Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletztengeld. Feststellung der Berechnungsgrundlage bei Wiedererkrankung. Anspruch bei Erwerbslosen

 

Orientierungssatz

1. Ist für die Berechnung des Verletztengeldes der Jahresarbeitsverdienst maßgebend, dann sind im Falle der Wiedererkrankung an Unfallfolgen gemäß § 574 RVO die Verhältnisse des Jahres vor dem Beginn der erneuten Arbeitsunfähigkeit zugrunde zu legen; das gilt auch dann, wenn der Verletzte unmittelbar vor der Wiedererkrankung nicht erwerbstätig war.

2. Es widerspricht der Lohnersatzfunktion des Verletztengeldes, wenn diese Leistung auch solche Personen erhalten, die im Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit bereits endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind.

 

Normenkette

RVO § 560 Abs. 1, § 574

 

Verfahrensgang

SG München (Urteil vom 21.06.1971)

 

Tenor

Auf die Sprungrevision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 21. Juni 1971 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der am 15. Februar 1902 geborene Kläger erlitt am 16. November 1966 bei seiner Tätigkeit als Kioskinhaber einen Arbeitsunfall, der eine Zertrümmerung des Endgliedes und des Nagels des linken Zeigefingers zur Folge hatte. Bis zum 1. Januar 1967 war der Kläger arbeitsunfähig krank. Die Beklagte gewährte ihm für die Zeit vom 16. November 1966 bis zum 1. Januar 1967 ein Verletztengeld in Höhe von 789,40 DM; dabei legte sie nach § 40 ihrer Satzung einen Jahresarbeitsverdienst (JAV) von 9.000,- DM zugrunde. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers wurde vom ärztlichen Sachverständigen mit 20 v. H. in der Zeit vom 2. Januar bis 31. Juli 1967 und mit 10 v. H. in der Zeit vom 1. August 1967 bis 31. Januar 1968 bewertet. Daraufhin bewilligte die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 2. Januar bis 31. Juli 1967 eine Verletztenrente in Höhe von 20 v. H. der Vollrente.

Am 6. April 1970 wurde der linke Zeigefinger des Klägers in Grundgliedmitte amputiert; die Beklagte ging davon aus, daß der Kläger deswegen vom 6. April bis 18. Mai 1970 arbeitsunfähig gewesen sei, lehnte jedoch die Gewährung von Verletztengeld für diese Zeit mit der Begründung ab, daß der Kläger im Zeitpunkt der Wiedererkrankung nicht erwerbstätig gewesen sei und daher einen Lohnausfall nicht erlitten habe (Schreiben vom 24. Juni 1970).

Auf die vom Kläger gegen diese Ablehnung erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) München durch Urteil vom 21. Juni 1971 unter Aufhebung des Verwaltungsakts vom 24. Juni 1970 die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 6. April 1970 bis 18. Mai 1970 Verletztengeld unter Zugrundelegung eines JAV von 9.000,- DM zu gewähren; es hat die Berufung zugelassen.

Das Urteil des SG ist insbesondere auf folgende Erwägungen gestützt:

Die Gewährung von Verletztengeld setze entgegen der Ansicht der Beklagten nicht voraus, daß der Verletzte bei Eintritt der Erkrankung eine Erwerbstätigkeit ausgeübt habe. Die Zahlung von Verletztengeld komme nur dann nicht in Betracht, wenn der Arbeitsunfall außerhalb jeglicher Erwerbstätigkeit eingetreten sei, wie das etwa in den Fällen des § 539 Abs. 1 Nr. 9, 10 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zutreffe. Hier habe sich jedoch der Arbeitsunfall im ursächlichen Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit ereignet.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte mit Einwilligung des Klägers Sprungrevision eingelegt und diese im wesentlichen wie folgt begründet:

Eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit könne begrifflich nur vorliegen, wenn der Versicherte seine z. Zt. des Unfalls ausgeübte Erwerbstätigkeit wegen der Folgen des Arbeitsunfall aufgeben mußte. Habe der Verletzte diese Erwerbstätigkeit z. Zt. der Wiedererkrankung nicht mehr ausgeübt, so könne die Wiedererkrankung nicht ein Unvermögen des Verletzten zur Verrichtung "seiner Arbeit" begründet haben. Demgemäß könne insbesondere ein Arbeitsloser bei einer unfallbedingten Wiedererkrankung kein Verletztengeld erhalten. Die Gewährung von Verletztengeld an Verletzte, die bei Eintritt der Erkrankung ohne Erwerbseinkommen waren, stünde auch im Widerspruch zu dem Gedanken der Lohnersatzfunktion, der in § 560 Abs. 1 RVO einen deutlichen Ausdruck gefunden habe. Es fehle hier an einem Schaden, der durch das Verletztengeld ausgeglichen werden könne. § 561 Abs. 3 RVO könne zu keinem anderen Ergebnis führen.

Die Beklagte beantragt Aufhebung des angefochtenen Urteils und Klageabweisung.

Der Kläger bittet um Zurückweisung der Sprungrevision. Dem Urteil des SG sei zuzustimmen; es sei auf die Erwerbstätigkeit vor der Erkrankung abzustellen.

Die Beklagten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.

II

Die Sprungrevision ist im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das SG begründet.

Die vom SG aus seinen tatsächlichen Feststellungen gezogene Folgerung, daß dem Kläger nach den Vorschriften der §§ 562 Abs. 2 Satz 1, 560 Abs. 1 RVO ein Anspruch auf Verletztengeld unter Zugrundelegung eines JAV von 9.000,- DM zustehe, ist nicht frei von Rechtsirrtum. Dabei kann ebenso wie im Urteil des Senats vom 14. Februar 1973 - 8/2 RU 93/69 - offenbleiben, ob allein § 560 RVO oder § 562 Abs. 2 RVO i. V. m. dieser Vorschrift als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt, wenn - wie hier - im Zeitpunkt der Wiedererkrankung Verletztenrente nicht bezogen worden ist.

Das angefochtene Urteil kann schon deswegen keinen Bestand haben, weil nicht zu erkennen ist, ob das SG die Vorschrift des § 574 RVO beachtet hat. Danach sind, soweit der JAV zur Berechnung des Verletztengeldes dient, im Falle der Wiedererkrankung an Unfallfolgen die Verhältnisse des Jahres vor dem Beginn der erneuten Arbeitsunfähigkeit zugrunde zu legen. Das SG ist entgegen § 574 RVO ohne weiteres von der Tätigkeit des Kioskinhabers, die der Kläger z. Zt. des Unfalls ausgeübt hatte, ausgegangen. Das ergibt sich insbesondere daraus, daß es ohne nähere Begründung einen JAV von 9.000 DM zugrundegelegt und - wie der Zusammenhang seiner Ausführungen ergibt - eine Prüfung der Verhältnisse vor der Wiedererkrankung für entbehrlich erachtet hat; so hat es insbesondere keine Feststellungen in bezug auf die nach § 574 RVO maßgebenden Erwerbstätigkeiten getroffen. Solche Feststellungen durften nicht schon deswegen unterbleiben, weil nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Beklagen der Kläger unmittelbar vor der Wiedererkrankung nicht erwerbstätig war (vgl. dazu auch Urteil des Senats vom 14. Februar 1973 - 8/2 RU 138/69 -). Das Urteil des 2. Senats vom 27. Oktober 1967 (BSG 27, 188) ist hier schon deswegen ohne Bedeutung, weil es nicht den Fall einer Wiedererkrankung an Unfallfolgen betrifft, so daß dort eine Anwendung von § 574 RVO nicht in Betracht kam.

Da nicht auszuschließen ist, daß das angefochtene Urteil auf der genannten Unterlassung und damit auf einer Verletzung materiellen Rechts beruht, war es aufzuheben; die Sache war an das SG zurückzuverweisen, damit dieses Gelegenheit erhält, die noch fehlenden Feststellungen nachzuholen.

Im weiteren Verfahren wird das SG auch zu berücksichtigen haben, daß der Schutz, der durch die Gewährung von Krankengeld und Verletztengeld geboten werden soll, zwar auch den Fall vorübergehender Erwerbslosigkeit sowie Fälle, in denen bei längerer Arbeitslosigkeit die Arbeitsunfähigkeit die Begründung eines neuen Arbeitsverhältnisses oder die Aufnahme einer neuen Beschäftigung unmöglich macht (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 29.11.1972 in SozR Nr. 3 zu § 560 RVO), erfaßt, daß es jedoch im Widerspruch zu dem Sinn des Verletztengeldes stünde, wollte man diese Leistung auch Personen zukommen lassen, die z. Zt. des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit bereits endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden waren. In solchen Fällen könnte das Verletztengeld die ihm zugedachte Funktion eines Lohnersatzes nicht erfüllen. Zählt der Verletzte, insbesondere wegen hohen Alters, nicht mehr zu dem Kreis der Erwerbstätigen, so kann ein nach dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung durch Gewährung von Verletztengeld auszugleichender Schaden nicht mehr eintreten. Das SG wird daher ggf. unter Berücksichtigung des Lebensalters des Klägers und der für seinen Lebensunterhalt zur Verfügung stehenden Mittel auch der Frage nachzugehen haben, ob der Kläger eine Erwerbstätigkeit (vgl. Unfallakten Bl. 43, 45) etwa nur im Hinblick auf die bevorstehende Operation oder für dauernd aufgegeben hat bzw. ob mit einer späteren Wiederaufnahme dieser oder einer anderen Arbeit zu rechnen war oder zu rechnen gewesen wäre, wenn es zu der Wiedererkrankung nicht gekommen wäre.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663851

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