Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch behinderter Kinder
Leitsatz (redaktionell)
Ein Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes für behinderte Kinder iS des BKGG § 2 Abs 4 iVm BKGG Abs 2 Nr 3 besteht grundsätzlich nur dann, wenn die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
Normenkette
BKGG § 2 Abs. 4 Fassung: 1970-12-16, Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Fassung: 1975-12-18
Verfahrensgang
SG Regensburg (Entscheidung vom 13.12.1976; Aktenzeichen S 12 Kg 39/76) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 13. Dezember 1976 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat der Beigeladenen deren außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte das Kindergeld für den Sohn Manfred der Beigeladenen zu Recht entzogen hat, weil dieser erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres wegen Gebrechlichkeit außer Stand gesetzt wurde, sich selbst zu unterhalten.
Die Beklagte hatte der Beigeladenen mit Bescheid vom 17. Mai 1976 das ihr ua für ihren am 10. April 1936 geborenen Sohn M gewährte Kindergeld ab März 1976 entzogen. Da das Kindergeld an den Kläger ausgezahlt worden war (Bl. 16 VA), erhob dieser Widerspruch, den die Beklagte zurückwies, weil die Behinderung erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei (Bescheid vom 27. Juli 1976 - Bl. 30 VA). - Manfred leidet an Schizophrenie, befindet sich in Anstaltspflege und bezieht von der Landesversicherungsanstalt (LVA) eine Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter, die im März 1976 375,70 DM (nicht 588,60 DM) betrug. Er hatte ausweislich der Rentenakten (Anlage zum Rentenbescheid vom 20. Mai 1968) vom 23. Oktober 1954 bis 31. Juli 1967 Arbeitsentgelt erzielt.
Das Sozialgericht (SG) Regensburg hat die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 13. Dezember 1976). Es hat zur Begründung ausgeführt: mit Rücksicht auf § 2 Abs. 4 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) iVm Abs. 2 Nr. 3 BKGG müsse nach der Entstehungsgeschichte und dem Sinn der Kindergeldgesetzgebung die Unterhaltsunfähigkeit vor dem 27. Lebensjahr bestanden haben, um den Anspruch auf Kindergeld zu begründen. Diese Voraussetzungen seien im Falle des M K. nicht erfüllt, weil er unstreitig und nach dem Inhalt der beigezogenen ArV-Rentenakten bei Vollendung des 27. Lebensjahres nicht unterhaltsbedürftig, sondern in der Lage gewesen sei, sich selbst zu unterhalten. Gemäß § 22 BKGG sei die Beklagte daher berechtigt gewesen, das Kindergeld für die Zukunft von Amts wegen zu entziehen.
Mit schriftlicher Einwilligung der Beklagten hat der Kläger Revision eingelegt und zu deren Begründung ua ausgeführt: Zwar sei es M K. erst nach Vollendung seines 27. Lebensjahres wegen einer geistigen Behinderung unmöglich geworden, sich selbst zu unterhalten. Das stehe jedoch dem Anspruch auf Zahlung des Kindesgeldes gemäß § 2 Abs. 4 BKGG nicht entgegen. Der Anspruch auf Kindergeld für behinderte Kinder nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 sei zeitlich nicht bis zum 27. Lebensjahr begrenzt, und zwar unabhängig davon, wann die Behinderung nach Vollendung des 18. Lebensjahres eingetreten sei. Wenn § 2 Abs. 4 BKGG hätte zum Ausdruck bringen wollen, daß die Behinderung grundsätzlich nur berücksichtigt werden könne, wenn sie bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei, so wäre die Aufzählung in § 2 Abs. 3 Satz 1 BKGG überflüssig gewesen. Eine Verweisung auf § 2 Abs. 2 BKGG hätte völlig genügt. Auch die Formulierung "wird ein Kind über das 27. Lebensjahr hinaus berücksichtigt" in § 2 Abs. 4 BKGG ergebe nicht, daß auch für diesen Personenkreis die Altersklausel des § 2 Abs. 3 BKGG gelten sollte. Die Entstehungsgeschichte stütze die Auffassung der Beklagten ebensowenig wie § 32 des Einkommensteuergesetzes (EStG) n.F. (BGBl 1974, 1993).
Der Kläger beantragt,
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1. |
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das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 13. Dezember 1976 aufzuheben. |
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2. |
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Die Beklagte zu verpflichten, der Beigeladenen für ihr Kind ... Kindergeld nach dem BKGG über den 29. Februar 1976 hinaus zu gewähren und an den Kläger abzuführen. |
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochten Urteil für zutreffend. Die von dem Kläger für richtig gehaltene Auslegung des § 2 Abs. 4 BKGG widerspreche dem Sinn und Zweck des Kindergeldrechts. Für Behinderte, deren Unfähigkeit, sich selbst zu erhalten, erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres eintrete, sehe das System der sozialen Sicherung andere Leistungen vor. Es widerspräche der Zweckbestimmung des Kindergeldes, diese Leistung auch für erwachsene Personen zu erbringen, die der elterlichen Familie entwachsen seien und bereits eine selbständige Stellung im Leben eingenommen hätten. Im übrigen stehe einem solchen Anspruch auch der eindeutige Wortlaut des Gesetzes entgegen.
Die Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete (Sprung-)Revision des Klägers ist statthaft, in der Sache aber unbegründet.
Das SG hat zutreffend entschieden, die Beklagte sei gemäß § 22 BKGG berechtigt gewesen, das für den Sohn M der Beigeladenen gewährte Kindergeld zu entziehen. Da die Entziehung auch rückwirkend erfolgen konnte (vgl. BSGE 3, 106, 109 zu § 177 AVAVG aF; Wickenhagen-Krebs, Komm. zum BKGG Band 2, Anm. B 5 zu § 22 und Anm. 19 zu § 13 BKGG), ist die Klageabweisung nicht zu beanstanden.
Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 23. Juni 1977 - 8/12 RKg 7/77 - (zur Veröffentlichung vorgesehen) entschieden hat, kommt nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 4 BKGG sowie dessen Zweckbestimmung und Entstehungsgeschichte im Rahmen des Systems der sozialen Sicherung eine (zeitlich unbegrenzte) Gewährung von Kindergeld für behinderte Kinder grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn die Behinderung, wegen derer das Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, in ihren objektiven Voraussetzungen vor der Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Daran ändert auch die Vorschrift des § 32 Abs. 7 EStG nF nichts. In zwei weiteren Verfahren (8/12 RKg 7/76 und 8/12 RKg 10/77) hat der erkennende Senat heute über im wesentlichen gleichgelagerte Sachverhalte entschieden. Da der vorliegende Fall keinen Anlaß gibt, von der in den Urteilen 8/12 RKg 7/77 und 8/12 RKg 7/76 eingehend dargelegten Rechtsauffassung abzuweichen, kann hier vollinhaltlich auf diese Entscheidungen verwiesen werden.
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des SG war der Sohn der Beigeladenen ... bei Vollendung seines 27. Lebensjahres am 10. April 1963 nicht außerstande, sich selbst zu unterhalten. Er erzielte nach dem Inhalt der von dem SG herangezogenen und bei der Urteilsfindung verwerteten Rentenakten der LVA (vgl. letzte Seite des Urteils) vom 23. Oktober 1954 bis 31. Juli 1967 Arbeitsentgelte, aufgrund deren Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung geleistet wurden. Er bezieht demgemäß eine Rente aus der Arbeiterrentenversicherung, die im März 1976 375,70 DM (nicht wie das SG irrig feststellte: 588,60 DM) betrug. Sein geistiges Gebrechen, das ihn außerstande setzt, sich selbst zu unterhalten, ist nach den ebenfalls nicht angegriffenen Feststellungen des SG erst nach Vollendung seines 27. Lebensjahres eingetreten (allerdings nicht schon 1965, sondern erst 1967). Beide Unrichtigkeiten, die offenbar auf eine Verwechslung mit seinem Bruder Gerhard zurückzuführen sind, sind für die Entscheidung rechtlich unerheblich. Das Kind M ist somit ins Leben getreten und hat eine Erwerbstätigkeit ausgeübt mit der Folge, daß es durch eigene Arbeitsleistung eine eigenständige soziale Sicherung aus der gesetzlichen Rentenversicherung erworben hat. Es widerspräche auch deshalb dem Sinn und Zweck der Kindergeldregelung, wenn man ihm im Erwachsenenalter von rund 40 Jahren noch als "Kind" i.S. des BKGG behandeln wollte. Damit liegen in seiner Person die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld über das 27. Lebensjahr hinaus (§ 2 Abs. 4 iVm Abs. 2 Nr. 3 BKGG) nicht vor. Da die Entziehungsmöglichkeit nach § 22 BKGG - anders als etwa nach § 62 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG), § 622 Abs. 1 oder § 1744 Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw. §§ 41, 42 Verwaltungsverfahrensgesetz der Kriegsopferversorgung (KOV-VfG) - nicht an bestimmte weitere Voraussetzungen geknüpft ist, ist der angefochtene Entziehungsbescheid vom 17. Mai 1976 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli 1976) nicht rechtswidrig.
Deshalb war, wie geschehen, zu erkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen