Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Berufsunfähigkeit eines Versicherten, der aus Gründen der öffentlichen Sicherheit gemäß StGB § 42b in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht ist.
Orientierungssatz
Führt das Gericht im Urteilstatbestand früher erstattete ärztliche Gutachten an, ohne sich mit ihnen in den Entscheidungsgründen auseinanderzusetzen, so darf es auf einem abschließenden Bericht der den Kläger seit vielen Jahren beobachtenden Anstaltsärzten allein um so weniger aufbauen, wenn der Bericht die anderen Gutachten nicht kannte oder kennen konnte.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; StGB § 42b
Tenor
Auf die Revisionen des Klägers und des Beigeladenen wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Juli 1966 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger begehrt Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU). Zu entscheiden ist, ob der Kläger, der gemäß § 42 b des Strafgesetzbuches (StGB) auf Grund strafgerichtlicher Anordnung im Interesse der öffentlichen Sicherheit in einer Heil- und Pflegeanstalt untergebracht ist, berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ist.
Der im Jahre 1915 geborene Kläger war nach Besuch der Hilfsschule als Landarbeiter, Melker und Bauhilfsarbeiter versicherungspflichtig beschäftigt. Seit 1950 wurde er wiederholt wegen Unzucht mit Kindern, wegen schwerer Unzucht unter Männern und wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses mit Gefängnis und Zuchthaus bestraft. Durch Urteil vom 18. Dezember 1957 wurde gemäß § 42 b StGB seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt angeordnet. Er befindet sich seit dem 22. Juli 1960 in dem Rheinischen Landeskrankenhaus B. Im März 1961 ist ihm für die Beantragung und Verwaltung einer Rente aus der Arbeiterrentenversicherung (ArV) ein Pfleger bestellt worden.
Den vom Pfleger im März 1961 gestellten Antrag, dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) zu gewähren, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 23. März 1962 mit der Begründung ab, die beim Kläger festgestellten Krankheitserscheinungen bedingten noch keine BU oder EU im Sinne des Gesetzes.
Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, dem Kläger vom 1. Juli 1961 an Rente wegen BU zu gewähren. Es hat die Auffassung vertreten, der Kläger könne Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt schon deswegen nicht mehr ausüben, weil er durch seine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt daran gehindert sei. Zum anderen befinde er sich aber auch in einem körperlichgeistigen Zustand, der ihn hindere, in seiner Arbeitsfähigkeit noch mehr als die Hälfte der Leistungen eines gesunden Hilfsarbeiters zu erreichen. Das SG hat sich auf von ihm eingeholte ärztliche Gutachten gestützt, die der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Landesmedizinaldirektor Dr. Sch am 12. Juni 1963 und Prof. Dr. St in Vertretung des Direktors der Universitäts-Nervenklinik K zusammen mit Dr. H am 22. Dezember 1964 erstattet haben.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; es hat die Revision zugelassen. Das LSG hat von dem Landesobermedizinalrat Dr. H und der Landesobermedizinalrätin Dr. K einen Bericht über den Kläger beigezogen, den diese am 19. April 1966 erstattet haben. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei nach seinem Berufsbild auf Hilfstätigkeiten verweisbar. Er könnte nach dem Bericht der Ärzte Dr. H und Dr. K vom 19. April 1966 auch heute als Hilfsarbeiter beschäftigt sein, wenn bei ihm nicht eine "charakterliche Abartigkeit und sexuelle Triebenthemmung sowie mangelnde Fähigkeit zur Selbststeuerung und Selbstbeherrschung" bestünde. Dieser regelwidrige Zustand sei eine "Krankheit" oder ein "anderes Gebrechen" im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO. Die Krankheit (das Gebrechen) sei aber nicht wesentliche Bedingung dafür, daß er nicht erwerbstätig sein könne. Die Unmöglichkeit, auf dem allgemeinen Arbeitsfeld tätig zu werden, sei nicht durch die Krankheit sondern dadurch im Rechtssinne verursacht worden, daß der Kläger im Interesse der öffentlichen Sicherheit in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht worden sei. Dieser Umstand aber könne den Versicherungsschutz nicht auslösen (das Urteil ist in Breith. 1967, 397 veröffentlicht).
Gegen das Urteil haben der Kläger und der beigeladene Landkreis Revision eingelegt. Sie rügen unrichtige Anwendung des § 1246 Abs. 2 RVO und berufen sich darauf, das LSG habe in seinem Urteil den § 1246 RVO ausgelegt, ohne die drei vorliegenden ärztlichen Gutachten zu berücksichtigen, nach denen der Kläger berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO sei. Zudem sei das LSG mit seinem Urteil von einer Entscheidung des RVA in einem gleichliegenden Fall abgewichen.
Der Kläger und der Beigeladene beantragen sinngemäß, das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 15. Juli 1966 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG in Duisburg vom 31. Mai 1965 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revisionen zurückzuweisen.
II
Die Revisionen des Klägers und des Beigeladenen sind insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
BU eines Versicherten im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO liegt dann vor, wenn seine Erwerbsfähigkeit infolge der bei ihm bestehenden Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte der Erwerbsfähigkeit eines vergleichbaren gesunden Versicherten herabgesunken ist.
Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat, sind die Ursachen der Minderung der Erwerbsfähigkeit, von denen das Gesetz in § 1246 Abs. 2 RVO die Gewährung einer Rente wegen BU abhängig macht, mit den Worten "Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte" erschöpfend aufgezählt (BSG 10, 33; BSG in SozR Nr. 11 zu § 1286 RVO), und ein Versicherter, der, ohne daß bei ihm eine der genannten Ursachen vorliegt, zu seiner eigenen Sicherheit in einer geschlossenen Abteilung eines Krankenhauses untergebracht werden muß, weil er sich mit Selbstmordgedanken trägt, ist nicht allein deswegen erwerbsunfähig, weil er während und infolge seiner Unterbringung kein Einkommen erzielen kann (BSG 4. Sen., Urteil vom 28. Oktober 1966 in SozR Nr. 11 zu § 1286 RVO). Demnach müssen Krankheit oder Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte die wesentliche Bedingung für die Minderung der Fähigkeit des Versicherten zum Erwerb sein und es genügt nicht, wenn der Versicherte aus anderen Gründen - im vorliegenden Falle: aus Gründen der öffentlichen Sicherheit - in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht worden ist und nur infolge seiner Unterbringung nicht imstande ist, durch eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsfeld die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen. In diesem Sinne hat auch schon das frühere Reichsversicherungsamt in seinem Urteil vom 13. Dezember 1916 (Entscheidungen und Mitteilungen des Reichsversicherungsamts Band 8 S. 249) entschieden, dem das LSG sich angeschlossen hat, während es mit Recht dem hiervon abweichenden Urteil des Reichsversicherungsamts vom 5. November 1940 (a. a. O. Band 47 S. 366) nicht gefolgt ist.
Andererseits steht die Unterbringung des Versicherten in einer Heil- oder Pflegeanstalt und die dadurch begründete Unmöglichkeit, auf dem freien Arbeitsfeld einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, aber der Annahme von BU im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO auch nicht entgegen. Wenn die Fähigkeit des Versicherten zum Erwerb infolge Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen und geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte der Erwerbsfähigkeit eines vergleichbaren gesunden Versicherten herabgesunken ist, ist der Versicherte auch während seiner Unterbringung berufsunfähig. Daß das Gesetz selbst hiervon ausgeht, folgt schon aus der Vorschrift des § 119 a RVO, worauf das LSG mit Recht hingewiesen hat; denn diese Vorschrift setzt als selbstverständlich voraus, daß einem Versicherten während und trotz seiner Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt je nach seinem Gesundheitszustand und seiner Fähigkeit zum Erwerb für die Zeit der Unterbringung der Anspruch auf Rente zustehen kann.
Zur Beurteilung dessen, ob hiernach der in dem Rheinischen Landeskrankenhaus Bedburg-Hau seit dem 22. Juli 1960 untergebrachte Kläger berufsunfähig ist, reichen die Feststellungen in dem angefochtenen Urteil nicht aus.
Das LSG hat zwar festgestellt, der Kläger wäre fähig, wie früher als Hilfsarbeiter tätig zu sein, wenn nicht die Unterbringung in der Anstalt gemäß § 42 b StGB hätte angeordnet werden müssen. Gegen diese Feststellung des Berufungsgerichts werden indessen von den Revisionen des Klägers und des beigeladenen Landkreises zulässige und begründete Revisionsrügen erhoben, so daß das Revisionsgericht nicht an sie gebunden ist (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Das LSG hat seine Feststellung auf Grund des Berichtes der Landesobermedizinalräte Dr. H und Dr. K vom 19. April 1966 getroffen. Auch mit dem Umstand, daß der Kläger innerhalb des Rheinischen Landkrankenhauses Bedburg-Hau mit den üblichen Hausarbeiten beschäftigt wird, hat das LSG seine Feststellung begründet. Die Revisionen rügen, das LSG habe die drei während des Verfahrens erstatteten ärztlichen Gutachten bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Sie rügen damit eine Verletzung der Vorschrift des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, die besagt, daß das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet. Das Tatsachengericht verletzt diese Verfahrensvorschrift, wenn es bei seinen Feststellungen wesentliche Ergebnisse des Verfahrens unberücksichtigt läßt. Das LSG hat zwar in dem Tatbestand des angefochtenen Urteils die von Dr. K am 30. August 1961, von Dr. Sch am 12. Juni 1963 und von Prof. Dr. St und Dr. H am 22. Dezember 1964 erstatteten Gutachten erwähnt. In den Entscheidungsgründen hat es diese Gutachten indessen nicht mehr angeführt, sich mit ihnen also nicht auseinandergesetzt. Allerdings ist das Tatsachengericht nicht gehalten, sich mit jedem Ergebnis des Verfahrens ausdrücklich in den Entscheidungsgründen zu befassen. Jedoch müssen die Entscheidungsgründe erkennen lassen, daß alle wesentlichen Ergebnisse des Verfahrens beachtet worden sind. Das ist, wie die Revisionen mit Recht rügen, aus den Gründen des angefochtenen Urteils nicht zu erkennen.
Die von den Ärzten Dr. K, Dr. Sch sowie von Prof. Dr. St zusammen mit Dr. H erstatteten ärztlichen Gutachten müssen als wesentliches Ergebnis des Verfahrens beurteilt werden, weil sie zur Klärung der Frage eingeholt worden sind und sich auch zu dieser Frage äußern, welche Krankheit oder welche anderen Gebrechen oder welche Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte beim Kläger vorliegen und ob er mit Rücksicht auf bei ihm bestehende Gesundheitsstörungen zur Verrichtung einer Erwerbstätigkeit überhaupt und zu welcher Art Erwerbstätigkeit er imstande ist. Der Sachverständige Dr. Sch hat sich in seinem Gutachten vom 12. Juni 1963 abschließend dahin geäußert, "während der Dauer der Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt, die aus ärztlicher Sicht auch nach wie vor für unbedingt notwendig gehalten werden muß, kann D. nicht in der Lage sein, in gewisser Regelmäßigkeit körperliche Arbeiten zu verrichten". Schon diese Ausführungen lassen die Deutung zu, daß der Kläger nicht nur infolge seiner Unterbringung in der Heil- und Pflegeanstalt auf dem allgemeinen Arbeitsfeld körperliche Arbeiten in gewisser Regelmäßigkeit nicht verrichten kann, sondern daß er auch infolge seiner Krankheit oder anderen Gebrechen daran gehindert ist, überhaupt einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Sachverständigen Prof. Dr. St und Dr. H haben sich in ihrem am 22. Dezember 1964 erstatteten Gutachten aber sogar dahin geäußert, "hinsichtlich seiner Arbeitsfähigkeit ist D. aber nicht nur durch seine Unterbringung im Landeskrankenhaus, sondern auch durch seinen körperlichen und geistigen Zustand behindert. Die vom Gericht an uns gestellte Frage, ob bei D. ein Gebrechen oder eine Schwäche der körperlichen und geistigen Kräfte im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO vorliegt, wird von uns bejaht". Außerdem heißt es in diesem Gutachten: "Wir halten daher D. in seinem zuletzt ausgeübten Beruf als Bauhilfsarbeiter für berufsunfähig". Nach Ansicht dieser Gutachter ist der Kläger also infolge der bei ihm bestehenden Gesundheitsbeeinträchtigungen unabhängig von seiner Unterbringung im Landeskrankenhaus nicht imstande, die Tätigkeiten eines Hilfsarbeiters in der Weise zu verrichten, daß er durch eine derartige Erwerbstätigkeit die gesetzliche Lohnhälfte verdienen kann.
Im Hinblick auf die Bedeutung der Äußerungen der Sachverständigen Dr. Sch sowie Prof. Dr. St und Dr. H hätte das LSG seine Feststellungen nicht allein auf Grund des Behandlungsberichts der Landesmedizinalräte Dr. H und Dr. K vom 19. April 1966 treffen dürfen, zumal ihnen ausweislich der Verfahrensakten des Berufungsgerichts die in dem Verfahren erstatteten ärztlichen Gutachten vor Abgabe ihres Berichtes nicht zugänglich gemacht worden sind. Zumindest hätte das LSG in den Entscheidungsgründen darlegen müssen, daß es die von dem Bericht abweichenden Beurteilungen der Sachverständigen Dr. Sch sowie Prof. Dr. St und Dr. H erkannt und bei seinen Feststellungen gebührend berücksichtigt hat. Da die Entscheidungsgründe über diese ärztlichen Gutachten aber keinerlei Ausführungen enthalten, lassen sie nicht erkennen, daß das LSG diese ärztlichen Gutachten berücksichtigt und für seine Feststellungen die Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen hat. Das LSG hat sonach in seinem Verfahren die Vorschrift des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht hinreichend beachtet.
Da darüber, ob der Kläger trotz der bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen nach seinen körperlichen und geistigen Kräften fähig ist, die Tätigkeit eines ungelernten Arbeiters (z. B. eines Landarbeiters, Melkers oder Bauhilfsarbeiters) zu verrichten und dadurch die Lohnhälfte eines Hilfsarbeiters zu verdienen, das angefochtene Urteil keine ausreichenden Feststellungen enthält, kann das Revisionsgericht in der Sache selbst nicht entscheiden. Das LSG wird die hiernach erforderlichen Feststellungen noch zu treffen haben. Aus diesen Gründen ist das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung, inwieweit die Beteiligten außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten haben, bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen