Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 18.09.1991) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. September 1991 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung eines Rentenbewilligungsbescheides mit Wirkung für die Vergangenheit und einen Erstattungsanspruch der Beklagten. Insbesondere ist umstritten, ob das Berufungsgericht den auf § 45 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) gestützten Rücknahmebescheid in einen Aufhebungsbescheid nach § 48 SGB X umdeuten durfte.
Der 1927 geborene Kläger beantragte am 31. Juli 1985 bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit (EU/BU). Dabei gab er an, er sei seit dem 1. Februar 1984 arbeitslos und beziehe Arbeitslosengeld (Alg). Nachdem das Arbeitsamt Hannover (ArbA) der Beklagten mitgeteilt hatte, dem Kläger sei bis zum 21. Dezember 1985 Alg in Höhe von wöchentlich 360,00 DM bewilligt worden, erkannte diese mit Bescheid vom 1. November 1985 den Anspruch des Klägers auf BU-Rente seit 1. August 1985 an. Weiter wird in dem Bescheid ausgeführt, die Rente betrage vom 1. August bis zum 30. November 1985 0,00 DM; nach § 1283 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ruhe die Rente bis zur Höhe des Alg. Der Kläger werde gebeten, die Bestätigung des ArbA einzusenden, sobald die Zahlung des Alg endgültig eingestellt sei; die Beklagte behalte sich vor, die Rente neu festzustellen und ggf überzahlte Beträge zurückzufordern, falls sich Höhe oder Bezugsdauer des Alg nachträglich ändern sollten.
Mit Bescheid vom 12. November 1985 stellte die Beklagte unter Hinweis auf § 1283 RVO fest, nach dem Ergebnis ihrer Berechnung ruhe die Rente des Klägers wegen des Zusammentreffens mit dem Alg ab 1. August 1985 in voller Höhe; nach Einstellung der Zahlung des Alg sei die Rente ab 22. Dezember 1985 in voller Höhe zu zahlen. Sie behalte sich vor, die Rente neu festzustellen und ggf überzahlte Beträge zurückzufordern, falls sich Höhe oder Bezugsdauer des Alg nachträglich ändern sollten. Der Bezug einer Leistung aus der Arbeitslosenversicherung sowie jede Veränderung derselben seien ihr mitzuteilen; für den Fall, daß der Mitteilungspflicht nicht genügt werden sollte, behalte sie sich vor, überzahlte Beträge zurückzufordern.
Am 14. August 1986 beantragte der Kläger die Umwandlung der ihm gewährten BU-Rente in eine Rente wegen EU. Dabei gab er an, er beziehe seit 1. August 1985 Alg. Aus der von der Beklagten nunmehr eingeholten Auskunft des ArbA ergab sich, daß dem Kläger über den 21. Dezember 1985 hinaus bis zum 11. August 1986 Alg gewährt wurde. Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie beabsichtige, den Bescheid vom 1. November 1985 gemäß § 48 SGB X aufzuheben, weil gegenüber den Verhältnissen zum Zeitpunkt der Bewilligung der Rente eine Änderung insoweit eingetreten sei, als er in der Zeit vom 22. Dezember 1985 bis zum 11. August 1986 Alg bezogen habe. Die zu Unrecht erbrachten Leistungen in Höhe von 8.160,74 DM habe er dann nach § 50 SGB X zu erstatten. Der Kläger wandte ein, es liege keine Änderung der Verhältnisse vor, denn er sei seit 1984 arbeitslos; dies habe er auch bei seinem Rentenantrag wahrheitsgemäß mitgeteilt. Nach Erhalt des Bescheides vom 1. November 1985 habe er vom ArbA die Auskunft erhalten, neben der BU-Rente stehe ihm weiterhin das volle Alg zu. Darauf habe er sich verlassen und die erhaltenen Beträge ausgegeben.
Mit Bescheid vom 4. Dezember 1986 hob die Beklagte gleichwohl ihren Bescheid vom 12. November 1985 auf und stellte fest, die für die Zeit vom 22. Dezember 1985 bis zum 11. August 1986 gezahlte Rente sei in Höhe von 8.160,74 DM zu erstatten. Der Bescheid sei rechtswidrig und nach § 45 Abs 2 Nr 3 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben, weil der Kläger trotz der entsprechenden Hinweise im Bescheid den Weiterbezug des Alg nicht mitgeteilt habe. Der vom Kläger hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 1987).
Das Sozialgericht Hannover (SG) hat der Klage mit Urteil vom 27. April 1990 stattgegeben und die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid der Beklagten sei wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Nr 3 SGB X rechtswidrig. Der Kläger habe die Rechtswidrigkeit des Bescheides nicht infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt, denn aufgrund der ihm vom ArbA erteilten Auskunft, er könne BU-Rente und Alg nebeneinander beziehen, habe er die erforderliche Sorgfalt nicht in besonders schwerem Ausmaß verletzt, wenn er sich nicht noch – was allerdings nahegelegen habe – an die Beklagte gewandt habe.
Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG auf die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 18. September 1991 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 4. Dezember 1986 sei im Ergebnis rechtmäßig. Zwar sei die Beklagte zu Unrecht von § 45 SGB X als Rechtsgrundlage ausgegangen, weil der Bescheid bei seinem Erlaß nicht rechtswidrig gewesen sei. Der Bescheid sei aber zulässigerweise in einen Aufhebungsbescheid nach § 48 SGB X umzudeuten. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse sei dadurch eingetreten, daß dem Kläger nachträglich Alg gewährt worden und dadurch die Rente zum Ruhen gekommen sei. Die Aufhebung habe auch in entsprechender Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse erfolgen dürfen. Ermessenserwägungen, ob ausnahmsweise von der Aufhebung abgesehen werden könne, habe die Beklagte nicht anstellen müssen. Die Verwaltung sei nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in der Regel zur Aufhebung verpflichtet; ein „atypischer Ausnahmefall”, bei dem ihr ein Ermessen eröffnet sei, liege nicht vor. Das Verhalten der Beklagten sei nicht als grober Verwaltungsfehler zu beurteilen. Es sei ihr nicht zuzumuten gewesen, nach Verabschiedung des 7. Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), aufgrund dessen sich der Bezugszeitraum für das dem Kläger gewährte Alg verlängert habe, die Akten aller Versicherten daraufhin zu überprüfen, ob durch die gesetzlichen Neuregelungen ein weiteres Ruhen der Renten eingetreten sei. Angesichts der eindeutigen schriftlichen Mitteilungen der Beklagten habe der Kläger trotz der von ihm behaupteten gegenteiligen Auskünfte des ArbA auch nicht in schützenswerter Weise darauf vertrauen dürfen, daß er die während des Alg-Bezuges empfangene Rente behalten und verbrauchen durfte.
Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 43 und 48 SGB X. Das LSG sei nicht berechtigt gewesen, von sich aus den rechtsfehlerhaften Bescheid vom 4. Dezember 1986 in einen anderen Verwaltungsakt (VA) umzudeuten, denn hierzu sei nur eine Behörde befugt. Im übrigen wäre eine Umdeutung hier nach § 43 Abs 2 SGB X unzulässig, weil die Rechtsfolgen des umgedeuteten für ihn ungünstiger wären als die des fehlerhaften VA.
Außerdem habe das LSG die Ruhensvorschrift des § 1283 RVO zu Unrecht der Regelung des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X zugeordnet und auch unzutreffend das Vorliegen eines „atypischen Falles” verneint. Auch habe er im Dezember 1985 von der Wiederbewilligung des Alg, die erst aufgrund einer rückwirkend zum 1. Januar 1986 eingetretenen Gesetzesänderung erfolgt sei, nicht gewußt und dementsprechend auch nicht gegen Mitteilungspflichten verstoßen können.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Niedersächsischen LSG vom 18. September 1991 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hannover vom 27. April 1990 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ergänzend aus, auch den Gerichten stehe das Recht zu, einen rechtswidrigen in einen rechtmäßigen Bescheid umzudeuten. Die Voraussetzungen für eine Umdeutung seien gegeben; ein „atypischer Fall” iS der ständigen Rechtsprechung des BSG zu § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X liege nicht vor, weil der Kläger die überzahlten Rentenbeträge nicht gutgläubig empfangen habe.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis zur Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Die berufungsgerichtlichen Feststellungen reichen für die abschließende Beurteilung, ob die Beklagte den Rentenbewilligungsbescheid mit Rückwirkung aufheben und die überzahlten Leistungen zurückfordern durfte, nicht aus. Es sind ergänzende Feststellungen dazu erforderlich, ob und wann der Kläger bei dem ArbA vorgesprochen hat und welche Auskunft ihm dort ggf erteilt worden ist.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der mit der Klage angefochtene Bescheid vom 4. Dezember 1986, mit dem die Beklagte den begünstigenden Bescheid vom 12. November 1985 teilweise aufgehoben hat. Der Kläger hat Anspruch auf Aufhebung dieses Bescheides, wenn er rechtswidrig ist und ihn in seinen Rechten verletzt, § 54 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 2 Satz 1 SGG.
Bei dem angefochtenen Bescheid handelt es sich um einen Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X. Verwaltungsakte sind unter entsprechender Anwendung der Grundsätze über die Auslegung von Willenserklärungen auszulegen (vgl BSG SozR 4100 § 117 Nr 21 S 112); es ist also nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern der wirkliche (erklärte) Wille ist zu erforschen (§ 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches ≪BGB≫ analog). In der Begründung des Bescheides wird ausgeführt, der Bescheid werde zurückgenommen, weil dem Kläger bekannt gewesen sei, daß die Rentenzahlung erst nach Wegfall des Alg-Bezuges wieder habe einsetzen dürfen, er den Weiterbezug des Alg aber pflichtwidrig nicht mitgeteilt und so die Rechtswidrigkeit gekannt habe. Diese Begründung könnte sich zwar sowohl auf einen Tatbestand des § 48 SGB X als auch einen Tatbestand des § 45 SGB X beziehen; zudem wird im Anhörungsschreiben eine Aufhebung nach § 48 SGB X in Aussicht gestellt. Angesichts der ausdrücklichen Stützung des Bescheides auf § 45 SGB X scheidet aber angesichts der übrigen Unklarheiten eine Auslegung als Aufhebungsbescheid nach § 48 SGB X aus.
Die Voraussetzungen des § 45 SGB X liegen jedoch nicht vor. Nach dessen Abs 1 darf ein (begünstigender) VA, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden, soweit er rechtswidrig ist. Dabei muß die Rechtswidrigkeit von Anfang an bestanden, der VA also bereits bei seinem Erlaß nicht mit der materiellen Rechtslage übereingestimmt haben (vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 60 S 176). Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Bei seinem Erlaß, dh seiner Bekanntgabe (§ 37 SGB X) im November 1985, entsprach der Bescheid der damaligen Rechtslage, wie das LSG im Ergebnis zutreffend erkannt hat. Die Beklagte hat zum damaligen Zeitpunkt zu Recht das Ruhen der BU-Rente nach § 1283 Abs 1 Satz 1 RVO bis zum 21. Dezember 1985 wegen Zusammentreffens mit Alg angenommen und dementsprechend die Leistungsgewährung (nur) bis zu diesem Zeitpunkt abgelehnt.
Die BU-Rente trifft iS des § 1283 Abs 1 Satz 1 RVO dann mit dem Alg zusammen, wenn die entsprechenden materiell-rechtlichen Ansprüche bestehen (vgl BSG SozR 3100 § 45 Nr 29 S 92 = BSGE 61, 278, 280; BSGE 33, 234, 236 = SozR Nr 5 zu § 1279 RVO). Das Ruhen tritt kraft Gesetzes ein, ohne daß es eines feststellenden VA's bedarf (BSGE 33, 234, 235). Nach der Auskunft des ArbA, an deren Richtigkeit keine Zweifel vorgetragen worden sind, war das Alg lediglich bis zum 21. Dezember 1985 bewilligt worden; es ist davon auszugehen, daß dieser Bezugszeitraum der damaligen materiellen Rechtslage entsprach. Zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses trafen also BU-Rente und Alg lediglich bis zum 21. Dezember 1985 zusammen. Der Anspruch des Klägers auf Gewährung von Alg über diesen Zeitpunkt hinaus entstand erst (rückwirkend) mit dem Inkrafttreten des § 106a AFG am 1. Januar 1986 (Art 1 Nr 21 und Art 13 des Gesetzes zur Änderung des AFG vom 20. Dezember 1985 ≪BGBl I S 2484≫), der den Bezugszeitraum des Alg für ältere Arbeitslose verlängerte.
Das Ruhen des Anspruchs auf BU-Rente über den 21. Dezember 1985 hinaus trat demnach erst nach Erlaß des Bewilligungsbescheides ein. Dieser Bescheid war mithin nicht von Anfang an rechtswidrig, sondern wurde es insoweit erst nachträglich. Ein nach seinem Erlaß aufgrund einer Änderung der rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse rechtswidrig gewordener begünstigender VA mit Dauerwirkung kann nicht nach § 45 SGB X zurückgenommen, sondern nur nach § 48 SGB X aufgehoben werden. Der Bescheid ist mithin rechtswidrig, wenn er nicht in einen rechtmäßigen VA nach § 48 SGB X umgedeutet werden kann.
Nach § 43 Abs 1 SGB X kann ein fehlerhafter VA in einen anderen VA umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können, und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlaß erfüllt sind. Dies gilt nicht, wenn der VA, in den der fehlerhafte VA umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche, oder wenn seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften VA (aaO Abs 2).
§ 43 SGB X gibt der erlassenden Behörde die Befugnis zur Umdeutung (Konversion), eine gerichtliche Kompetenz hierzu begründet diese das Verwaltungs- und nicht das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift jedoch nicht (vgl Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen – Wiesner, SGB X, 2. Aufl 1990, § 43 Anm 2). Gleichwohl sind auch die Gerichte zur Umdeutung bzw Feststellung der Umdeutung berechtigt. Bei der Prüfung, ob eine Anfechtungsklage nach § 54 Abs 1 Satz 1 SGG begründet ist, hat das Gericht zu ermitteln, ob der angefochtene VA rechtswidrig ist, § 54 Abs 2 Satz 1 SGG. Dabei hat es die Verwaltungsentscheidung wegen der grundsätzlichen Regelungsbefugnis der Verwaltungsbehörde „schonend” zu behandeln und zu halten, soweit sie unter Berücksichtigung aller in Betracht kommender Rechtsvorschriften und aller entscheidungserheblichen Tatsachen mit materiellem und formellem Recht zu vereinbaren ist. Hierbei ist auch zu untersuchen, ob der VA deshalb als rechtmäßig anzusehen ist, weil die Voraussetzungen für eine Umdeutung vorliegen. Diese Befugnis ergibt sich aus dem Prozeßrecht. Da § 43 SGB X lediglich das Verwaltungsverfahren betrifft, folgt daraus zwar einerseits keine gerichtliche Befugnis zur Umdeutung, andererseits wird eine solche durch diese Vorschrift aber auch nicht ausgeschlossen (vgl BVerwG DÖV 1985, 152 zum inhaltsgleichen § 47 des Verwaltungsverfahrensgesetzes ≪VwVfG≫; Laubinger VerwArch 1978, 345, 351 mwN zur Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit; Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen – Wiesner, SGB X, 2. Aufl 1990, § 43 Anm 2; im Ergebnis auch Weyreuther DÖV 1985, 126, 132; so wohl auch BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 25 S 42; SozR 3-4100 § 63 Nr 2 S 14; SozR 3-3660 § 1 Nr 1). Dabei ist die Umdeutung eines auf § 45 SGB X gestützten VA in einen solchen nach § 48 SGB X grundsätzlich möglich; § 43 Abs 3 SGB X bzw der darin enthaltene allgemeine Rechtsgedanke steht dem nicht entgegen (vgl BSG SozR 3-3660 § 1 Nr 1 S 3).
Ein Bescheid nach § 48 SGB X könnte von der Beklagten in der hier geschehenen Weise und Form erlassen werden und wäre auf das gleiche Ziel gerichtet wie der umzudeutende Bescheid, nämlich auf die (Teil-) Aufhebung des Bescheides vom 12. November 1985, soweit damit ab 22. Dezember 1985 BU-Rente bewilligt wird. Seine Rechtsfolgen wären daher für den Kläger auch nicht ungünstiger als die des fehlerhaften VA. Der Ansicht des Klägers, die Rechtsfolgen des umgedeuteten VA seien wegen des Vertrauensschutzes in § 45 Abs 2 SGB X, der bei § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X nicht gegeben sei, ungünstiger und eine Umdeutung daher nicht zulässig, kann nicht gefolgt werden. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 SGB X liegen hier gerade nicht vor, der dort vorgesehene Vertrauensschutz stand dem Kläger mithin auch nicht zu. Beim Vergleich der Belastungen muß die Wirksamkeit des umzudeutenden VA unterstellt werden, weil sonst – jedenfalls bei einem belastenden VA – notwendigerweise immer eine Verschlechterung durch die Umdeutung in einen rechtmäßigen VA eintreten würde (vgl BSG SozR 3-3660 § 1 Nr 1). Im übrigen wird der Regelfall der Umdeutung so beschaffen sein, daß die strengeren Voraussetzungen, die für den umzudeutenden Bescheid gelten, nicht vorliegen, wohl aber die weniger strengen Voraussetzungen für einen Bescheid, in den umgedeutet werden soll.
Der Rücknahmebescheid kann nur dann in einen Aufhebungsbescheid nach § 48 SGB X umgedeutet werden, wenn dieser dann rechtmäßig wäre. Nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein VA mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich sind alle Änderungen, die dazu führen, daß die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den VA nicht oder nicht wie geschehen hätte erlassen dürfen (vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 44). Das Entstehen des Anspruchs auf Weitergewährung von Alg über den 21. Dezember 1985 hinaus nach Erlaß des Bescheides vom 12. November 1985 stellt eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse in diesem Sinne dar, denn auch das Eintreten eines Ruhenstatbestandes ist eine wesentliche Änderung. Durch das Entstehen des Alg-Anspruchs ist das Ruhen der BU-Rente vom 22. Dezember 1985 an eingetreten. Diese hätte daher nicht bereits von diesem Zeitpunkt an, sondern erst ab Wegfall des Anspruchs auf Alg gewährt werden dürfen.
Die Aufhebung eines VA mit Wirkung für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse setzt jedoch außer der wesentlichen Änderung voraus, daß einer der Tatbestände des § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 1 bis 4 SGB X vorliegt; ist dies der Fall, „soll” der VA aufgehoben werden. Gegeben sind hier jedenfalls die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X analog. Danach soll der VA mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit nach Antragstellung oder Erlaß des VA Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. Diese Vorschrift ist hier zwar nicht unmittelbar anwendbar, denn der Fall, daß das erzielte Einkommen oder Vermögen nicht zum Wegfall oder zur Minderung, sondern lediglich zum Ruhen des durch den VA bewilligten Anspruchs führt, ist darin nicht erwähnt. Eine entsprechende Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X auf Ruhensfälle ist jedoch jedenfalls insoweit angezeigt, als das Ruhen durch nachträglich erzieltes Einkommen eingetreten ist. Dies hat bereits der 7. Senat des BSG in seinem Urteil vom 19. Februar 1986 – 7 RAr 55/84 – (= BSG SozR 1300 § 48 Nr 22) mit eingehender Begründung entschieden, der sich der erkennende Senat anschließt. Gegenstand jenes Verfahrens war zwar ein nachträglich zum Ruhen gekommener Anspruch auf Arbeitslosenhilfe. Für einen Rentenanspruch kann jedoch nichts anderes gelten. Sinn und Zweck dieser Regelung, die bewilligte Leistung dem Betroffenen insoweit nicht zu belassen, als später Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das an die Stelle dieser Leistung treten kann, lassen vielmehr in dieser Hinsicht eine unterschiedliche Bewertung nicht zu. Daß in § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X ausdrücklich der Eintritt des – allgemein, nicht auf Rentenansprüche beschränkten -Ruhens geregelt ist, steht dieser Auslegung nicht entgegen. Die Regelungen in Nrn 1 bis 4 des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern können gleichzeitig nebeneinander erfüllt sein (vgl Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen – Wiesner, aaO, § 48 Anm 7).
Das Alg gehört zum Einkommen iS der Nr 3, denn hierunter fallen auch die nicht zu den Einkünften iS des Steuerrechts gehörenden geldwerten steuerfreien Bezüge und Sozialleistungen (vgl Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen – Wiesner, SGB X, 2. Aufl 1990, § 48 Anm 7.3). Es ist auch nach Erlaß des Bescheides vom 12. November 1985 erzielt worden. Damit ist die Aufhebung mit Rückwirkung aber noch nicht rechtmäßig.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG bedeutet das „soll” in § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X nämlich, daß der Leistungsträger den VA id Regel rückwirkend aufzuheben hat, in „atypischen Fällen” hiervon jedoch absehen darf. Dabei ist die Feststellung, ob ein „atypischer Fall” vorliegt, gerichtlich in vollem Umfang nachprüfbar; sie ist nicht Teil der Ermessensentscheidung. Das Gericht darf den angefochtenen Bescheid wegen fehlender Ermessensausübung aufheben, wenn die Prüfung ergibt, daß ein „atypischer Fall” gegeben ist (vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 19 = BSGE 59, 111, 116; SozR 1300 § 48 Nr 44 mwN; SozR 3-4100 § 63 Nr 2).
Wann ein „atypischer Fall” vorliegt, in dem die Behörde eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen hat, ob der VA mit Dauerwirkung rückwirkend aufgehoben wird, hängt von dem jeweiligen Zweck der Regelung des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X und den Umständen des Einzelfalls ab; diese müssen signifikant zum Nachteil des Betroffenen vom (typischen) Regelfall abweichen, in dem die Rechtswidrigkeit eines ursprünglich rechtmäßigen VA durch nachträgliche Veränderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist (vgl BSG aaO; s auch SozR 1300 § 48 Nr 22 S 56). Dies ist etwa dann der Fall, wenn der Leistungsempfänger durch die mit der Rücknahme verbundenen Nachteile, insbesondere die aus § 50 Abs 1 SGB X folgende Pflicht zur Erstattung der erbrachten Leistungen in besondere Bedrängnis gerät (vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 19 = BSGE 59, 111, 116), wenn er sonst für den von der Rücknahme betroffenen Zeitraum Anspruch auf eine andere Sozialleistung, etwa auf Sozialhilfe, gehabt hätte (vgl BSG SozR 1300 § 50 Nr 6), oder wenn er entreichert ist (vgl BSG SozR 5870 § 2 Nr 30 S 103). Beispiele für vergleichbare Härten finden sich zB in § 76 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IV) und in § 42 Abs 3 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I). Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist im Falle des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X ein „atypischer Fall” zwar noch nicht dann anzunehmen, wenn die Aufhebung eine Rückforderung zur Folge hat, aber zB dann, wenn der Leistungsempfänger im Zeitpunkt des Verbrauchs des nachträglich erzielten Einkommens mit einer Erstattungsforderung nicht rechnete oder zu rechnen hatte; dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Betroffene im Vertrauen auf die Richtigkeit einer von den Bediensteten der dafür zuständigen Behörde ihm gegebenen Information das später erzielte Einkommen verbraucht hat (vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 22 S 57).
Ob danach hier ein „atypischer Fall” anzunehmen ist, kann aufgrund der berufungsgerichtlichen Feststellungen nicht abschließend beurteilt werden. Der Kläger hat im Berufungsverfahren behauptet, er habe „nach Erhalt des Bescheides vom 1. November 1985” das ArbA aufgesucht; dort hätten die für ihn zuständige Sachbearbeiterin sowie eine weitere hinzugezogene Kollegin ihm gemeinsam erklärt, der Bezug von Alg sei mit dem gleichzeitigen Bezug von BU-Rente vereinbar. Im Vertrauen darauf habe er die ihm ausgezahlten Rentenbeträge ausgegeben. Das LSG hat diese Behauptungen im Tatbestand des angefochtenen Urteils zum Teil wiedergegeben und in den Entscheidungsgründen lediglich unterstellt, daß sie zutreffen. Entsprechende Feststellungen hat es nicht getroffen. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen, weil dieser Vortrag den Tatbestand eines „atypischen Falles” jedenfalls dann erfüllt, wenn der Kläger bei dem ArbA nach Bekanntmachung des Bescheides vom 12. November 1985 vorgesprochen hat. Ein Versicherter, der bei Unklarheit über seine Berechtigung zum gleichzeitigen Bezug mehrerer sozialer Leistungen die Auskunft eines der beteiligten Sozialleistungsträger einholt, kann auf deren Richtigkeit vertrauen und beide Leistungen verbrauchen, falls nicht besondere Umstände Anlaß zu Zweifeln geben. Der Kläger hat nach seinem Vortrag zunächst die Auskunft einer zuständigen Sachbearbeiterin des ArbA eingeholt und sodann die Richtigkeit dieser Auskunft noch durch eine zweite Sachbearbeiterin bestätigen lassen. Daß er sich durch dieses Vorgehen einen hohen subjektiven Gewißheitsgrad verschafft hat, erscheint einleuchtend. Angesichts der für ihn undurchschaubaren Gesetzesänderungen, durch die er mit Rückwirkung einen Alg-Anspruch erhielt, konnte er auf dieser Grundlage auch entsprechend seinem Vortrag davon ausgehen, daß damit die Belehrungen über die Folgen des Zusammentreffens von Alg und BU-Rente in den Bewilligungsbescheiden obsolet geworden waren. In dieser Situation konnte er die ausgezahlten Rentenbeträge ausgeben, ohne mit einer Erstattungsforderung rechnen zu müssen.
Falls die noch anzustellenden Ermittlungen ergeben, daß ein „atypischer Fall” vorlag, der eine Ermessensentscheidung der Beklagten notwendig machte, ist der Bescheid vom 4. Dezember 1986 einschließlich der Erstattungsanordnung nach § 50 SGB X rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt, weil eine Ermessensausübung nicht stattgefunden hat. In diesem Fall können auch die Voraussetzungen der übrigen Aufhebungstatbestände des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X nicht gegeben sein. Falls der Kläger darauf vertrauen konnte, daß er Alg und BU-Rente gleichzeitig beziehen durfte, ist er nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig einer Pflicht zur Mitteilung einer Änderung der Verhältnisse nicht nachgekommen (aaO Nr 2) und hat auch das Ruhen des Anspruchs auf BU-Rente nicht infolge einer Verletzung der erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße nicht gekannt (aaO Nr 4); der Tatbestand aaO Nr 1 kommt ohnehin nicht in Betracht, weil die Änderung nicht zugunsten des Klägers erfolgt ist.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen