Orientierungssatz
Nach SGG § 128 entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Eine Revision kann nur darauf gestützt werden, daß das Gericht die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschreitet, daß es also Denkgesetze oder allgemein gültige Erfahrungssätze verletzt.
Normenkette
SGG §§ 103, 128, 162 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 13.05.1954) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des ... Landessozialgerichts ... vom 13. Mai 1954 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
A.
Der im Jahre 1905 geborene Kläger, der früher als landwirtschaftlicher Dienstknecht tätig war, hat im Alter von 24 Jahren den rechten Arm kurz unterhalb des Schultergelenks verloren. Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA.) hat ihm vom 1. Januar 1930 an Invalidenrente gezahlt. Am 10. April 1930 hat der Kläger den linken Unterarm gebrochen; dieserhalb hat er bis zum Jahre 1937 Rente aus der landwirtschaftlichen Unfallversicherung bezogen. Seit dem Jahre 1930 bis zum Kriegsbeginn ist der Kläger als Hausierer mit Kurzwaren tätig gewesen. Während des Krieges hat er in der Lohnrechnerei des Fliegerhorstes ... gearbeitet. Eine Tätigkeit als Werksbote vom 23. Mai 1946 bis 31. Dezember 1947 gegen einen Stundenlohn von 75 Pfennigen hat der Kläger aufgegeben, weil er den Strapazen einer notwendigen täglichen Fahrt mit dem Fahrrad (20 km) nicht gewachsen war. Vom 1. Mai 1949 an ist er gegen ein monatliches Entgelt von etwa 200.- DM als Wachmann in einem Flüchtlingslager tätig gewesen und vom 1. August 1951 bis 28. Mai 1953 als Magazinarbeiter bei der Arbeitsgemeinschaft Innstaustufe ... mit einem Wochenlohn von etwa 63.- DM.
Mit Bescheid vom 27. März 1952 hat die Beklagte dem Kläger die Rente nach § 1293 Reichsversicherungsordnung (RVO) entzogen, weil eine gewisse Anpassung und Gewöhnung an den Verlust des rechten Armes erfolgt sei und sonstige krankhafte Befunde nicht vorlägen; tatsächlich arbeite der Kläger im Stauwerk in ... als Lagerarbeiter (mit dem angeführten Wochenlohn).
Der Kläger hat in seinem wegen der Entziehung der Rente eingeleiteten Berufungsverfahren vor dem Oberversicherungsamt vorgebracht, daß der linke Arm infolge von Arbeitsunfällen in den Jahren 1930 und 1951 nicht voll gebrauchsfähig sei. Das hierzu gehörte Krankenhaus ... hat berichtet, die große Wunde, zu deren Behandlung sich der Kläger vom 25. September bis 4. Oktober 1951 im Krankenhaus befunden habe, sei komplikationslos geheilt; weitere Einzelheiten seien nicht bekannt. Im übrigen hatten die dem Verfahren zugrundeliegenden ärztlichen Gutachten folgendes ergeben:
1.) Der von der Beklagten als Gutachter gehörte Amtsarzt Dr. ... hatte auf Grund einer Untersuchung vom 29. Februar 1952 eine Änderung der Verhältnisse des Klägers verneint und die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit mit 70 v. H. beurteilt mit dem Bemerken, daß der Kläger die Arbeiten eines Einarmigen verrichten könne.
2.) Der Medizinalreferent der Beklagten hatte unterm 24. März 1952 auf Grund der Akten das folgende Gutachten erstattet:
"Es kann angenommen werden, daß an den Verlust des rechten Armes im Laufe der Jahre entsprechende Anpassung und Gewöhnung eingetreten ist, zumal sonstige Krankheitsbefunde nicht vorliegen. In diesem Sinne spricht die Tatsache, daß F. in den letzten Jahren erst als Bote und Wachmann und seit August 1951 als Magaziner tätig ist, bei dieser Lohnarbeit mehr als das Lohndrittel verdient und keine Tatsachen bekannt wurden, daß ... etwa auf Kosten seiner Gesundheit arbeitet. Erwerbsminderung 55 bis 60 % (ab 1.6.1949)."
3.) Das von Medizinalrat Dr. ... vor dem Oberversicherungsamt am 9. Juni 1953 erstattete Gutachten hat ergeben:
"Linker Arm: Schultergelenk frei. An der Beugeseite des Oberarmes reaktionslose Narbe, weitere Narbe in der Gegend der Ellbogenbeuge. Ellenbogengelenk beweglich. Pronation (Einwärtsdrehung) und Supination (Auswärtsdrehung) möglich. Handbewegung möglich. Finger beweglich. Beschwerden am linken Arm werden nicht angegeben.
Eine wesentliche Behinderung der Gebrauchsfähigkeit des linken Armes ist nicht gegeben.
Rechter Arm: Zustand nach Amputation des rechten Oberarms mit kurzem Stumpf, so daß keine Prothese getragen werden kann. Körperschadensmäßig gesehen ist die Erwerbsminderung durch den Zustand nach Amputation des rechten Armes (hohe Amputation) mit 70 % zu werten.
Eine gewisse Anpassung und Gewöhnung an den Verlust des rechten Oberarmes wird vom Kläger in seiner Berufungsschrift angegeben. Er arbeitet links.
Die Frage der Invalidität stellt eine rein soziale Frage dar."
Das Oberversicherungsamt hat die Berufung des Klägers auf Grund mündlicher Verhandlung vom 9. Juni 1953 mit der Begründung zurückgewiesen, daß infolge Anpassung und Gewöhnung an den Zustand nach Verlust des rechten Armes eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Klägers im Sinne von § 1293 RVO eingetreten sei.
Das ... Landessozialgericht hat die beim Bayerischen Landesversicherungsamt eingelegte Revision des Klägers nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung behandelt. Die Berufung wurde zurückgewiesen; auch das Landessozialgericht hat eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Klägers nach § 1293 RVO angenommen. Es stützt sich hierbei auf die Rechtsprechung zu § 1293 RVO, wonach die Gewöhnung eines Rentenberechtigten an die Folgen des Verlustes eines Körpergliedes und die Anpassung an diesen Verlust im Arbeitsleben bei gleichbleibendem objektivem Befund eine wesentliche Änderung bedingten. In dieser Hinsicht hat das Vordergericht festgestellt, daß der Kläger mindestens von 1940 bis 1945 und nach dem Kriegsende wiederholt längere Zeit als Lohnrechner, Werksbote, Wachmann und Lagerist gearbeitet habe. Hierbei habe er über ein Drittel, ja sogar mehr als die Hälfte des ortsüblichen Lohnes eines Landarbeiters, nämlich so viel wie ein Hilfsarbeiter, verdient. Die Gründe für die Beendigung der Beschäftigungen des Klägers seien nicht in seiner Person gelegen. Durch die langjährige Arbeitsleistung des Klägers sei erwiesen, daß er sich in gewissem Umfang an den Verlust des rechten Armes gewöhnt und den Verlust durch Entfaltung größerer Geschicklichkeit links zu einem Teil ausgeglichen habe. Nach den Gutachten sei er in der Gebrauchsfähigkeit des linken Armes nicht mehr beeinträchtigt. Der Kläger verfüge auch über die notwendigen geistigen Fähigkeiten, um sich auf Berufe einzustellen, die für Einarmige in Betracht kommen. Dies könne vor allem aus seiner jahrelangen Tätigkeit als Lohnrechner geschlossen werden. Seine Umstellungsfähigkeit ergebe sich ferner daraus, daß er bei Aufnahme regelmäßiger Arbeit (1940) noch nicht 40 Jahre alt gewesen sei. Da der Kläger in den nach seiner Amputation ausgeübten Berufen mehr als die Hälfte des ortsüblichen Lohnes eines Landarbeiters verdient und die entsprechenden Arbeiten bei befriedigendem Allgemeinzustand nicht auf Kosten seiner Gesundheit verrichtet habe, sei er in den erwähnten Berufen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkte wettbewerbsfähig. Er habe nach den durch Arbeitsmangel bedingten Entlassungen immer wieder einen Arbeitsplatz gefunden, obwohl er in einem Notstandsgebiet wohne, wo die Arbeitslosenziffer erheblich über dem Landesdurchschnitt liege.
Mit der Revision beantragt der Kläger,
das Urteil des ... Landessozialgerichts vom 13. Mai 1954, des Oberversicherungsamts ... vom 9. Juni 1953 und den Bescheid der LVA. ... vom 27. März 1952 aufzuheben und ihm die Invalidenrente über den 30. April 1952 hinaus zu gewähren.
Er stützt die Revision wie folgt auf das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels:
1. Der Sachverhalt sei unter Verletzung von § 103 SGG nicht genügend aufgeklärt worden. Es hätte die Einholung eines Obergutachtens in Erwägung gezogen werden müssen, denn Medizinalrat Dr. ... habe am 29. Februar 1952 die Annahme einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Klägers seit der Rentengewährung im Jahre 1929 verneint. Trotzdem habe er eine noch verbliebene Minderung der Erwerbsfähigkeit von 40 v. H . festgestellt. Dem müsse widersprochen werden, da der Grad der durch Unfälle bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich danach zu werten sei, inwieweit der Verletzte mit der ihm verbliebenen Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit gesunden Arbeitskräften in Wettbewerb treten könne. Der Vertrauensarzt der Beklagten habe am 24. März 1952 nach Durchsicht der Akten beim Kläger Anpassung und Gewöhnung angenommen, ohne daß der Kläger bei dieser Beurteilung anwesend gewesen sei. Im Termin vor dem Sozialgericht vom 9. Juni 1953 habe der begutachtende Arzt den gleichen Standpunkt wie Dr. ... eingenommen.
2. Der Kläger habe, um sich nützlich zu machen, leichte Arbeiten verrichtet. Aber es sei eine Ironie, ihn deshalb, unter Annahme einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen, nicht mehr als invalide zu betrachten. Man könne sich an den Verlust des rechten Armes, der der Gebrauchsarm des Klägers gewesen sei, nicht gewöhnen, zumal eine Prothese wegen der Kürze des Armstumpfes nicht in Betracht komme. Es sei nicht zu prüfen, ob der Kläger ein die Mindestverdienstgrenze übersteigendes Einkommen aus Arbeit erreicht habe, sondern ob er nach seiner gesundheitlichen Verfassung imstande sei, es zu erzielen. Der Kläger habe den erzielten Verdienst nur besonders glücklichen Umständen sowie schonungslosem Einsatz zu verdanken.
3. Daß ein Oberarmamputierter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht wettbewerbsfähig sein könne, beweise allein die Tatsache, daß selbst um die Hälfte jüngere gleichermaßen Beschäftigte ihrer Beschädigung entsprechende Arbeit nicht finden könnten.
4. In der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers außerdem vorgetragen, das Vordergericht habe nicht geprüft, ob die bevorzugten Beschäftigungen des Klägers nicht durch das Schwerbeschädigtengesetz bedingt gewesen seien oder auf der sozialen Einstellung der Arbeitgeber beruhten. Ferner sei keine Feststellung bei den Arbeitsbehörden erfolgt, ob für den Kläger geeignete Stellen überhaupt vorhanden seien. Schließlich sei nicht aufgeklärt worden, was das ärztliche Gutachten vom 9. Juni 1953 bedeute, soweit es bezüglich des linken Armes nur feststelle, daß "keine wesentliche Behinderung der Gebrauchsfähigkeit" vorliege.
B.
Das Landessozialgericht hat die Berufung nicht zugelassen. Zu der Frage, ob die Rente dem Kläger zu Recht entzogen wurde, kann der erkennende Senat daher nur Stellung nehmen, wenn eine der vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen durchgreift (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
I. Der Kläger rügt zunächst, daß das Landessozialgericht kein Obergutachten eingeholt habe, um die Frage seiner Invalidität zu klären (§ 103 SGG). Er geht hier von der irrigen Voraussetzung aus der Sachverständige Dr. ... habe die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 40 v. H. beurteilt. Dies trifft aber nicht zu, denn dieser Arzt hatte die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers mit 70 v. H. bewertet mit dem Bemerken, daß er die Arbeiten eines Einarmigen verrichten könne. Das Landessozialgericht ist hingegen auf Grund der ärztlichen Feststellungen davon ausgegangen, daß sich im objektiven Befund, nämlich dem Zustand nach Absetzung des rechten Oberarmes, seit der Bewilligung der Rente nichts geändert habe. Es hat aus der vom Kläger seit dem Jahre 1940 ausgeübten Berufstätigkeit den Schluß gezogen, daß die Beklagte ihm die Rente zu Recht entzogen habe, weil trotz des gleichbleibenden ärztlichen Befundes insoweit eine wesentliche Änderung im Sinne des § 1293 RVO eingetreten sei, als der Kläger durch die Entfaltung größerer Geschicklichkeit mit dem verbliebenen linken Arm wieder imstande sei, durch Arbeiten als Lagerist, Wachmann oder Werksbote die Hälfte des ortsüblichen Lohnes eines Landarbeiters zu verdienen. Der von dem Kläger insoweit behauptete Verfahrensmangel liegt daher nicht vor.
II. Die erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Rüge, das Vordergericht habe die Gebrauchsfähigkeit des linken Armes nicht hinreichend aufgeklärt, ist nicht frist- und formgerecht erhoben worden (§ 164 Abs. 2 SGG). Im übrigen hatte der Sachverständige Dr. ... in seinem vor dem Oberversicherungsamt erstatteten Gutachten zum Ausdruck gebracht, daß der Kläger Beschwerden am linken Arm nicht angegeben habe. Gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger sei in der Gebrauchsfähigkeit des linken Armes nicht mehr beeinträchtigt, bestehen daher keine verfahrensrechtlichen Bedenken.
III. Die übrigen Rügen des Klägers richten sich sodann gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Beweiswürdigung. Nach § 128 SGG entscheidet aber das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Revision kann insoweit nur darauf gestützt werden, daß das Gericht die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten, daß es also Denkgesetze oder allgemein gültige Erfahrungssätze verletzt habe. Die Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger sei nicht mehr invalide, läßt aber einen solchen Verstoß nicht erkennen. Die Frage, ob die vom Kläger nach Bewilligung der Rente ausgeübten Tätigkeiten die Annahme rechtfertigen, in seinen Verhältnissen sei eine wesentliche Änderung eingetreten, liegt auf dem Gebiet der Beweiswürdigung. Ein allgemeiner Erfahrungssatz, daß Oberarmamputierte grundsätzlich als invalide im Sinne des § 1254 RVO anzusehen seien, besteht nicht. Ihm steht vor allem die Tatsache entgegen, daß heute auf Grund der für Schwerbeschädigte allgemein üblichen technischen Hilfsmittel eine große Zahl Oberarmamputierter ihren Arbeitsplatz voll oder nahezu voll ausfüllen.
IV. Wenn der Kläger weiter rügt, das Landessozialgericht habe keine Feststellung darüber getroffen, ob er einen die gesetzliche Lohnhälfte erreichenden Verdienst auch erzielen könne, so übersieht es, daß das Berufungsgericht die Feststellung, er könne wieder die Hälfte des ortsüblichen Lohnes eines Landarbeiters verdienen, auf Grund der vom Kläger tatsächlich nach der Amputation ausgeübten Berufe getroffen hat mit dem Bemerken, er habe diese Arbeiten nicht auf Kosten seiner Gesundheit verrichtet, da sein Allgemeinzustand trotz der Arbeitsleistung in den vergangenen Jahren zufriedenstellend sei. Im übrigen richtet sich auch diese Rüge gegen die materiell-rechtliche Beurteilung des Sachverhalts und gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, die einer Nachprüfung im vorliegenden Verfahren grundsätzlich entzogen sind. Das gleiche gilt für das Vorbringen des Klägers, ein Oberarmamputierter sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht wettbewerbsfähig.
V. Da hiernach keine wesentlichen Mängel des Verfahrens vorliegen, ist eine Nachprüfung der auf dem Gebiet des materiellen Rechts liegenden Frage, ob die Voraussetzungen für die Entziehung der Rente vorgelegen haben, nicht möglich. Deshalb war es dem Senat auch verwehrt, in sachlicher Hinsicht zu prüfen, ob das angefochtene Urteil mit der vom erkennenden Senat in der Entscheidung vom 16. Juni 1954 - 3 RJ 83/54 - bezüglich der Invaliditätsbeurteilung Schwerbeschädigter vertretenen grundsätzlichen Auffassung in Einklang steht.
Hiernach war die Revision des Klägers nach § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen