Leitsatz (amtlich)
Nimmt die Versorgungsbehörde einen Bescheid, durch den sie einen Anspruch auf Rente festgestellt hat, als von Anfang an rechtswidrig nach KOV-VfG § 41 zurück, so wirkt die Rücknahme auf den Zeitpunkt zurück, in dem der Bescheid erlassen ist, jedoch nicht über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des KOV-VfG (1955-04-01).
Normenkette
KOVVfG § 41 Abs. 1 Fassung: 1955-05-02
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. Juni 1958 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Ehe der Klägerin mit W O wurde im März 1942 geschieden; W O wurde für allein schuldig an der Scheidung erklärt, er heiratete kurz darauf wieder. Im Juli 1942 starb W O an den Folgen einer Wehrdienstbeschädigung. Das Versorgungsamt (VersorgA.) H bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 28. Januar 1952 Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG); es berücksichtigte dabei das Arbeitseinkommen, das die Klägerin seit 1949 bezog, nur insoweit, als es der Klägerin keine Ausgleichsrente gewährte. Mit Bescheid vom 6. März 1954 entzog das VersorgA. der Klägerin mit Zustimmung des Landesversorgungsamts ( LandesversorgA .) die Rente mit Ablauf des Monats April 1954, weil sich die Voraussetzungen des Bescheids vom 28. Januar 1952 als unzutreffend erwiesen hätten, es seien bei diesem Bescheid die Vorschriften des § 42 BVG in Verbindung mit §§ 58 ff. des Ehegesetzes nicht beachtet worden; der geschiedene Ehemann der Klägerin sei wegen des Einkommens der Klägerin nicht unterhaltspflichtig gewesen; die Voraussetzungen für eine Witwenrente nach § 42 BVG seien daher nicht erfüllt gewesen; das VersorgA. stützte diesen Bescheid auf die Ziffer 26 der Sozialversicherungsanordnung (SVA) Nr. 11 in Verbindung mit § 84 Abs. 3 BVG. Den Widerspruch wies das LandesversorgA . mit Bescheid vom 28. August 1954 zurück. Mit der Klage begehrte die Klägerin, die Bescheide vom 6. März 1954 und vom 28. August 1954 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr über den 30. April 1954 hinaus die Witwenrente zu gewähren.
Das Sozialgericht (SG.) Hamburg hob die Bescheide vom 6. März 1954 und vom 28. August 1954 auf; im übrigen wies es die Klage ab. Mit der Berufung machte die Klägerin geltend, ihr stehe die Witwenrente nach § 42 BVG zu, da ihr Lebensunterhalt durch ihr Arbeitseinkommen nicht völlig sichergestellt sei.
Das VersorgA. erließ am 31. März 1958 einen neuen Bescheid "gemäß § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) vom 2. Mai 1955"; es heißt darin, es verbleibe hinsichtlich der Entziehung der Witwenrente bei der Regelung in dem Bescheid vom 6. März 1954, diese werde nunmehr auch auf § 41 VerwVG gestützt. Der Bescheid wurde der Klägerin im April 1958 zugestellt. Die Klägerin änderte daraufhin ihren Antrag dahin, die Beklagte zu verurteilen, ihr die Witwenrente über den 30. April 1954 hinaus bis zum 31. Mai 1958 zu gewähren.
Die Beklagte legte mit Schriftsatz vom 14. April 1958 Anschlußberufung ein; sie beantragte, das Urteil des SG. aufzuheben, soweit in diesem Urteil die Bescheide vom 6. April 1954 und vom 28. August 1954 aufgehoben worden sind, und die Klage auch insoweit abzuweisen; die Beklagte beantragte ferner, die Berufung der Klägerin zurückzuweisen. Die Klägerin beantragte, die Anschlußberufung zurückzuweisen. Das Landessozialgericht (LSG.) Hamburg entschied mit Urteil vom 4. Juni 1958: "Auf die Berufung der Klägerin wird die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Urteils des SG. vom 26. September 1957 verurteilt, der Klägerin Witwenrente auch für die Zeit vom 1. Mai 1954 bis 31. Mai 1958 zu gewähren. Die Anschlußberufung wird zurückgewiesen."
Das LSG. führte aus, für den Bescheid vom 6. März 1954, in dem die Beklagte der Klägerin die Witwenrente entzogen habe, habe zu damaliger Zeit keine gesetzliche Grundlage bestanden; die Ziffer 26 der SVA Nr. 11 habe nicht mehr und § 41 VerwVG noch nicht gegolten. Die Rente sei erst durch den "Berichtigungsbescheid gemäß § 41 VerwVG" vom 31. März 1958 entzogen worden; dieser Bescheid wirke jedoch nur für die Zukunft; der Klägerin sei daher bis 31. Mai 1958 die mit dem Bescheid vom 28. Januar 1952 zuerkannte Rente zu gewähren; für die spätere Zeit habe die Klägerin Rente nicht mehr beansprucht. Die Revision ließ das LSG. zu.
Das Urteil wurde der Beklagten am 18. Juni 1958 zugestellt. Die Beklagte legte am 28. Juni 1958 Revision ein und beantragte,
die Urteile des LSG. und SG. im vollen Umfange aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie begründete die Revision am 16. August 1958: Das LSG. habe die Vorschriften der Ziffer 26 SVA 11 und des § 41 VerwVG verletzt; es habe zu Unrecht angenommen, die Ziffer 26 der SVA 11 sei keine geeignete Rechtsgrundlage für den Bescheid vom 6. März 1954 (Rentenentziehungsbescheid); es habe auch zu Unrecht die Auffassung vertreten, mit dem Bescheid vom 31. März 1958 ("Berichtigung nach § 41 VerwVG") habe die Beklagte die Rente nicht rückwirkend entziehen dürfen.
Die Klägerin beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Die Beklagte hat die Revision auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet; die Revision ist sonach zulässig; sie ist auch begründet.
Gegenstand des Verfahrens ist zunächst der Bescheid der Beklagten vom 6. März 1954; in diesem Bescheid hat die Beklagte den Bescheid vom 28. Januar 1952, durch den sie der Klägerin eine Rente bewilligt hat, zurückgenommen; die Beklagte hat den Bescheid vom 28. Januar 1952 als (von Anfang an) rechtswidrig angesehen; sie hat angenommen, dieser Bescheid habe nicht der wahren Sach- und Rechtslage entsprochen, die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente nach § 42 Abs. 1 BVG hätten nicht vorgelegen, weil der geschiedene Ehemann der Klägerin nach den eherechtlichen Vorschriften mit Rücksicht auf das eigene Arbeitseinkommen der Klägerin nicht verpflichtet gewesen sei, Unterhalt zu gewähren. Die Rente ist mit Ende April 1954 entzogen worden; die Beklagte hat die Rücknahme des Bewilligungsbescheids auf die Ziffer 26 der SVA Nr. 11 gestützt.
Der Bewilligungsbescheid vom 28. Januar 1952 ist ein begünstigender Verwaltungsakt; er ist deshalb nach den §§ 77 SGG, 24 VerwVG ebenso wie nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts für die Beklagte in der Sache bindend geworden (vgl. auch BSG. 7 S. 8 ff. (11); 10 S. 209 (210)), soweit "durch Gesetz" nichts anderes bestimmt ist. Für die Frage, ob die Beklagte den Bescheid vom 6. März 1954, in dem ein Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung zu erblicken ist, zu Recht erlassen hat, kommt es auf die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt an, in dem die letzte Verwaltungsentscheidung ergangen ist, nicht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (BSG. 7 S. 8 ff. (15)).
Das LSG. hat angenommen, für den Rücknahmebescheid vom 6. März 1954 habe keine gesetzliche Grundlage bestanden; die Rente sei damals zu Unrecht entzogen worden. Es trifft zwar zu, daß die Ziffer 26 der SVA Nr. 11 keine Rechtsgrundlage für die Rücknahme des Bescheids gewesen ist, denn diese Vorschrift hat nur bis zum 31. Dezember 1952 gegolten; sie ist auch nicht durch § 84 Abs. 3 BVG über den 31. Dezember 1952 hinaus aufrechterhalten worden (BSG. 8 S. 11 (13); 10 S. 72 (73, 74)); es ist auch richtig, daß § 41 VerwVG auf Bescheide, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erlassen worden sind, nicht anzuwenden ist (vgl. BSG. 8 S. 11 (13) mit weiteren Hinweisen). Das bedeutet aber nicht, daß in den Ländern der ehemaligen britischen Besatzungszone Bescheide mit Dauerwirkung, die in dem Zeitpunkt, in dem sie erlassen worden sind, rechtswidrig gewesen oder später rechtswidrig geworden sind, in der Zeit zwischen dem 31. Dezember 1952 (Außerkrafttreten der Ziffer 26 der SVA Nr. 11) und dem 1. April 1955 (Inkrafttreten des VerwVG) überhaupt nicht haben zurückgenommen werden dürfen. Die Frage, ob rechtswidrige Bescheide zurückgenommen werden dürfen, ist beim Fehlen einer besonderen gesetzlichen Regelung nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts zu beurteilen; auch die anerkannten Rechtsgrundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts sind "Gesetz" im Sinne der §§ 77 SGG, 21 VerwVG (vgl. auch BSG. 7 S. 51 (52, 53), 8 S. 11 (14), zustimmend Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 8 zu § 77, Hofmann-Schroeter, in Maunz-Schraft, Selbstverwaltungsrecht, Band 8, Erläuterung zu § 2 BVAG, Erlaß des BVA. vom 2.9.1959, BArbBl. 1959 S. 682, Rösener in "Die Berufsgenossenschaft" 1959 S. 507 ff. (unter III), and. Ans. Urteil des LSG. Celle vom 22.1.1960, Niedersächsisches Ministerialblatt 1960, Rspr. Beilage Nr. 7 S. 27). Nach diesen Grundsätzen ist die Rücknahme eines rechtswidrigen Bescheids rechtmäßig, wenn das öffentliche Interesse an gleichmäßiger Gewährleistung eines dem Gesetz entsprechenden Zustandes das Interesse des Begünstigten an dem Schutz seines Vertrauens auf den Bestand behördlicher Verfügungen überwiegt (vgl. hierzu besonders BSG. 10 S. 72 (75) mit weiteren Hinweisen). Der Bescheid vom 6. März 1954 ist danach dann rechtmäßig, wenn der Rentenbewilligungsbescheid vom 28. Januar 1952 rechtswidrig ist, d.h. wenn er der wahren Sach- und Rechtslage nicht entspricht und wenn das öffentliche Interesse an der Beseitigung des Bescheids das private Interesse der Klägerin am Bestand des Bescheids im dargelegten Sinne überwiegt. Bei der Frage, ob hier das Interesse der Klägerin an dem Schutz ihres Vertrauens auf den Fortbestand der Rentenbewilligung das allgemeine öffentliche Interesse, fehlerhafte Bescheide über wiederkehrende Leistungen jedenfalls für die Zukunft zu beseitigen, überwiegt, ist auch von Bedeutung, durch welche Umstände die Rechtswidrigkeit des Bescheids über die Rentenbewilligung verursacht worden ist und wessen Verantwortungsbereich diese Umstände zuzurechnen sind (vgl. hierzu BSG. 10 S. 72, 8 S. 11, 7 S. 8 und 51).
Der Senat kann nicht entscheiden, ob der angefochtene Bescheid vom 6. März 1954 nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts über die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte rechtmäßig ist, da das LSG. insoweit keine rechtserheblichen Tatsachen festgestellt hat (vgl. insoweit BSG. 10 S. 72 (76, 77) mit weiteren Hinweisen). Ist der Bescheid vom 6. März 1954 rechtmäßig, so steht damit fest, daß der Klägerin seit Ende April 1954 keine Rente mehr zusteht; der Anspruch auf Gewährung der Rente für die Zeit vom 1. Mai 1954 bis 31. Mai 1958 ist dann unbegründet; der Bescheid vom 31. März 1958 ist in diesem Falle ohne rechtliche Bedeutung, weil der Bescheid, auf den er sich bezieht, nicht mehr existiert.
Ist der Bescheid vom 6. März 1954 rechtswidrig, so bleibt zu prüfen, ob die Rücknahme des Bewilligungsbescheids durch den Bescheid vom 31. März 1958 rechtmäßig ist. Die Beklagte hat die Rücknahme des Bewilligungsbescheids, die sie bereits in dem Bescheid vom 6. März 1954 verfügt hat, mit dem Bescheid vom 31. März 1958 erneut verfügt; sie hat insoweit die neue Rechtslage, die durch das VerwVG vom 2. Mai 1955 eingetreten ist, zum Anlaß genommen, eine neue Regelung zu treffen, also einen neuen Verwaltungsakt zu erlassen; sie hat diesen neuen Verwaltungsakt auch unter Aufrechterhaltung der Regelung in dem Bescheid vom 6. März 1954 erlassen können, nämlich hilfsweise für den Fall, daß sich der "streitbefangene" Bescheid vom 6. März 1954 - entgegen ihrer Auffassung - nicht als rechtmäßig erweist. Die Beklagte hat aber eine neue Regelung nach § 41 VerwVG nur für den zeitlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes treffen dürfen; sie hat den Rentenbewilligungsbescheid vom 28. Januar 1952 nach § 41 VerwVG nur für die Zeit nach dem 1. April 1955 zurücknehmen dürfen; nur insoweit hat sie die Folgen des rechtswidrigen Verwaltungsakts beseitigen dürfen, nicht auch für die Zeit vorher, für die ihr die Ermächtigung, nach § 41 VerwVG einen rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen, noch nicht zur Verfügung gestanden hat.
Die Rücknahme des Bewilligungsbescheids vom 28. Januar 1952 und damit die Entziehung der Rente wirken daher, wenn sie - wie dies in dem Bescheid vom 31. März 1958 geschehen ist - auf § 41 VerwVG gestützt werden, erst von dem Inkrafttreten dieses Gesetzes an; § 41 VerwVG ermächtigt die Verwaltung, einen Verwaltungsakt, der von Anfang an rechtswidrig ist, zurückzunehmen und damit eine neue Regelung zu treffen, durch die das Rechtsverhältnis der Beteiligten mit der wahren Sach- und Rechtslage in Übereinstimmung gebracht wird; damit wird das Rechtsverhältnis der Beteiligten "ex tunc" auf eine andere Grundlage gestellt. Wenn ein Gesetz die Verwaltung in dieser Weise ermächtigt, einen Verwaltungsakt als von Anfang an rechtswidrig zurückzunehmen, ohne dabei insoweit, als Verwaltungsakte mit Dauerwirkung betroffen werden, nicht Rücknehmbarkeit mit Wirkung lediglich für die Zukunft und Rücknehmbarkeit mit Wirkung auch für die Vergangenheit zu unterscheiden (vgl. Haueisen in "Die Ortskrankenkasse" 1958 S. 385 ff. (386)), so wirkt die Rücknahme auf den Zeitpunkt zurück, in dem der rechtswidrige Bescheid erlassen ist; das gilt jedoch nicht, wenn das Gesetz, das die Ermächtigung zur Rücknahme enthält, erst zu einem späteren Zeitpunkt in Kraft getreten ist, über diesen Zeitpunkt kann die Rücknahme nicht in die Vergangenheit wirken. Dieser Rechtslage entspricht auch die Regelung, die für die Rückforderung gewährter Leistungen bei "Berichtigung" nach § 41 VerwVG in § 47 Abs. 3 VwVG getroffen ist (vgl. auch Strack, ZfS. 1956 S. 273 (274), BSG. 7 S. 288 (291)). Im vorliegenden Fall wirkt deshalb die Rücknahme des Bescheids vom 28. Januar 1952, soweit sie auf Grund des § 41 VerwVG durch den Bescheid vom 31. März 1958 verfügt ist, erst vom 1. April 1955 an. Ist deshalb der Bescheid vom 31. März 1958 nach § 41 VerwVG rechtmäßig, und damit die Rücknahme der Rentenbewilligung ab 1. April 1955 wirksam, so hat die Klägerin für die spätere Zeit keinen Anspruch auf Rente; der Anspruch auf Rente bis 31. März 1955 auf Grund des Bescheids vom 28. Januar 1952 wird durch den Bescheid vom 31. März 1958 jedoch nicht berührt.
Die Revision ist danach begründet, das Urteil des LSG. ist aufzuheben.
Das BSG. kann in der Sache nicht selbst entscheiden. Die Sache ist deshalb an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen