Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtstattgeben eines Beweisantrags ohne hinreichende Begründung. Verletzung der Sachaufklärungspflicht. sachdienliche Fragen an Sachverständigen. vorweggenommene Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt vor, wenn dem Gericht sich nach dem Sachvortrag des Klägers und dem gegebenen Sachstand eine weitere Sachaufklärung hatte aufdrängen müssen. Ebenso wie der Sachvortrag eines Beteiligten aufgrund seines Rechts auf Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) insoweit, als es rechtserheblich ist, nicht außer acht gelassen werden darf (vgl BVerfG vom 8.11.1978 1 BvR 158/78 = BVerfGE 50, 32, 35), darf eine beantragte Sachaufklärung nicht unterbleiben, sofern sie nicht aus Rechtsgründen überflüssig oder völlig unbrauchbar ist oder im Ergebnis als erfolgreich verlaufen unterstellt wird (vgl BVerfG vom 8.11.1978 aaO = BVerfGE 50, 34; BVerwG vom 13.12.1977 3 C 53/76 = Buchholz 310 § 86 Abs 1 VwGO Nr 112). Eine vorweggenommene Beweiswürdigung mit ungünstigem Resultat ist als Ablehnungsgrund unzulässig.
Normenkette
SGG § 62 Fassung: 1953-09-03; GG Art 103 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; SGG § 103 S 1 Fassung: 1974-07-30, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 11.01.1983; Aktenzeichen L 4 V 118/81) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 28.07.1981; Aktenzeichen S 7 V 83/81) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt, zerebrale Durchblutungsstörungen mit Allgemeinsklerose nach schwerer alimentärer Dystrophie als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen.
Er bezieht wegen verschiedener als Schädigungsfolgen anerkannter Gesundheitsstörungen Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH. Sein im Mai 1977 gestellter Antrag, die Versorgungsleistungen wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse neu festzustellen sowie zusätzliche Schädigungsfolgen anzuerkennen, die auf eine 3 1/2 Jahre dauernde russische Kriegsgefangenschaft - von Januar 1945 bis Juli 1949 - zurückzuführen seien, verfiel der Ablehnung (Bescheid des Versorgungsamts vom 10. August 1977; Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 1978).
Das Landessozialgericht (LSG) hat das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) bestätigt. Es hat ua ausgeführt: Nach den Sachverständigengutachten sei eine wesentliche Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen nicht feststellbar. Dem nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gehörten Sachverständigen Dr. F könne nicht gefolgt werden. Entgegen dessen Gutachtensmeinung seien die zerebralen Durchblutungsstörungen mit allgemeinen sklerotischen Veränderungen nicht mit Wahrscheinlichkeit auf schädigende Einflüsse der russischen Kriegsgefangenschaft zurückzuführen. Nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (nachfolgend Anhaltspunkte genannt: Ausgabe 1973 S 96) könnten arteriosklerotische Gefäßkomplikationen als Folge extremer Lebensverhältnisse nur dann als Schädigungsfolgen anerkannt werden, wenn sie zumindest innerhalb von zwei Jahren danach aufgetreten seien. An einem solchen Nachweis fehle es. Es habe auch kein Anlaß bestanden, dem Antrag des Klägers, den Sachverständigen Dr. F zur Erläuterung seines Gutachtens mündlich zu hören, stattzugeben. Der Kläger habe keine der Behebung von Zweifeln dienenden Fragen angekündigt, durch die zusätzliche Erkenntnisse hätten gewonnen werden können. Der Sachverständige habe auch nicht angedeutet, daß Anhaltspunkte für sklerotische Veränderungen während oder kurz nach der Kriegsgefangenschaft bestanden hätten. Ebensowenig sei dies den dem Gutachten beigefügten schriftlichen Zeugenerklärungen sowie sonstigen ärztlichen Unterlagen zu entnehmen. Der Sachverständige könne unter diesen Umständen lediglich seine nicht überzeugende Gutachtensmeinung wiederholen.
Der Kläger hat die - vom Senat zugelassene - Revision eingelegt. Das LSG habe - meint der Kläger - seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt. Die Ablehnung des Antrags, den Sachverständigen Dr. F zur Erläuterung seines Gutachtens zu hören, sei nicht hinreichend begründet. Der Sachverständige habe zwar den wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang mit schädigenden Einwirkungen der russischen Kriegsgefangenschaft bejaht. Indessen habe er seine Meinung nicht im einzelnen erläutert. Gerade dies sollte durch die beantragte mündliche Anhörung bewirkt werden. Demgemäß habe der Beweisantrag gelautet, den Sachverständigen zur Frage der Dystrophie und der jetzigen Krankheitserscheinungen und insbesondere zu der Frage mündlich zu hören, welche Anhaltspunkte bei dem Kläger konkret vorlägen, die für den Zusammenhang sprächen. Das Übergehen dieses sachdienlichen Antrages bedeute gleichzeitig eine vorweggenommene Beweiswürdigung. Die Entscheidung des LSG beruhe auf diesem Verfahrensfehler.
Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen sowie die angefochtenen Verwaltungsbescheide aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger eine höhere Versorgung als nach einer MdE um 50 vH zu gewähren; hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte schließt sich dem Hilfsantrag des Klägers an.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat insoweit Erfolg, als das Urteil des LSG aufzuheben und die Streitsache an dieses Gericht zurückzuverweisen ist. Das Berufungsurteil beruht auf dem vom Kläger formgerecht gerügten Verfahrensmangel (§ 162 iVm §§ 103, 164 Abs 2 SGG).
Das Berufungsgericht hat dem Beweisantrag des Klägers, den Sachverständigen Dr. F zur Erläuterung seines Gutachtens mündlich zu hören, nicht stattgegeben. Dies allein ist allerdings nicht als wesentlicher Verfahrensfehler zu werten (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Vielmehr liegt ein solcher erst dann vor, wenn die Ablehnung eines solchen Beweisantrages ohne hinreichende Begründung erfolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Es kann dahinstehen, ob das LSG nach § 116 Satz 2 SGG verpflichtet war, den Sachverständigen Dr. F zu laden, um damit dem Kläger Gelegenheit zu geben, sachdienliche Fragen zu stellen (Hinweis: BSG SozR Nr 160 zu § 162 SGG). Ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt jedenfalls darin, daß dem Berufungsgericht sich nach dem Sachvortrag des Klägers und dem gegebenen Sachstand eine weitere Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen. Das LSG hat den Ausführungen des Sachverständigen insoweit zugestimmt, als eine während der russischen Kriegsgefangenschaft aufgetretene alimentäre Dystrophie zu schweren arteriosklerotischen Veränderungen führen kann. Indessen hat es für erheblich gehalten, daß nach den Anhaltspunkten ein schädigungsbedingter Ursachenzusammenhang nur wahrscheinlich sei, wenn innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung extremer Lebensumstände arteriosklerotische Gefäßkomplikationen aufgetreten seien. Insoweit habe der Sachverständige Dr. F - so das LSG - nirgendwo angedeutet, daß es Anhaltspunkte für sklerotische Veränderungen während oder kurz nach der russischen Kriegsgefangenschaft gebe; dies gehe auch nicht aus den ärztlichen Unterlagen sowie aus den dem Gutachten beigefügten schriftlichen Zeugenerklärungen hervor. Allein daraus durfte das LSG nicht folgern, der Sachverständige könne lediglich seine nicht überzeugende Auffassung wiederholen. Ebenso wie der Sachvortrag eines Beteiligten aufgrund seines Rechts auf Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz, § 62 SGG) insoweit, als es rechtserheblich ist, nicht außer acht gelassen werden darf (BVerfGE 50, 32, 35; 51, 126, 129), darf eine beantragte Sachaufklärung nicht unterbleiben, sofern sie nicht aus Rechtsgründen überflüssig oder völlig unbrauchbar ist oder im Ergebnis als erfolgreich verlaufen unterstellt wird (BVerfGE 50, 34; BVerwG Buchholz 310 § 86 Abs 1 VwGO Nr 112). Eine vorweggenommene Beweiswürdigung mit ungünstigem Resultat - wie geschehen - ist als Ablehnungsgrund unzulässig.
Auf die entscheidungserhebliche Frage des wahrscheinlichen ursächlichen Zusammenhangs stellt der Beweisantrag des Klägers ab. Die mündliche Befragung des Sachverständigen sollte zur Klärung beitragen, "welche Anhaltspunkte beim Kläger konkret vorliegen, die für den Zusammenhang sprechen." Das ungewöhnlich kurz gefaßte Gutachten des Sachverständigen hatte sich mit dem hier bedeutsamen Fragenkomplex nicht eingehend auseinandergesetzt. Der Sachverständige hatte im wesentlichen seine eigene aus den extremen Lebensverhältnissen gewonnene Erfahrung als Arzt - er war selbst 4 1/2 Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft als Arzt tätig - bekundet und daraus den ursächlichen Zusammenhang abgeleitet, ohne im einzelnen zu erörtern, ob und gegebenenfalls inwieweit die medizinisch wissenschaftlichen Erkenntnisse damit im Einklang stehen. Das Gutachten war nach alledem erkennbar ergänzungs- bzw erläuterungsbedürftig, worauf die Revision zutreffend abhebt. Die mündliche Ergänzung des Gutachtens war auch nicht deswegen überflüssig, weil das bisherige Beweisergebnis den Anforderungen der Anhaltspunkte in der Richtung nicht entsprochen hatte, daß Gefäßkomplikationen innerhalb der Zweijahresfrist bisher nicht nachzuweisen waren. Die Befragung des Sachverständigen sollte insoweit abschließende Klarheit schaffen. Außerdem ist es nicht von vornherein abwegig, dem eigenen Erfahrungsgut des Sachverständigen nicht doch besonderes Gewicht beizumessen, zumal, wenn er dies durch zusätzliches Vorbringen zu untermauern vermag. Dies müßte umso mehr gelten, wenn die Gutachtensmeinung mit neueren medizinisch-wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, die bisher in den Anhaltspunkten Ausgabe 1973 noch keine Beachtung gefunden haben, übereinstimmte.
Bei weiterer Sachaufklärung ist ein für den Kläger günstiger Ausgang des Rechtsstreits nicht auszuschließen. Die streitigen Gesundheitsstörungen könnten durch die extremen Lebensbedingungen der russischen Kriegsgefangenschaft verursacht sein. Aufgrund dessen beruht das Berufungsurteil auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel.
Das Berufungsgericht hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen