Leitsatz (amtlich)
1. Die Witwe darf die Rangfolge der für ihre Versorgung heranzuziehenden Ansprüche nicht durch Vereinbarungen mit dem Unterhaltsschuldner (zB Unterhaltsverzicht) umstoßen (Anschluß an BSG in SozR Nrn 9, 13, 16, 33, 34 zu § 1291 RVO).
2. Die wiederaufgelebte Witwenrente kann zu jedem nach der Scheidung liegenden Zeitpunkt neu festgestellt werden, sobald hinsichtlich eines auf sie anrechenbaren Versorgungs-, Unterhalts- oder Rentenanspruchs eine Änderung eintritt (BSG 1972-07-11 5 RJ 350/71 = BSGE 34, 221).
3. Bei der Ermittlung der auf die wiederaufgelebte Witwenrente anrechenbaren Versorgungs-, Unterhalts- und Rentenansprüche aus zweiter Ehe muß die wiederaufgelebte Witwenrente außer Betracht bleiben.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1972-10-16
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 29. Mai 1974 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist die Kürzung einer wiederaufgelebten Witwenrente wegen Zusammentreffens mit einem Unterhaltsanspruch aus zweiter Ehe (§ 1291 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die 1908 geborene Klägerin bezog bis zu ihrer Wiederverheiratung (1960), Witwenrente. Ihre zweite Ehe wurde im November 1965 aus der Alleinschuld des Mannes geschieden. Dabei verzichtete die damals noch erwerbstätige Klägerin auf jegliche Unterhaltsansprüche. Die Beklagte gewährte ihr ab 1. Dezember 1965 wiederaufgelebte Witwenrente in voller Höhe mit dem Hinweis, Unterhaltsansprüche bestünden zur Zeit nicht. 1968 gaben die geschiedenen Eheleute ihre Erwerbstätigkeiten auf. Die Klägerin erhielt ab 1. April 1968 monatlich 164,70 DM, ihr geschiedener Mann ab 1. Oktober 1968 monatlich 624,80 DM Altersruhegeld. Am 20. Dezember 1968 ging der geschiedene Mann der Klägerin eine neue Ehe ein.
Mit Änderungsbescheid vom 2. Oktober 1969 kürzte die Beklagte die damals monatlich 341,- DM betragende wiederaufgelebte Witwenrente der Klägerin ab 1. Dezember 1969 um einen fiktiven Unterhaltsbetrag von 95,- DM. Sie vertrat die Auffassung, der Klägerin stehe ein Drittel der Altersruhegeldsumme von (164,70 + 624,80 =) 789,50 DM, also 263,16 DM als Unterhalt zu. Da ihr Altersruhegeld 164,70 DM ausmache, habe sie deshalb einen Unterhaltsanspruch von (263,16 - 164,70 =) 98,46 DM, der auf 95,- DM abzurunden sei.
Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Lüneburg durch Urteil vom 12. Juli 1972 den Änderungsbescheid aufgehoben. Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat in seinem Urteil vom 29. Mai 1974 ausgeführt: Die Kürzung einer wiederaufgelebten Witwenrente sei zwar zulässig. Nicht realisierbare Unterhaltsansprüche dürften jedoch nicht angerechnet werden. Die Beklagte habe deshalb die wiederaufgelebte Witwenrente nur dann um 95,- DM kürzen dürfen, wenn die Klägerin einen ebenso hohen Unterhaltsanspruch gegen ihren geschiedenen Mann habe durchsetzen können. Das sei nicht der Fall. Die Klägerin habe nach der Kürzung der Rente noch über ein Monatseinkommen von (246,- + 164,70 =) 410,70 DM verfügt. Ihr geschiedener Mann habe außer seinem Altersruhegeld von 624,80 DM eine möglicherweise anrechenbare Firmenbeihilfe von 97,- DM, insgesamt also 721,80 DM monatlich bezogen. Die Klägerin sei mithin am Gesamteinkommen von (721,80 + 410,70 =) 1132,50 DM mit mehr als einem Drittel (= 377,50 DM), also angemessen beteiligt gewesen. Es habe deshalb für sie kein Unterhaltsanspruch bestanden. Dasselbe habe für die folgenden Jahre zu gelten, weil die Altersruhegelder und auch die Witwenrente in etwa demselben Verhältnis gestiegen seien. Dieser Berechnungsweise könne nicht entgegengehalten werden, daß die wiederaufgelebte Witwenrente wegen ihrer Subsidiarität bei der Prüfung, ob ein Unterhaltsanspruch bestehe, außer Betracht bleiben müsse; denn auch der Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen ihren geschiedenen Mann sei von der Höhe ihres sonstigen Einkommens abhängig, also ebenfalls subsidiär. Im Falle eines Unterhaltsprozesses müsse deshalb bei der Bemessung des Unterhalts der Klägerin zwar der Teil der Witwenrente außer Betracht bleiben, der infolge der Anrechnung des Unterhaltsanspruchs nicht ausgezahlt werde. Der verbleibende Zahlbetrag der Rente sei aber als Einkommen der Klägerin zu behandeln, so daß ihr kein Unterhaltsanspruch zustehe. Da mithin die Witwenrente der Klägerin nicht habe gekürzt werden dürfen, komme es auf die Erörterung weiterer Fragen nicht an.
Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1291 Abs. 2 RVO. Nach ihrer Auffassung ist die wiederaufgelebte Witwenrente nur dazu bestimmt, nach Auflösung der zweiten Ehe als subsidiäre Leistung eine Versorgungslücke zu schließen. Die sich aus der zweiten Ehe ergebenden Versorgungsansprüche seien deshalb in erster Linie zu berücksichtigen und auf die wiederaufgelebte Witwenrente so anzurechnen, wie das mit dem angefochtenen Bescheid geschehen sei.
Die Beklagte beantragt,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin stellt keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Nach § 1291 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 RVO ist auf eine wiederaufgelebte Witwenrente ein von der Witwe infolge der Auflösung ihrer neuen Ehe erworbener Versorgungs-, Unterhalts- oder Rentenanspruch anzurechnen. Die Witwe erhält mithin nach Auflösung der zweiten Ehe Versorgung aus der ersten Ehe nur, soweit ihre Versorgung aus der zweiten Ehe geringer ist. Der wiederaufgelebte Witwenrentenanspruch ist gegenüber den in der zweiten Ehe erworbenen Versorgungs-, Unterhalts- und Rentenansprüchen subsidiär; die wiederaufgelebte Witwenrente schließt lediglich eine nach Auflösung der zweiten Ehe entstandene Versorgungslücke (BSGE 19, 153 = SozR Nr. 7 zu § 1291 RVO; BSGE 21, 279 = SozR Nr. 9 zu § 1291 RVO; BSGE 33, 109 = SozR Nr. 1 zu § 4 GAL 1965; BSGE 34, 221 = SozR Nr. 33 zu § 1291 RVO).
Das gilt allerdings nicht, wenn die Witwe durch eine Unterhaltsvereinbarung diese Versorgungslücke selbst erst geschaffen hat. Das LSG hat deshalb den von der Klägerin anläßlich der Scheidung ihrer zweiten Ehe ausgesprochenen Unterhaltsverzicht zu Recht unbeachtet gelassen. Die Klägerin muß sich auf die wiederaufgelebte Witwenrente den Unterhaltsanspruch anrechnen lassen, der ihr ohne diesen Unterhaltsverzicht gegen ihren geschiedenen zweiten Ehemann nach dem EheG (§§ 58,59) zustünde. Eine frühere Witwe, die den privaten Unterhaltsschuldner aus seiner Verpflichtung entläßt, hat keinen Anspruch darauf, daß die dadurch entstehende Versorgungslücke mit Mitteln ausgefüllt wird, die von der Gemeinschaft der Rentenversicherten aufgebracht werden müssen. Sie darf deshalb die Rangfolge der für ihre Versorgung heranzuziehenden Ansprüche nicht durch Vereinbarungen mit dem Unterhaltsschuldner umstoßen (BSGE 21, 279 = SozR Nr. 9 zu § 1291 RVO; BSGE 24, 293 = SozR Nr. 13 aaO; SozR Nr. 16 aaO; BSGE 34, 221 = SozR Nr. 33 aaO; SozR Nr. 34 aaO).
Der Außerachtlassung des Unterhaltsverzichts steht auch nicht entgegen, daß ein Unterhaltsanspruch, der nicht zu verwirklichen ist, auf die wiederaufgelebte Witwenrente nicht angerechnet werden darf. Dieser Grundsatz erfaßt entgegen der Auffassung des LSG lediglich materiell-rechtlich tatsächlich bestehende Unterhaltsansprüche, deren Verwirklichung trotz gerichtlicher Geltendmachung und Ausschöpfung aller in Betracht kommenden Vollstreckungsmöglichkeiten nicht gelingt (BSG Urteil vom 24. März 1965 - 1 RA 225/61 - Soz Entsch VI § 68 AVG n.F. Nr. 6; BSGE 22, 78 = SozR Nr. 10 zu § 1291 RVO; SozR Nr. 12 aaO; BSGE 27, 171 = SozR Nr. 22 aaO).
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß eine spätere Kürzung der wiederaufgelebten Witwenrente zulässig ist. Da die von der früheren Witwe infolge Auflösung ihrer neuen Ehe erworbenen Versorgungs-, Unterhalts- und Rentenansprüche in ihrem Bestand von der jederzeit möglichen Änderung der ihnen zugrundeliegenden Verhältnisse abhängig sind, kann infolge seiner Subsidiarität auch der Anspruch auf Witwenrente zu jedem nach der Scheidung liegenden Zeitpunkt wiederaufleben, sich in seiner Höhe ändern oder auch entfallen. Deshalb ist dieser Anspruch entsprechend neu festzustellen, sobald hinsichtlich eines auf ihn anrechenbaren Versorgungs-, Unterhalts- oder Rentenanspruchs eine Änderung eintritt (BSGE 34, 221 = SozR Nr. 33 zu § 1291 RVO).
Die Beklagte war mithin berechtigt, die wiederaufgelebte Witwenrente der Klägerin zu kürzen, sofern die Klägerin später einen auf diese Rente anrechenbaren Unterhaltsanspruch gegen ihren geschiedenen zweiten Ehemann erworben hat.
Bei der Ermittlung eines derartigen Unterhaltsanspruchs muß aber die wiederaufgelebte Witwenrente entgegen der Auffassung des LSG außer Betracht bleiben. Auch das folgt aus ihrer Subsidiarität. Diese bewirkt, daß der Unterhaltsanspruch unabhängig von der wiederauflebenden Rente entsteht und besteht; denn durch das Wiederaufleben der Rentenansprüche aus der ersten Ehe und die Anrechnung der infolge Auflösung der zweiten Ehe erworbenen neuen Ansprüche soll die frühere Witwe nach Auflösung der zweiten Ehe finanziell nicht besser, aber auch nicht schlechter gestellt werden als vor ihrer Wiederverheiratung. Zugleich soll verhindert werden, daß ihre nach der zweiten Ehe neu erworbenen Versorgungs-, Unterhalts- und Rentenansprüche zu Lasten der wiederauflebenden Ansprüche und damit zu Lasten der Versichertengemeinschaft gekürzt werden (BSGE 24, 293 295 = SozR Nr. 13 zu § 1291 RVO). Das würde aber dann eintreten, wenn die wiederauflebende Rente schon bei der Prüfung der Frage, ob nach Auflösung der zweiten Ehe eine Versorgungslücke vorhanden ist, in Rechnung gestellt würde. Dann würde nämlich eine ohne Berücksichtigung dieser Rente möglicherweise bestehende Versorgungslücke auf Kosten der Rentenversicherung verkleinert oder sogar beseitigt werden.
Der vom LSG herangezogene Vergleich mit dem bürgerlichen Unterhaltsrecht vermag die gegenteilige Auffassung des Berufungsgerichts nicht zu stützen. Es ist zwar richtig, daß nach § 58 EheG der Unterhaltsanspruch einer geschiedenen Frau von der Höhe ihres eigenen Einkommens abhängig ist. Eine wiederauflebende Witwenrente kann aber entgegen der Auffassung des LSG auch insoweit nicht als eigenes Einkommen angesetzt werden, weil sie als subsidiäre Leistung der Witwe eben nur zufließt, soweit deren Unterhaltsanspruch gegen ihren geschiedenen zweiten Ehemann der Höhe nach nicht die Versorgung erreicht, die die frühere Witwe nach ihrer ersten Ehe erhalten hat. Der Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen ihren geschiedenen zweiten Ehemann ist deshalb ohne Rücksicht auf die wiederaufgelebte Witwenrente festzustellen (BSGE 19, 153 = SozR Nr. 7 zu § 1291 RVO sowie SozR Nrn. 29 und 34 aaO).
Die Prüfung der Frage, ob der Klägerin zur Zeit der Rentenkürzung, also am 1. Dezember 1969 ein solcher Unterhaltsanspruch zustand, hat jedoch - entgegen der Auffassung des LSG - nicht erst bei dem Zeitpunkt anzusetzen, in dem die geschiedenen Eheleute ihre Erwerbstätigkeiten aufgaben und Altersruhegeldempfänger wurden. Denn maßgebend für den einer schuldlos geschiedenen Frau nach § 58 Abs. 1 EheG zustehenden angemessenen Unterhalt sind die Lebensverhältnisse der geschiedenen Eheleute zur Zeit der Scheidung (BSG SozR Nr. 16 zu § 1265 RVO). Deshalb sind, wenn - wie im Fall der Klägerin - beide Eheleute damals erwerbstätig waren, beide also Einkünfte hatten, zur Ermittlung des angemessenen Unterhalts der Frau die damaligen beiderseitigen Nettoeinkünfte zusammenzurechnen, in der Regel also die Beträge, die nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben übrigbleiben. Als angemessener Unterhalt der Frau sind unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles in der Regel ein Drittel bis drei Siebentel dieses Gesamt-Nettoeinkommens anzusetzen (BSGE 32, 197 = SozR Nr. 58 zu § 1265 RVO; SozR Nr. 64 aaO). Der in dieser Weise für die Zeit der Scheidung als angemessener Unterhalt der Klägerin festzustellende Betrag ist mit Hilfe des Lebenshaltungsindexes auf die Zeit der Rentenkürzung, also auf den 1. Dezember 1969 zu projizieren (BSGE 28, 267 = SozR Nr. 47 zu § 1265 RVO). Von dem sich ergebenden Betrag muß alsdann das Altersruhegeld der Klägerin in Höhe des ihr am 1. Dezember 1969 gezahlten Betrages abgezogen werden (§ 58 Abs. 1 Halbsatz 2 EheG). Schließlich ist noch zu prüfen, ob der inzwischen wiederverheiratete zweite Ehemann der Klägerin unter Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen (§ 59 EheG) möglicherweise weniger an die Klägerin zu leisten hatte (BSG Urteil vom 26. September 1972 - 11 RA 164/71 -). Erst der auf diese Weise für den 1. Dezember 1969 ermittelte, wegen des Unterhaltsverzichts der Klägerin allerdings nur fiktive Unterhaltsanspruch darf von der Beklagten zu diesem Zeitpunkt auf die wiederaufgelebte Witwenrente der Klägerin angerechnet werden.
Da die zur Ermittlung dieses fiktiven Unterhaltsanspruchs erforderlichen tatsächlichen Feststellungen bisher fehlen und das Revisionsgericht diese nicht selbst treffen kann, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen