Leitsatz (redaktionell)
Eine Beschäftigung von mehr als 20 Wochenstunden ist nicht deshalb nach RVO § 172 Abs 1 Nr 5 versicherungsfrei, weil außerdem eine (nach Stundenzahl nicht bestimmbare) wissenschaftliche Ausbildung durchgeführt wird.
Orientierungssatz
1. Die Tätigkeit eines Gerichtsreferendars im Vorbereitungsdienst ist eine Beschäftigung "während" der wissenschaftlichen Ausbildung iS des RVO § 172 Abs 1 Nr 5 in der bis zum 1975-09-01 bzw 1975-10-01 geltenden Fassung.
2. Arbeitgeber und Krankenkasse brauchen deshalb, wenn jemand mehr als 20 Stunden wöchentlich beschäftigt ist, nicht zu ermitteln, wieviel Zeit der Betreffende auf eine daneben betriebene wissenschaftliche Ausbildung verwendet.
3. Personen, die neben ihrem Studium eine Beschäftigung von wöchentlich mindestens 20 Stunden ausüben, sind ihrem Erscheinungsbild nach als Arbeitnehmer anzusehen und unterliegen daher grundsätzlich der Versicherungspflicht in der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung; Versicherungsfreiheit nach RVO § 172 Abs 1 Nr 5, § 1228 Abs 1 Nr 3 bzw AVG § 4 Abs 1 Nr 4 kommt für sie nicht in Betracht.
4. Der für die Laufbahn des Richters vorgeschriebene Vorbereitungsdienst ist als wissenschaftliche Ausbildung iS des RVO § 172 Abs 1 Nr 5 (in der bis zum 1975-09-30 geltenden Fassung) anzusehen.
Normenkette
AVG § 4 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1228 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1957-02-23, § 172 Abs. 1 Nr. 5 Fassung 1945-03-17
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob der Kläger, der in der Zeit seines juristischen Vorbereitungsdienstes in den Jahren 1968 bis 1972 als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität des Saarlandes 25 Stunden wöchentlich beschäftigt war, der Krankenversicherungspflicht und der Beitragspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit (BA) unterlag.
Die Beklagte forderte mit Schreiben vom 11. November 1968 die Universität des Saarlandes auf, für den Kläger mit Wirkung vom 1. Oktober 1968 an Beiträge zur Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung abzuführen. Gegen dieses Schreiben, das dem Kläger bekannt wurde, legte dieser Ende November 1968 Widerspruch ein, den die Beklagte mit Bescheid vom 9. Mai 1969 zurückwies. Mit seiner Klage begehrt der Kläger, unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides festzustellen, daß er nicht kranken- und arbeitslosenversicherungspflichtig sei.
Das Sozialgericht hat den Widerspruchsbescheid aufgehoben und dem Feststellungsantrag stattgegeben (Urteil vom 21. November 1971). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Es hat sich auf den Standpunkt gestellt, der juristische Vorbereitungsdienst sei wissenschaftliche Ausbildung für den zukünftigen Beruf im Sinne des § 172 Abs 1 Ziff 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Beschäftigung als wissenschaftlicher Assistent gehöre zwar nicht "zu" der Ausbildung als Gerichtsreferendar, sie habe aber "während" der Ausbildung stattgefunden. Zwar seien mit dieser Alternative des Feststellungstatbestandes im wesentlichen Werkstudenten gemeint, bei der üblichen wirtschaftlichen Situation der Referendare sei die Sachlage aber hier - Unterhaltsbeitrag als Referendar 456,-- DM, Beschäftigungsentgelt 668,05 DM - nicht anders zu beurteilen. Trotz der hohen Stundenzahl, die er als Angestellter habe ableisten müssen, sei der Kläger seinem Erscheinungsbild nach Referendar gewesen. Sein Leben sei von der Referendarausbildung geprägt gewesen, die seine Arbeitskraft auch überwiegend in Anspruch genommen habe.
Mit der zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, die Frage der Versicherungsfreiheit von in wissenschaftlicher Ausbildung befindlichen Personen könne in der Kranken- und Arbeitslosenversicherung nicht anders beurteilt werden als in der Rentenversicherung. In diesem Versicherungszweig sei aber unstreitig nach dem Abschluß eines ordentlichen Studiums keine Versicherungsfreiheit mehr gegeben. Sie beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und festzustellen, daß der Kläger aufgrund seiner Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft der Universität des Saarlandes in der Zeit vom 1. Oktober 1968 bis zum 31. März 1972 der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung und der Beitragspflicht zur BA unterlag.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Auch in der Zeit, die er als wissenschaftlicher Assistent habe ableisten müssen, habe er entsprechend Dienstvertrag, Assistentenordnung und Gepflogenheit in größerem Umfang für seine Ausbildung als Referendar, die wissenschaftliche Ausbildung im Sinne des § 172 Abs 1 Ziff 5 RVO sei, arbeiten dürfen und auch tatsächlich gearbeitet.
Die Beigeladenen haben von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der beklagten Krankenkasse ist begründet. Der Kläger war während seiner Beschäftigung als Angestellter (wissenschaftliche Hilfskraft) der Universität des Saarlandes kranken- und damit auch arbeitslosenversicherungspflichtig (§ 56 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, §§ 168f des Arbeitsförderungsgesetzes). Er gehörte nicht zu den Personen, die zu oder während ihrer wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf gegen Entgelt tätig und deshalb nach § 172 Abs 1 Nr 5 RVO versicherungsfrei sind.
Der Kläger war während der fraglichen Zeit nicht "zu" seiner wissenschaftlichen Ausbildung beschäftigt. Bei seiner Beschäftigung stand weder der Zweck der eigenen Ausbildung im Vordergrund - sie diente in erster Linie der Unterstützung von Lehrkräften der Universität - noch war die Beschäftigung in einer Ausbildungsordnung, insbesondere in der saarländischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen vom 28. März 1960 (Amtsbl S 241), als Teil der Ausbildung für einen anderen Beruf vorgeschrieben (vgl das Urteil des Senats vom 19. Dezember 1974 zur Versicherungspflicht eines Verwalters der Stelle eines wissenschaftlichen Assistenten, BSG 39, 41). Daß dem Kläger während seiner wissenschaftlichen Hilfstätigkeit auch Gelegenheit zur eigenen fachlichen Ausbildung gegeben werden sollte (vgl § 12 der Assistentenordnung der Universität des Saarlandes vom 5. Mai 1963, Dienstbl der Universität S 17), ändert daran nichts. Weder war die für die eigene fachliche Ausbildung verfügbare Zeit festgelegt noch bestimmt, daß diese Zeit gerade der Referendarausbildung zugute kommen sollte.
Der Kläger war als Universitätsangestellter auch nicht "während" seiner wissenschaftlichen Ausbildung beschäftigt (2. Alternative des § 172 Abs 1 Nr 5 RVO). Versicherungsfreiheit entfiel hier allerdings - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht schon deshalb, weil die Beschäftigung des Klägers erst nach Abschluß seines Studiums begann und deshalb nicht mehr nach § 4 Abs 1 Nr 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes rentenversicherungsfrei war. § 172 Abs 1 Nr 5 RVO in der hier noch anzuwendenden alten Fassung (anders jetzt in der neuen Fassung des Gesetzes über die Krankenversicherung der Studenten vom 24. Juni 1975, BGBl I 1536) beschränkte die Versicherungsfreiheit nicht auf Beschäftigungen während der Dauer eines Studiums; erforderlich war nur, daß die Beschäftigung während einer wissenschaftlichen Ausbildung stattfand. Eine solche Ausbildung war auch der Vorbereitungsdienst des Klägers als Gerichtsreferendar, der sich in der Regel an das juristische Studium anschließt, und obwohl er in erster Linie in praktischer Tätigkeit besteht, Teil der wissenschaftlichen Gesamtausbildung der Juristen ist (vgl BSG 11, 278, 283 und BSG 30, 248, 250).
Nicht jede Beschäftigung, die während einer wissenschaftlichen Ausbildung erfolgt, ist indessen aus diesem Grunde schon versicherungsfrei. Wie auch das LSG angenommen hat, will § 172 Abs 1 Nr 5 RVO, der als Ausnahmevorschrift im übrigen eng auszulegen ist, in der hier fraglichen 2. Alternative im wesentlichen nur Personen erfassen, die, wie Werkstudenten, eine entgeltliche Beschäftigung ausüben, um sich die zur Durchführung des Studiums und zur Bestreitung des Unterhalts notwendigen Mittel zu verdienen. Hierzu gehören nicht Personen, die eine wissenschaftliche Ausbildung aufnehmen, ihren bisherigen Beruf jedoch ohne wesentliche Einschränkungen fortsetzen und deshalb ihrem "Erscheinungsbild" nach zum Kreise der Beschäftigten gehören (vgl BSG 18, 254; 27, 192, 195; 33, 229). § 172 Abs 1 Nr 5 RVO gilt ferner nicht für Personen, die ihre Ausbildung für kürzere oder längere Zeit (ein Semester oder die Zeit der Semesterferien) zum Zwecke der Ausübung ihres bisherigen Berufs unterbrechen (vgl SozR Nr 13 zu § 172 RVO und Urteil des Senats vom 18. April 1975 - 3/12 RK 10/73 -).
In den bisher entschiedenen Fällen lag es allerdings so, daß eine Ausbildung während der Zeit der Beschäftigung nicht oder nur in eingeschränktem Umfang betrieben wurde, so daß an der das Erscheinungsbild prägenden Bedeutung der Beschäftigung kein Zweifel möglich war. Hiervon unterscheidet sich der vorliegende Fall insofern, als durch die Beschäftigung des Klägers an der Universität die dienstlichen Interessen seiner Referendarausbildung nicht beeinträchtigt werden durften, andernfalls hätte die Nebentätigkeitsgenehmigung versagt werden müssen (vgl § 78 des Saarländischen Beamtengesetzes vom 11. Juli 1962, Amtsbl S 505). Der Umstand, daß der Kläger nur unter diesem Vorbehalt beschäftigt werden durfte, rechtfertigt indessen nicht die - im übrigen durch keine tatsächlichen Feststellungen näher belegte - Schlußfolgerung des LSG, der Kläger sei seinem Erscheinungsbild nach nicht Angestellter der Universität, sondern Gerichtsreferendar gewesen.
Wie der Senat schon wiederholt entschieden hat, liegt eine versicherungspflichtige Beschäftigung - neben der eine versicherungsfreie Nebenbeschäftigung denkbar ist - unabhängig von der Höhe des erzielten Verdienstes dann vor, wenn die Beschäftigung den Betreffenden wöchentlich mehr als 20 Stunden in Anspruch nimmt (vgl BSG 14, 29; 14, 38; SozR Nr 10 und Nr 11 zu § 168 RVO). Liegt eine solche, die Arbeitskraft im allgemeinen überwiegend beanspruchende Beschäftigung vor, erscheint es vom Zweck und Grundgedanken der Sozialversicherung nicht gerechtfertigt, den Beschäftigten allein wegen einer daneben durchgeführten Ausbildung aus der Solidargemeinschaft der Versicherten auszuschließen. Nach der Rechtsprechung des Senats entfällt deshalb Versicherungsfreiheit nach § 172 Abs 1 Nr 5 RVO nicht nur bei einer ganztägigen Beschäftigung neben der Ausbildung, sondern schon dann, wenn die Beschäftigung mindestens halbtägig ausgeübt wird.
An dieser Auffassung hält der Senat fest: Arbeitgeber und Krankenkasse brauchen deshalb, wenn jemand mehr als 20 Stunden wöchentlich beschäftigt ist, nicht zu ermitteln, wieviel Zeit der Betreffende auf eine daneben betriebene wissenschaftliche Ausbildung verwendet. Solche Ermittlungen wären im Falle eines Studiums, das zum wesentlichen Teil in häuslicher Arbeit besteht, im allgemeinen auch wenig erfolgversprechend. Schon die Tatsache, daß die Beschäftigung in dem genannten zeitlichen Umfang ausgeübt wird, macht den Betreffenden seinem Erscheinungsbild nach zu einem Beschäftigten, ohne daß dies noch besonders - durch weitere Indizien - begründet zu werden braucht.
Der Anwendungsbereich des § 172 Abs 1 Nr 5 RVO wird damit allerdings weitgehend auf Nebenbeschäftigungen beschränkt, die in der Regel bereits nach § 168 RVO versicherungsfrei sind; trotzdem behält er neben dieser Vorschrift noch selbständige Bedeutung, nämlich für die Fälle, in denen die besonderen Voraussetzungen des § 168 RVO nicht vorliegen, insbesondere die Einkommensgrenze des § 168 Abs 2 Buchst b überschritten ist.
Da die Beschäftigung des Klägers als Universitätsangestellter wöchentlich mehr als 20 Stunden betrug, war er somit nicht nach § 172 Abs 1 Nr 5 RVO versicherungsfrei. Daran ändert es nichts, daß er sich in seinem Beamtenverhältnis als Referendar mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen hatte (§ 67 des Saarländischen Beamtengesetzes). Maßgebend für die versicherungsrechtliche Beurteilung ist vor allem, in welchem Umfang das Beamtenverhältnis tatsächlich Raum für die Ausübung einer anderweitigen Beschäftigung läßt (vgl dazu BSG 35, 247). Im Falle des Klägers stand das Referendarverhältnis einer mehr als halbtägigen Beschäftigung an der Universität nicht entgegen.
Der Senat hat hiernach der Revision der Beklagten stattgegeben und die Klage unter Aufhebung der angefochtenen Urteile abgewiesen.
Fundstellen
BSGE 40, 93-96 (LT1) |
BSGE, 93 |
BB 1975, 1438 (LT1) |
NJW 1975, 2359-2360 (LT1) |
RegNr, 5635 |
Das Beitragsrecht Meuer 436 A 8a 15 (LT1, ST1-2) |
USK, 7573 (ST3-4) |
Breith 1976, 73-75 (LT1) |
SGb 1976, 192-194 (LT1) |
SozR 2200 § 172, Nr 3 (LT1) |