Entscheidungsstichwort (Thema)

Unverschuldeter Verlust von Beitragszeiten. Frühere Aufnahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung ohne den Kriegsdienst trotz Invaliden-Rentenbezugs

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Frage, ob der Kläger bei Eintritt der Invalidität und dem Beginn des Rentenbezuges aus der Invalidenversicherung noch hätte Beiträge zur RV entrichten dürfen, ist nach dem Recht zu beantworten, das in dem Zeitraum gegolten hat, für den Beiträge entrichtet oder ersetzt werden sollen. Danach hätte der Kläger zwar nicht das Versicherungsverhältnis in der Invalidenversicherung fortsetzen können, er hätte aber - weil bindend festgestellt ist, daß er als kaufmännischer Angestellter seit September 1917 nicht mehr berufsunfähig war - trotz des Bezugs der Invaliden-Rente das Versicherungsverhältnis in der Angestelltenversicherung früher beginnen können, wenn er nicht Wehrdienst geleistet hätte.

 

Normenkette

AVG § 28 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Fassung: 1957-02-23, § 1236 Fassung: 1911-07-19, § 1443 Fassung: 1911-07-19; AVG § 13 Fassung: 1922-11-10

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 21. August 1964 wird zurückgewiesen.

Die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Revisionsverfahren sind von der Beklagten zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger, geboren ... 1896, wurde im Jahre 1912 als kaufmännischer Lehrling in einer Feinkosthandlung Versicherter in der Invalidenversicherung (JV). Er leistete vom 13. Oktober 1915 bis zum 22. Januar 1919 Kriegsdienst. Im Oktober 1916 wurde der Kläger verwundet und lag bis August 1917 im Lazarett; im November 1917 war er wieder kv. Der Kläger bezog vom 18. Oktober 1916 bis zum 31. Oktober 1919 eine Invalidenrente nach § 1255 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung vom 19. Juli 1911 (Krankenrente). Nach seiner Entlassung aus dem Wehrdienst setzte er seine Beschäftigung bei seinem früheren Arbeitgeber als kaufmännischer Angestellter fort und entrichtete ab 1. Februar 1919 Beiträge zur Angestelltenversicherung (AV).

Die Beklagte rechnete von der Kriegsdienstzeit des Klägers nur die Zeit bis zum 17. Oktober 1916 als Ersatzzeit an, weil der Kläger in der späteren Zeit eine Invalidenrente bezogen habe. Sie stellte fest, daß an der Erfüllung der großen Wartezeit 14 Beiträge fehlten. Nachdem der Kläger die nach Ansicht der Beklagten fehlenden Beiträge nachentrichtet hatte, gewährte die Beklagte ihm mit Bescheid vom 25. Juni 1962 das Altersruhegeld ab 1. Februar 1962.

Mit der Klage machte der Kläger geltend, die Beklagte habe zu Unrecht nicht die Kriegsdienstzeit vom 1. September 1917 bis zum 31. Januar 1919 als Ersatzzeit angerechnet.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg lud die Landesversicherungsanstalt Freie und Hansestadt Hamburg zum Verfahren bei. Es gab durch Urteil vom 28. August 1963 der Klage statt. Die Beigeladene legte Berufung ein und beantragte,

die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 1962 abzuweisen.

Die Beklagte schloß sich diesem Antrag an.

Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg wies die Berufung der Beigeladenen durch Urteil vom 21. August 1964 zurück: Die Kriegsdienstzeit vom 1. September 1917 bis zum 31. Januar 1919 sei als Ersatzzeit anzurechnen, obgleich der Kläger in dieser Zeit eine Invalidenrente bezogen habe. Der Kläger hätte, wenn er nicht bis 31. Januar 1919 Wehrdienst geleistet hätte, bereits im Jahre 1917 in seine alte Firma als kaufmännischer Angestellter eintreten können und er hätte, wie er es nach seiner Entlassung ab 1. Februar 1919 tatsächlich getan hat, trotz des Bezugs einer Rente aus der JV Beiträge zur AV entrichten können; er sei auch ab September 1917 als kaufmännischer Angestellter nicht mehr berufsunfähig gewesen.

Der Eintritt des Versicherungsfalles in der JV und der Rentenbezug aus dieser Versicherung habe - damals - die Versicherungspflicht in der AV nicht berührt; erst später sei bestimmt worden, daß (auch in der AV) versicherungsfrei sei, wer eine Rente aus der JV beziehe (Änderung des § 13 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - aF durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes vom 10. November 1922).

Das LSG ließ die Revision zu.

Die Beklagte legte fristgemäß und formgerecht Revision ein und beantragte,

das Urteil des LSG Hamburg vom 21. August 1964 und das Urteil des SG Hamburg vom 28. August 1963 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 25. Juni 1962 abzuweisen.

Sie rügte die Verletzung der Vorschriften des § 1314 Abs. 2 RVO (§ 93 Abs. 2 AVG) in der Fassung vor dem Rentenversicherungs-Finanzausgleichsgesetz vom 23. Dezember 1964 (BGBl I 1090) und des § 1251 Abs. 2 RVO (§ 28 Abs. 2 AVG); das LSG habe nicht beachtet, daß nach § 1314 Abs. 2 Satz 3 RVO (§ 93 Abs. 2 Satz 3 AVG) in Fällen der Wanderversicherung Ersatzzeiten und Ausfallzeiten in dem Versicherungszweig als zurückgelegt gelten, zu dem der letzte Beitrag vor der Ersatz- oder Ausfallzeit entrichtet worden ist, und, wenn vor der Ersatz- oder Ausfallzeit kein Beitrag entrichtet ist, in dem Versicherungszweig, zu dem nach Beendigung der Ersatz- und Ausfallzeit der erste Beitrag entrichtet wurde.

Die Beigeladene schloß sich dem Antrag der Beklagten an.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG), sie ist aber nicht begründet.

Das LSG ist zu Recht zu der Auffassung gelangt, auch die Kriegsdienstzeit des Klägers vom 1. September 1917 bis zum 31. Januar 1919 sei als Ersatzzeit zu berücksichtigen. Die Anrechnung der hier streitigen Versicherungszeiten ist nach dem ab 1. Januar 1957 geltenden - neuen - Recht zu beurteilen; der Rentenanspruch des Klägers auf das Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 AVG stützt sich auf einen Versicherungsfall neuen Rechts; dieser Rentenanspruch, um dessen Berechnung es hier geht, ist erst nach Inkrafttreten der Neuregelungsgesetze (1. Januar 1957) entstanden.

Nach § 27 Abs. 1 Buchst. b AVG, der dem § 1250 Abs. 1 Buchst. b RVO entspricht, sind anrechnungsfähige Versicherungszeiten auch Zeiten ohne Beitragsleistung (Ersatzzeiten) nach § 28 AVG = § 1251 RVO. Nach § 28 Abs. 1 Ziff. 1 AVG werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten die Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) angerechnet, die auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet sind; diese Zeiten werden nach § 28 Abs. 2 AVG jedoch nur angerechnet, wenn eine Versicherung vorher bestanden hat und während der Ersatzzeit Versicherungspflicht nicht bestanden hat. Sie werden auch ohne vorhergehende Versicherungszeiten angerechnet, wenn innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung der Ersatzzeiten oder einer durch sie aufgeschobenen oder unterbrochenen Ausbildung eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist (§ 28 Abs. 2 Buchst. a AVG in der Fassung vor dem RVÄndG vom 9. Juni 1965).

Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht - unangegriffen - festgestellt, der Kläger habe vom 13. Oktober 1915 bis 22. Januar 1919 Kriegsdienst geleistet, nach seiner Verwundung im Oktober 1916 habe er bis zum 31. Oktober 1919 Invalidenrente bezogen, er sei jedoch nach seiner Entlassung aus dem Lazarett ab September 1917 als kaufmännischer Angestellter nicht mehr berufsunfähig gewesen, er habe seit Februar 1919 als kaufmännischer Angestellter gearbeitet und Beiträge zur AV entrichtet.

Die Ersatzzeiten neuen Rechts sind ebenso wie die vollkommenen Ersatzzeiten alten Rechts (§ 1263 RVO aF) Ersatz für Zeiten, für die mit Rücksicht auf die besonderen im Gesetz festgelegten Tatbestände dem Versicherten die Entrichtung von Beiträgen regelmäßig nicht möglich gewesen ist; dadurch sollen ihm versicherungsrechtliche Nachteile nicht entstehen; auch die Ersatzzeiten neuen Rechts sollen als Zeiten ohne Beitragsleistung (§ 27 Abs. 1 Buchst. b AVG = § 1250 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b RVO) ihrem Wesen nach Beiträge ersetzen, weil nach Ansicht des Gesetzgebers durch die mit diesen Zeiten verbundenen außergewöhnlichen Umstände, die nicht in der Person des Versicherten begründet sind, eine Beitragsleistung nicht zu erwarten gewesen ist. Wenn deshalb während des Vorliegens eines der in § 28 AVG angeführten Tatbestände keine Beiträge entrichtet worden sind, dann wird unterstellt, daß allein die mit diesen Zeiten verbundenen außergewöhnlichen Umstände eine Beitragsleistung verhindert haben. Das gilt aber nur so lange, wie der Versicherte überhaupt die rechtliche Möglichkeit gehabt hätte, während dieser Zeit Beiträge wirksam zu entrichten; denn für die Anwendung der Ersatzzeitenregelung ist nur dann Raum, wenn tatsächlich Beitragszeiten durch die mit diesen Zeiten verbundenen außergewöhnlichen Umstände verlorengehen konnten. Diese Voraussetzungen sind aber hier erfüllt. Mit dem Eintritt der Invalidität und der Gewährung von Invalidenrente trat zwar kraft Gesetzes Versicherungsfreiheit in der JV ein, die bewirkte, daß der Kläger von diesem Zeitpunkt an keine Beiträge mehr an die JV entrichten durfte (§§ 1236, 1443 RVO idF vom 19. Juli 1911), dagegen wäre dem Kläger, der nach den bindenden Feststellungen des LSG ab September 1917 als kaufmännischer Angestellter nicht mehr berufsunfähig war, von diesem Zeitpunkt ab die Entrichtung von Beiträgen zur AV möglich gewesen, wenn er, statt weiterhin Kriegsdienst zu leisten, schon im September 1917 diese dann tatsächlich auch ab Februar 1919 ausgeübte Tätigkeit aufgenommen hätte. Denn nach dem damals geltenden Recht war Voraussetzung für die Versicherungsberechtigung in der AV insoweit lediglich, daß - wie vom LSG festgestellt - keine Berufsunfähigkeit im Sinne des § 25 AVG aF vorlag (§ 1 Abs. 3 AVG). Die Vorschrift des § 13 AVG aF - ursprünglich § 10 a - die bestimmt, daß auch in der AV Versicherungsfreiheit besteht, wenn eine Invalidenrente bezogen wird, ist erst durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes vom 10. November 1922 (RGBl I 849), die sog. "Große Novelle", mit Wirkung vom 1. Januar 1923 in das AVG eingefügt worden.

Das LSG hat richtig erkannt, daß hier - obwohl es sich um einen Versicherungsfall neuen Rechts handelt und damit das Vorliegen eines Ersatzzeitentatbestandes nach neuem Recht zu beurteilen ist - die Frage, ob der Kläger bei Eintritt der Invalidität und dem Beginn des Rentenbezuges aus der JV noch hätte Beiträge zur Rentenversicherung entrichten dürfen, nicht nach neuem Recht zu beantworten ist. Diese Frage ist vielmehr nach dem Recht zu beantworten, das in dem Zeitraum gegolten hat, für den Beiträge entrichtet oder ersetzt werden sollen. Danach hätte der Kläger zwar nicht das Versicherungsverhältnis in der JV fortsetzen können (§§ 1236, 1443 RVO aF), er hätte aber - weil bindend festgestellt ist, daß er als kaufmännischer Angestellter seit September 1917 nicht mehr berufsunfähig war - trotz des Bezugs der Invalidenrente das Versicherungsverhältnis in der AV früher beginnen können, wenn er nicht Wehrdienst geleistet hätte. Der Kläger hat seine in der AV versicherungspflichtige Beschäftigung als kaufmännischer Angestellter im Anschluß an seine Entlassung aus dem Kriegsdienst (22. Januar 1919) am 1. Februar 1919 aufgenommen und hat seitdem Beiträge zur AV geleistet; er hätte eine solche Beschäftigung aber schon ab 1. September 1917 (Wiederherstellung seiner Berufsfähigkeit) aufnehmen können, wenn er keinen Kriegsdienst geleistet hätte. Die Zeit vom 1. September 1917 bis zum 31. Dezember 1919 ist dem Kläger somit durch den Kriegsdienst als Beitragszeit in der AV verlorengegangen. Danach ist der Ersatzzeitentatbestand neuen Rechts erfüllt. Auf die Frage, welchem Versicherungsträger - bei dem finanziellen Ausgleich der Versicherungsträger untereinander - die streitige Ersatzzeit - nach neuem Recht - zuzurechnen ist (§ 1314 Abs. 2 RVO = § 93 Abs. 2 AVG idF vor dem Rentenversicherungs-Finanzausgleichsgesetz vom 23. Dezember 1964 (BGBl I 1090), kommt es nicht an; aus § 1314 Abs. 2 Satz 3 RVO (§ 93 Abs. 2 Satz 3 AVG) ist nicht - wie die Beklagte meint - zu schließen, daß die streitige Zeit allein nach dem damaligen Recht der JV zu beurteilen sei, weil der letzte Beitrag vor der Ersatzzeit an den Träger der JV entrichtet worden ist.

Die hier entscheidende Frage, ob der Kläger unverschuldet Beitragszeiten (in der gesetzlichen Rentenversicherung) verloren hat, weil er - wenn er nicht Kriegsdienst geleistet hätte - eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung hätte ausüben und Beiträge zur Rentenversicherung hätte leisten können, ist nach dem - insoweit als Einheit zu betrachtenden - damaligen Recht der gesetzlichen Rentenversicherung zu beurteilen; sie ist zu bejahen, weil der Kläger nach dem damaligen Recht der gesetzlichen Rentenversicherung seine in der AV versicherungspflichtige Beschäftigung, die er im Anschluß an den Kriegsdienst aufgenommen hat, ohne diesen Kriegsdienst trotz des Bezugs einer Invalidenrente hätte früher aufnehmen können. Die Anrechnung dieser Zeit als Ersatzzeit neuen Rechts ergibt sich sonach aus § 28 AVG. Sind Beitragszeiten durch die in § 28 Abs. 1 AVG genannten Tatbestände verloren, so sieht das Gesetz die Anrechnung als Ersatzzeit nicht nur vor, wenn eine Versicherung vorher bestanden hat, sondern auch dann, wenn ohne vorhergehende Versicherungszeiten im Anschluß an die verlorene Beitragszeit eine Versicherung erst begründet worden ist (§ 28 Abs. 2 AVG). Es kann deshalb für die Anrechnung als Ersatzzeit keinen Unterschied machen, ob eine Versicherung vorher überhaupt nicht bestanden hat oder ob zwar ein Versicherungsverhältnis (in der JV) vorher bestanden hat, dieses aber der Begründung eines neuen Versicherungsverhältnisses (in der AV) nicht entgegengestanden hat.

Die hier vertretene Auffassung steht dem Urteil des erkennenden Senats vom 1. Juli 1964 - 11 RA 314/63 - nicht entgegen. In diesem Urteil ist zwar gesagt: Eine Kriegsdienstzeit im ersten Weltkrieg, während der dem Versicherten Invalidenrente nach § 1255 Abs. 3 RVO idF vom 19. Juli 1911 (Krankenrente) gewährt worden ist, kann nicht als Ersatzzeit im Sinne des § 1251 Abs. 1 Ziff. 1 (= § 28 Abs. 1 Ziff. 1 AVG) angesehen und damit auch nicht als Versicherungszeit nach § 1250 Abs. 1 Buchst. b RVO (= § 27 Abs. 1 Buchst. b AVG) angerechnet werden. Dieses Urteil betrifft aber nicht den Fall, daß der Versicherte, der während seiner Kriegsdienstzeit eine Invalidenrente bezogen hat, nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts nicht berufsunfähig gewesen ist und nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst alsbald eine Beschäftigung aufgenommen hat, die in der AV versicherungspflichtig gewesen ist.

Da das LSG zutreffend entschieden hat, ist die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379748

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