Orientierungssatz
Zur Frage der Berufsunfähigkeit eines Schiffsführers.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 9. September 1965 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Vorinstanzen haben - entgegen der Auffassung der Beklagten (Bescheid vom 13. Juni 1963) - den Kläger für berufsunfähig gehalten.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Zahlung der Berufsunfähigkeitsrente vom 1. Juli 1962 an verurteilt (Urteil vom 8. April 1964). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung des Klägers hin das erstinstanzliche Urteil dahin abgeändert, daß die Beklagte zur Gewährung von Übergangsgeld für die Zeit vom 1. Juni 1962 bis 26. März 1963 verpflichtet sei. Die Verpflichtung der Beklagten zur Rentenzahlung für die Folgezeit ist aufrechterhalten worden (Urteil vom 9. September 1965).
Das LSG hat folgende Feststellungen getroffen:
Der im Jahre 1913 geborene Kläger ist von 1927 bis 1937 als Schiffsjunge, Leichtmatrose, Bestmann und Matrose zur See gefahren. Anschließend arbeitete er bis zu seiner Einberufung zur Kriegsmarine im Jahre 1940 als Angestellter auf einem Marinearsenal und als Magazinarbeiter bei einem Marine-Sperrzeugamt. Von 1947 bis 1962 war er als Decksmann, Steuermann, Jollenführer und - zuletzt - als Schiffsführer im H Hafen beschäftigt. Der Kläger besitzt den Befähigungsnachweis zur Führung von Dampf- und Motorfahrzeugen im Hafen vor H, das Schiffspatent der Klassen I und II, das Befähigungszeugnis zum Seemotorführer und das Elbschifferzeugnis. Seine körperliche Leistungsfähigkeit ist seit Juni 1962 aufgrund eines Wirbelsäulenleidens und einer Muskellähmung im Bereich des linken Beines soweit herabgesetzt, daß er nur noch leichte Arbeiten, die nicht mit Bücken, Heben, dauerndem Stehen oder Gehen und nicht mit Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten verbunden sind, verrichten kann. - Aus diesen Feststellungen hat das LSG geschlossen, daß der Kläger berufsunfähig sei. Er könne nicht mehr Schiffsführer sein; zur Ausübung anderer zumutbarer Berufe sei er nicht fähig. Der Kläger sei einem Facharbeiter gleichzustellen. Ihm, der schon seit 1927 in der Schiffahrt beschäftigt sei, dürfe das Fehlen einer Lehre nicht zum Nachteil gereichen. Der Beruf des Binnenschiffers sei erst seit 1940 ein Lehrberuf; innerhalb der Berufsgruppe nehme der Schiffsführer eine Aufstiegsstellung ein. Daß der Kläger als Schiffsführer qualifiziert sei, ergebe sich aus seinem Arbeitsleben und seinen Befähigungszeugnissen. Für ihn kämen als Verweisungstätigkeiten diejenigen eines Reedereiinspektors, Schiffsdisponenten, Befrachters, Havarie-Kommissars und Lagerhalters in einer Schiffsausrüstungsfirma in Betracht. Diese Berufe erforderten aber geistige Fähigkeiten, über die der Kläger nicht - oder nicht mehr - verfüge. - Weil der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit im Juni 1962 eingetreten und der Rentenantrag im Juli 1962 gestellt worden sei, habe die Beklagte ihre Leistungen schon von Juni 1962 an zu erbringen (§ 1290 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), und zwar im Hinblick auf das später durchgeführte Heilverfahren nach §§ 1241 Abs. 1 Satz 1, 1242 RVO zunächst als Übergangsgeld, anschließend als Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Entscheidung hinsichtlich des Übergangsgeldes sei durch die von dem Kläger im Verhandlungstermin zu Protokoll erklärte Anschlußberufung ermöglicht worden.
Gegen dieses Urteil richtet sich die - zugelassene - Revision der Beklagten. Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 522 a der Zivilprozeßordnung (ZPO), des § 1246 Abs. 2 RVO sowie des § 103 SGG. Dazu trägt sie vor:
Die Einlegung der Anschlußberufung hätte nach § 522 a ZPO, der nach § 202 SGG auch für das sozialgerichtliche Verfahren gelte, nur durch Einreichung einer Anschlußberufungsschrift vorgenommen werden können. Die zu Protokoll des Gerichts erklärte Anschlußberufung müsse als unzulässig verworfen werden. - Der Kläger sei nicht berufsunfähig, weil er noch leichte Arbeiten verrichten und auf entsprechende Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verwiesen werden dürfe. Er stehe einem Facharbeiter nicht gleich. Aber selbst wenn er als Facharbeiter behandelt werden müsse, so habe das LSG § 1246 Abs. 2 RVO verletzt, weil nämlich eine Reihe weiterer Verweisungstätigkeiten unberücksichtigt geblieben sei. Insoweit erhebe sie die Rüge mangelnder Sachaufklärung (§ 103 SGG).
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Hamburg vom 9. September 1965 und des SG Hamburg vom 8. April 1964 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er pflichtet den Gründen des angefochtenen Urteils bei. Die Rüge der mangelnden Sachaufklärung ist seiner Auffassung nach nicht formgerecht erhoben worden.
Die Beigeladenen zu 1) und 2) beantragen ebenfalls,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladenen zu 1) und 3) weisen darauf hin, daß sie Ersatzansprüche geltend gemacht haben.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben.
Die von der Beklagten gegen die Anwendung des § 202 SGG in Verbindung mit § 522 a ZPO erhobene Rüge geht allerdings fehl. Eine unselbständige Anschlußberufung kann - wie das Bundessozialgericht (BSG) inzwischen entschieden hat (BSG 28, 31 f) - wirksam im Laufe der mündlichen Verhandlung durch Erklärung zur Niederschrift des Gerichts eingelegt werden. Auf die so erhobene Anschlußberufung des Klägers mußte das LSG demnach zur Sache entscheiden.
Die vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen rechtfertigen es jedoch für sich allein noch nicht, den Kläger als berufsunfähig anzusehen. In diesem Zusammenhang kommt es nicht allein darauf an, daß der Kläger die zuletzt vor der Antragstellung verrichtete Tätigkeit als Schiffsführer nicht mehr ausüben kann. Entscheidend ist vielmehr, welche Verweisungsmöglichkeiten im Sinne des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO bestehen. Der Kreis der hiernach für den Kläger in Betracht kommenden Tätigkeiten ist vom LSG dadurch zu eng gezogen worden, daß es in erster Linie auf die Schiffspatente abgestellt hat, die dieser erworben hat. Diese sind jedoch für sich allein noch nicht geeignet, den Kreis der Verweisungsberufe zu bestimmen. Dies hat der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 14. Januar 1969 (SozR Nr. 72 zu § 1246 RVO) klargestellt. In dieser Entscheidung ging es ebenfalls um die Bewertung der sozialen Stellung eines Hafenschiffers mit entsprechenden Patenten. Hierzu ist in dem Urteil ausgeführt worden, die Zugehörigkeit eines Versicherten zur Stufe des Gelernten, Angelernten oder Ungelernten liefere nur einen Anhalt, aber keinen ausschließlichen Maßstab für seine soziale Einschätzung. Dies ergebe sich aus der Vielgestaltigkeit des Arbeits-, Wirtschafts- und Soziallebens der heutigen Zeit, die sich weitgehend einer schematisierenden Behandlung entziehe. Die soziale Angemessenheit einer Erwerbstätigkeit hänge allenfalls zum Teil von der Dauer und dem Umfang einer Ausbildung ab. Demgemäß dürften Befähigungszeugnisse nicht überbewertet werden. Wie hoch das Wissen und Können eines Versicherten zu veranschlagen sei, werde jeweils näher zu ermitteln sein. Wenn dieser keine eigentliche Ausbildung zurückgelegt habe, müßten um so mehr andere Kriterien als berufsqualifizierend in Betracht kommen. Solche Merkmale könnten - in Verbindung mit beruflichen Können - allgemeine Persönlichkeitswerte sein, wenn sie auffällig in Erscheinung träten und von Trägern eines bestimmten Berufs üblicherweise bei der Erwerbsarbeit zu entfalten seien. Dazu könnten Charaktereigenschaften gehören wie übernormale Leistungsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit, besonderes Verantwortungsbewußtsein oder allgemeine Anlagen wie ausgeprägte Disziplin, Nervenkraft, Selbständigkeit des Denkens und Handelns, natürliche Autorität und eine Wendigkeit, die den einzelnen befähige, einer aus dem Rahmen fallenden Häufung und Kombination von Funktionen gerecht zu werden. Meistens würden die genannten oder andere Persönlichkeitswerte erst dann positionserhöhend wirken, wenn sie nicht einzeln, sondern summiert aufträten. Einzelne solcher Eigenschaften würden auch für untergeordnete Arbeiten benötigt. Deshalb müsse ein Berufungsurteil eine detaillierte Schilderung der vom Kläger verrichteten Tätigkeiten enthalten. Eine sorgfältige Analyse der erfüllten Berufsaufgaben und der dabei gezeigten persönlichen Eignung sei geboten. - Es sei ferner angezeigt zu untersuchen, wie sich die Arbeitseinkünfte des Klägers zu den Löhnen ungelernter und angelernter Arbeiter verhielten und ob sich in ihnen nicht nur der Wert der erbrachten Leistungen, sondern auch das soziale Ansehen abzeichne. - Darüber hinaus komme es auch darauf an, welche Gewohnheiten und Erwartungen sich üblicherweise mit einem Berufsweg verbänden. Hiernach müsse geklärt werden, ob Arbeitnehmer eines gleichartigen Wirkungsfeldes diese Beschäftigung regelmäßig erst mit Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze oder bereits früher aufgäben. Wenn ein Tätigkeitswechsel in jüngeren Lebensjahren nicht selten sein sollte - und zwar gleichgültig, aus welchen Gründen immer -, so wäre zu erforschen, welchen Arbeitsbereichen sich solche Arbeiter dann gewöhnlich zuwendeten und welche innere Einstellung sie zu einer solchen Umstellung im allgemeinen zeigten. - Schließlich sei auch zu beachten, daß nicht jedes Absinken innerhalb der sozialen Stellung dem Versicherten erspart bleiben könne. Es entspreche einer Zeitströmung, daß die Gesellschaftsgliederung zunehmend eingeebnet werde. Materielles Streben dränge immer stärker das Standes-, Gruppen- und Klassenbewußtsein und sogar die Anhänglichkeit an einen liebgewordenen Beruf zurück. Nicht selten gingen Facharbeiter bei besserer Entlohnung oder günstigeren Arbeitsbedingungen zu Tätigkeiten eines Ungelernten über. Von einem solchen Verhalten der Arbeitnehmer könne die Rechtsanwendung nicht unberührt blieben. Der Begriff der Zumutbarkeit schließe ein beachtliches Maß eigenen Opfers ein.
Alle diese Gesichtspunkte sind auch in dem vorliegenden Fall zu beachten. Erst ihre Abwägung im einzelnen läßt eine Entscheidung darüber zu, ob und gegebenenfalls seit wann bei dem Kläger Berufsunfähigkeit vorliegt. Deshalb ist eine nochmalige Entscheidung des Tatsachengerichts erforderlich (§ 170 Abs. 2 SGG). Sollte die Frage der Berufsunfähigkeit nach erneuter Beurteilung bejaht werden, so wird das LSG sich auch damit befassen müssen, welche Bedeutung dem Vorbringen der Beigeladenen zukommt.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen