Entscheidungsstichwort (Thema)
Kraftfahrer. bisheriger Beruf
Leitsatz (amtlich)
Der bisherige Beruf eines Versicherten ist jedenfalls dann derjenige eines Facharbeiters iS des Mehrstufenschemas bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit, wenn dem Versicherten seine abgeschlossene Ausbildung als Kraftfahrzeughandwerker erst den Zugang zu der - tariflich einem Facharbeiter gleichgestellten - Tätigkeit als Kraftfahrer ermöglicht hat.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 20.09.1988; Aktenzeichen L 6 Ar 686/86) |
SG Nürnberg (Entscheidung vom 12.08.1986; Aktenzeichen S 3 Ar 539/85) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Der 1929 geborene Kläger ist gelernter Kraftfahrzeughandwerker. Er war von 1950 bis 1953 als solcher bei der Deutschen Bundespost und seit April 1953 als Kraftfahrer dort tätig. Die Bundespost stellte damals in der Regel Kraftwagenführer nur ein, wenn sie bereits eine handwerkliche Lehre erfolgreich abgeschlossen hatten. Der Kläger mußte aber nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) nicht die praktischen Fähigkeiten und theoretischen Kenntnisse haben, wie sie die Verordnung der Berufsausbildung zum Berufskraftfahrer vom 26. Oktober 1973 (BGBl I 1518) voraussetzt. Er mußte lediglich die Voraussetzungen zum Führen eines Lkw erfüllen. Er brauchte weder Reparaturen und Wartungen durchzuführen noch etwa die Regeln für grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr zu beherrschen. Für seine Tätigkeit als Kraftfahrer genügte die erfolgreiche Ablegung der Führerscheinprüfung der Klasse 2 und die gesundheitliche Eignung. Der Kläger wurde seit dem 1. Januar 1980 nach der Lohngruppe I des Tarifvertrages für Arbeiter entlohnt. Für diese Einstufung war die Facharbeiterprüfung als Kraftfahrzeughandwerker nicht Voraussetzung. Es handelte sich nach den Feststellungen des LSG um eine lohnmäßige Gleichstellung mit den Fahrern, die mit Beamtentätigkeiten beschäftigt sind.
Am 6. Mai 1985 stellte der Kläger den Antrag auf Versichertenrente. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 22. Juli 1985). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. August 1986). Es hat den Kläger zwar als Facharbeiter angesehen, ihn aber auf die Arbeit eines Endkontrolleurs von feinmechanischen oder elektrotechnischen Teilen verwiesen. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 20. September 1988). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger könne noch Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, insbesondere leichte Tätigkeiten im Sitzen in geschlossenen Räumen ausführen. Der Kläger genieße nicht den Berufsschutz als Facharbeiter. Von seinem ursprünglichen Beruf als Kraftfahrzeughandwerker habe er sich gelöst. Als Kraftfahrer habe er lediglich eine Anlerntätigkeit einfacher (nicht gehobener) Kategorie ausgeübt. Er könne daher auf alle gesundheitlich geeigneten Tätigkeiten nicht einfachster Art zumutbar verwiesen werden. Der konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedürfe es nicht. Der Kläger könne aber zB als Parkplatzwächter arbeiten.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Der Kläger bezieht seit 1. September 1989 Altersruhegeld.
Er beantragt,
das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 12. August 1986 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. Juli 1985 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Juni 1985 bis 31. August 1989 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu bewilligen;
hilfsweise beantragt er,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Ob der Kläger berufsunfähig iS des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist, läßt sich erst nach Ermittlungen weiterer Tatsachen feststellen.
Ausgangspunkt für die Beurteilung eines gemäß § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbaren und damit die Berufsunfähigkeit ausschließenden Verweisungsberufes ist der bisherige Beruf des Versicherten, wobei nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ein abgestuftes Berufsgruppenschema zugrunde zu legen und grundsätzlich von der Tätigkeit auszugehen ist, die im Arbeitsleben des Versicherten den qualitativ höchsten Wert verkörpert hat (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 140, 143, 151 mwN). Dieses Mehrstufenschema gliedert die Arbeiterberufe nach verschiedenen "Leitberufen", nämlich demjenigen des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters, des "angelernten" und schließlich des ungelernten Arbeiters. Grundsätzlich darf der Versicherte im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf auf die nächst niedrigere Gruppe verwiesen werden. Denn das Gesetz sieht den Versicherten nicht schon dann als berufsunfähig an, wenn er seinen "bisherigen Beruf" aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Es verlangt vielmehr, daß der Versicherte, ausgehend von diesem Beruf, einen "zumutbaren" beruflichen Abstieg in Kauf nimmt. Erst wenn der Versicherte in diesem Sinne nicht auf eine zumutbare andere Tätigkeit verwiesen werden kann - sei es, daß es eine solche Tätigkeit (objektiv) nicht gibt, sei es, daß er (subjektiv) aus gesundheitlichen Gründen oder wegen fehlender (nicht ausreichender) Kenntnisse und Fähigkeiten eine solche Tätigkeit nicht zu verrichten vermag - ist er berufsunfähig (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 143 mwN).
Welcher Berufsgruppe der Kraftfahrer angehört, ist in der Rechtsprechung des BSG noch nicht endgültig geklärt. Der 4. Senat des BSG hat im Urteil vom 21. Juli 1987 (SozR 2200 § 1246 Nr 143) den Kraftfahrer der Gruppe der Angelernten, und zwar dem oberen Bereich der Angelernten, zugeordnet. Wie der Senat aber bereits im Urteil vom 9. September 1986 (SozR 2200 § 1246 Nr 140 S 455) ausgeführt hat, kann auch ein Beruf, der nur eine zweijährige Ausbildung voraussetzt, dann ausnahmsweise ein Facharbeiterberuf sein, wenn die Ausbildung dazu nicht schon im Alter von etwa 15 Jahren, sondern erst später begonnen wird. Ein Beruf, der erst erlernt werden kann, wenn derjenige, der den Beruf ergreifen möchte, bereits eine gewisse Reife erlangt hat, besitzt neben der Ausbildung ein weiteres Qualitätsmoment. Gemäß § 7 der Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO) darf niemand ein Kraftfahrzeug der Klasse 2 vor Vollendung des 21. Lebensjahres führen. Die Verwaltungsbehörde kann allerdings Ausnahmen zulassen (§ 7 Abs 2 StVZO). Da es somit von der tatsächlichen Übung abhängt, wie sie sich unter Billigung durch die Behörden in den betreffenden Wirtschaftskreisen tatsächlich herausgebildet hat, in welchem Alter der Beruf begonnen wird, hat der Senat im Urteil vom 21. September 1988 (SozR 2200 § 1246 Nr 159) noch weitere Ermittlungen zu den tatsächlichen Verhältnissen für erforderlich gehalten, unter denen die Qualifikation zu diesem Beruf erworben wird und unter denen er ausgeübt wird. Dazu hat sich eine feste Erkenntnis in der Rechtsprechung noch nicht gebildet.
Im Falle des Klägers kann dies indessen dahingestellt bleiben. Der Kläger hat zwar von 1953 bis 1985, als er den Antrag auf Versichertenrente stellte, also über 30 Jahre lang, als Kraftfahrer gearbeitet. Nach den Feststellungen des LSG war der Kläger aber gelernter Kraftfahrzeughandwerker und hat als solcher von 1950 bis 1953 bei der Deutschen Bundespost gearbeitet. Die Ausübung der Tätigkeit eines Kraftfahrers war für ihn kein sozialer Abstieg. Er wurde zunächst gleich gut und danach erheblich besser als bisher entlohnt. Die Ausübung dieser für den Kläger günstigen Tätigkeit als Kraftfahrer war dem Kläger nur möglich, weil er Facharbeiter war. Denn nach den Feststellungen des LSG machte der Arbeitgeber diese Facharbeitereigenschaft zur Bedingung der Anstellung als Kraftfahrer. Die für den Kläger vorteilhafte Entlohnung und Tätigkeit - sie war tariflich einem Facharbeiter gleichgestellt - war damit an seine Facharbeiterfähigkeiten gebunden, auch wenn der Arbeitgeber von den speziellen Kenntnissen und Fertigkeiten des Klägers als Kraftfahrzeughandwerker keinen Gebrauch machte und auch den Aufstieg in die höheren Lohngruppen nicht wiederum an eine erwiesene Facharbeiterqualifikation anknüpfte. Grundlage des Erwerbs des Klägers war in der gesamten Zeit, in der er als Kraftfahrer gearbeitet hatte, gleichwohl seine Qualifikation als Kraftfahrzeughandwerker. Unter diesen Umständen hat sich der Kläger nie von seinem Beruf als Kraftfahrzeughandwerker gelöst. Der Kläger war deshalb der Facharbeiter geblieben, der er zu Beginn seiner Tätigkeit als Kraftfahrer bereits gewesen war.
Da somit der Kläger als Facharbeiter anzusehen ist, wird das LSG zu prüfen haben, ob der Kläger noch Tätigkeiten ausüben kann, auf die er als Facharbeiter verweisbar ist und ob es hierfür ein für ihn offenes Arbeitsfeld gibt (vgl BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 137, 139). Die Sache ist zu diesem Zweck an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.
Fundstellen