechtfertigt, weil ein Rechtsmittelkläger, der seine Beschwer erst später freiwillig vermindert, keine günstigere Behandlung verlangen darf als der, der das Rechtsmittel schon bei der Einlegung beschränkt.
Auf Grund seiner tatsächlichen Feststellungen – gegen die keine Revisionsgründe vorgebracht und die somit bindend sind (§ 163 SGG) – hat das LSG zutreffend angenommen, daß weder die Beklagte noch die Beigeladene die Berufungen willkürlich, d. h. aus freiem Belieben, eingeschränkt haben. In dem Verhalten der Beigeladenen liegt schon deshalb keine solche Willkür, weil sie nur die für sie zwangsläufigen Folgerungen aus dem Verhalten eines anderen Prozeßbeteiligten, nämlich dem der Beklagten, gezogen hat. Denn nach dem Erlaß des Bescheids vom 3. November 1960 hat die Beigeladene ihr ursprüngliches Berufungsbegehren für die Zeit von August 1996 an sinnvollerweise nicht mehr aufrechterhalten können.
Bei der Beklagten läßt sich eine Willkür nicht schon mit dem Hinweis verneinen, daß sie ihre Prozeßanträge ebenfalls nur der durch ihren neuen Verwaltungsakt geschaffenen Lage angepaßt habe. Denn auch wer freiwillig seine Beschwer durch ein außerprozessuales Verhalten vermindert und sich alsdann zur Einschränkung seiner Rechtsmittelanträge genötigt sieht, muß sich dies bei der Prüfung der Zulässigkeit seines Rechtsmittels entgegenhalten lassen (BGH, NJW 1951, 274). Bei der Beklagten kommt es deshalb mit darauf an, ob der neue Verwaltungsakt seinerseits Ausfluß eines freien Beliebens gewesen ist. Das hat das LSG zu Recht verneint. Der Bescheid vom 3. November 1960 war das Ergebnis einer Überprüfung der Sach- und Rechtslage, bei der die Beklagte die teilweise Begründetheit des Anspruchs erkannt hat. Überzeugt sich aber ein Versicherungsträger bei einer erneuten Überprüfung, daß er eine Leistung zu Unrecht (teilweise) versagt hat, so steht es nicht in seinem freien Belieben und damit in seiner Willkür, ob er nunmehr dem Leistungsbegehren (teilweise) entsprechen will, der Versicherungsträger ist vielmehr dazu verpflichtet (§§ 1300 RVO, 79 AVG). Diese Pflicht trifft ihn ohne Rücksicht darauf, ob der ablehnende Bescheid schon bindend, noch anfechtbar oder bereits angefochten ist oder ob sich die Verhältnisse seit seinem Erlaß geändert haben.
Der Ausschluß einer die Zulässigkeit des Rechtsmittels beeinflussenden Willkür verlangt allerdings noch, daß die zur Beschränkung führenden Umstände erst nach der Einlegung des Rechtsmittels eingetreten oder dem Rechtsmittelkläger erkennbar geworden sind. Auch das ist hier der Fall. Denn die Beklagte hat die in Rede stehende Überprüfung erst nach der Berufungseinlegung vorgenommen und sich damit ihre dem Bescheid vom 3. November 1960 zugrunde liegende und für die Berufungsbeschränkung ausschlaggebende Überzeugung erst nach diesem Zeitpunkt gebildet. Ob sie dieselbe Überzeugung schon früher hätte gewinnen können, ist unerheblich. Darauf käme es allenfalls an, wenn sie die Überprüfung, um den Berufungsausschließungsgrund des § 146 SGG zu umgehen, verzögert hätte. Hierfür fehlt nach den Feststellungen des LSG jedoch jeder Anhalt.
Die Rüge einer Verletzung des Verfahrensrechts ist hiernach unbegründet. Obgleich der Kläger das angefochtene Urteil im übrigen nicht beanstandet hat, muß das Revisionsgericht, weil die Revision zulässig ist und § 559 Satz 2 der Zivilprozeßordnung im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechende Anwendung findet (BSG 3, 180, 186; RG 149, 157), dennoch das Berufungsurteil in sachlich-rechtlicher Hinsicht nachprüfen. Insoweit ist jedoch gleichfalls kein Rechtsirrtum erkennbar. Die Revision ist daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG,
Unterschriften
Penquitt, Dr. Haug, Dr. Buss
Fundstellen