Leitsatz (amtlich)
Zeiten einer an den Kriegsdienst anschließenden Krankheit sind jedenfalls dann keine Ersatzzeiten iS des RVO § 1251 Abs 1 Nr 1, Nr 1, wenn nicht im Anschluß an den Kriegsdienst infolge der Krankheit auch Arbeitsunfähigkeit bestanden hat.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. Oktober 1963 aufgehoben; die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. Juni 1962 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger, geb. ... 1895, war von Dezember 1914 bis Juli 1915 als Lagerist beschäftigt. Er erkrankte während des nachfolgenden Kriegsdienstes an der Lunge und wurde deshalb zum 31. Januar 1917 als kriegsunbrauchbar aus dem Heeresdienst entlassen. Aus dem Lazarett wurde er schon vorher entlassen; er arbeitete noch von November 1916 bis 30. Juni 1920 wieder bei seiner alten Firma als Lagerist, dann gab er seine Beschäftigung wegen Arbeitsunfähigkeit auf.
In einem versorgungsärztlichen Gutachten vom 8. Dezember 1921 wurde bei dem Kläger eine aktive Lungentuberkulose festgestellt. Der Kläger erhielt daraufhin eine Versorgungsrente, und zwar nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v. H. bis 1. Oktober 1931 und nach einer MdE von 30 v. H. bis 31. Dezember 1936. Vom 1. Juli 1920 bis 31. Dezember 1941 war der Kläger ohne Beschäftigung; vom 26. Februar bis 23. Mai 1923 und 10. Oktober 1924 bis 25. Januar 1925 war er in Untersuchungs- bzw. Strafhaft.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 25. September 1961 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres.
Mit der Klage machte der Kläger geltend, die Beklagte habe die Zeit vom 1. Juli 1920 bis zum 31. Dezember 1941 als Zeit "einer an den Kriegsdienst anschließenden Krankheit" nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) als Ersatzzeit anrechnen müssen; wenn er nach der Entlassung aus dem Kriegsdienst zunächst noch versucht habe, seinem Beruf weiter nachzugehen, so dürfe sich dies nicht zu seinen Ungunsten auswirken, seine offene Lungentuberkulose habe bis 1934 bestanden, er sei jedoch bis Ende 1941 erwerbsunfähig gewesen.
Das Sozialgericht (SG) Hannover wies die Klage mit Urteil vom 14. Juni 1962 ab: Die Voraussetzungen für die Anrechnung von Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG lägen nicht vor; der Kläger sei nach den Versicherungsunterlagen noch vom November 1916 bis Juni 1920 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen; es habe sich deshalb keine mit Arbeitsunfähigkeit verbundene Krankheit an den Kriegsdienst angeschlossen. Diese Zeit könne auch nicht als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG berücksichtigt werden, da die Voraussetzungen des Abs. 3 dieser Vorschrift (Halbdeckung) nicht erfüllt seien; es könne nur die Ausfallzeitenpauschale nach Art. 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) gewährt werden.
Der Kläger legte Berufung an das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen ein.
Das LSG entschied mit Urteil vom 18. Oktober 1963:
1. Auf die Berufung des Klägers werden der Bescheid der Beklagten vom 25. September 1961 und das Urteil des SG Hannover vom 14. Juni 1962 geändert.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Altersruhegeld unter zusätzlicher rentensteigernder Anrechnung der Zeiten vom 1. Juli 1920 bis 25. Februar 1923, vom 26. Mai 1923 bis 9. Oktober 1924 und vom 26. Januar 1925 bis 31. Juli 1931 zu zahlen.
3. Im übrigen wird die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hannover vom 14. Juni 1962 zurückgewiesen.
Es führte aus: Nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG seien Ersatzzeiten Krankheitszeiten, die sich unmittelbar an den militärischen Dienst und an die Kriegsgefangenschaft anschließen. Zwar seien nur solche Zeiten der Krankheit als Ersatzzeit zu berücksichtigen, während welcher zugleich Arbeitsunfähigkeit bestanden habe, deshalb sei die Zeit bis Ende Juni 1920, in der der Kläger versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei, keine Ersatzzeit; als Ersatzzeiten seien aber die Zeiten ab 1. Juli 1920, soweit und solange der Kläger infolge der Lungentuberkulose arbeitsunfähig gewesen sei, anzurechnen; es sei nicht erforderlich, daß die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar im Anschluß an den Arbeitsdienst oder an die Kriegsgefangenschaft auftrete, vielmehr genüge es, daß die Krankheit an jene Zeiten anschließe. Der Kläger sei vom 1. Juli 1920 bis Ende Juli 1931 wegen seines Lungenleidens ununterbrochen krank und arbeitsunfähig gewesen; die Zwischenzeiten vom 26. Februar 1923 bis 25. Mai 1923 und vom 10. Oktober 1924 bis 25. Januar 1925, während deren der Kläger in Untersuchungs- bzw. Strafhaft gewesen sei, kämen als Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG nicht in Betracht; über den 30. Juli 1931 hinaus sei der Kläger wegen seines Lungenleidens nicht mehr arbeitsunfähig gewesen.
Das LSG ließ die Revision zu.
Mit der Revision beantragte die Beklagte,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 18. Oktober 1963 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hannover vom 14. Juni 1962 zurückzuweisen.
Sie rügte, das LSG habe § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG verletzt.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - iVm §§ 153 Abs. 1, 167 SGG) einverstanden.
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist auch begründet.
Streitig ist, ob dem Kläger, der im November 1916 wegen eines Lungenbefundes aus dem Kriegsdienst ausgeschieden ist, danach aber bis zum 30. Juni 1920 versicherungspflichtig tätig gewesen ist, Zeiten nach dem 30. Juni 1920, in denen er wegen seines Lungenleidens arbeitsunfähig gewesen ist, bei der Feststellung seines Altersruhegeldes (ab 1. Mai 1960) als Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG anzurechnen sind.
Nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG (idF vor dem RVÄndGes vom 9. Juni 1965) werden als Ersatzzeiten angerechnet "Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist, sowie Zeiten der Kriegsgefangenschaft und einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit". Das LSG hat angenommen, nach dieser Vorschrift seien Ersatzzeiten Krankheitszeiten, die sich unmittelbar an den militärischen Dienst oder die Kriegsgefangenschaft anschließen. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Auslegung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG zutreffend ist oder ob die Vorschrift nicht so auszulegen ist, daß nur die an die Kriegsgefangenschaft anschließenden Krankheitszeiten, nicht aber die an den militärischen Dienst anschließenden Krankheitszeiten Ersatzzeiten im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG sind (wie das LSG: Eicher/Haase, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, 2. Aufl., Anm. 5 zu § 1251 der Reichsversicherungsordnung - RVO -; Elsholz/Theile, Die gesetzliche Rentenversicherung, 1963, Nr. 34 Anm. 8 c; a. M. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1964, Bd. III S. 676, Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, Anm. II zu § 1251 RVO). Auch wenn sowohl eine an die Kriegsgefangenschaft anschließende Krankheit als auch eine an den Kriegsdienst anschließende Krankheit den Ersatzzeitentatbestand im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG erfüllen, kommt im vorliegenden Fall eine Anrechnung von Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG nicht in Betracht, weil keine an den Kriegsdienst "anschließende" Krankheit im Sinne dieser Vorschrift vorgelegen hat. Ersatzzeiten sollen als Zeiten ohne Beitragsleistung (§ 27 Abs. 1 Nr. 2 AVG) ihrem Wesen nach Beiträge ersetzen, weil die mit diesen Zeiten verbundenen Umstände, die nicht in der Person des Versicherten begründet sind, in der Regel eine Beitragsleistung ausgeschlossen haben (Urt. des BSG vom 1. Juli 1964, SozR Nr. 8 zu § 1251 RVO). Eine Krankheit im Sinne der Ersatzzeitenregelung des § 28 Abs. 1 AVG ist daher nur eine solche Krankheit, die es dem Versicherten unmöglich macht, versicherungspflichtig tätig zu sein und Beiträge zu entrichten, d. h. eine Krankheit, die Arbeitsunfähigkeit bedingt (Jantz/Zweng aaO zu § 1251 RVO, Anm. II, S. 93; Brackmann aaO S. 676; Gesamtkommentar, Anm. 4 zu § 1251 RVO). Wenn der Ersatzzeitentatbestand des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG auch eine an den Kriegsdienst "anschließende" Krankheit umfaßt, so soll damit erkennbar ein unverschuldeter Verlust von Beitragszeiten, der "im Anschluß" an den Kriegsdienst durch Krankheit entstanden ist, ausgeglichen werden.
Tritt der Verlust von Beitragszeiten nicht "anschließend" an den Kriegsdienst, sondern erst später ein, so liegt kein Ersatzzeitentatbestand im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG vor; dies gilt - entgegen der Auffassung des LSG - auch dann, wenn der spätere Verlust die Folge einer Krankheit ist, die schon anschließend an den Kriegsdienst bestanden hat. Der Ersatzzeitentatbestand ist abgestellt auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Kriegsdienst und dem unverschuldeten Verlust von Beitragszeiten durch Krankheit und nicht auf eine ursächliche Verknüpfung eines solchen Verlustes mit einem Zustand, der anschließend an den Kriegsdienst vorgelegen hat (vgl. auch Urt. des BSG vom 20. Juni 1962, SozR Nr. 5 zu § 1259). Wäre es anders - und zwar so, wie das LSG meint-, so wären bei einem Versicherten, bei dessen Entlassung aus dem Kriegsdienst ein Leiden festgestellt worden ist, das seine Arbeitsfähigkeit jahrzehntelang nicht beeinträchtigt hat, dann aber doch (als wesentliche Bedingung, also als Ursache im Sinne des Sozialversicherungsrechts) zur Arbeitsunfähigkeit und damit zum Verlust von Beitragszeiten geführt hat, noch von diesem Zeitpunkt an Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG zu berücksichtigen.
Diese Auslegung widerspricht dem Sinn und Zweck des Gesetzes, das im § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG nur die an den Kriegsdienst anschließenden Beitragslücken durch Ersatzzeiten ausfüllen will.
Entscheidend ist deshalb, ob es bei dem Kläger "anschließend" an den Kriegsdienst durch Krankheit zu einem (weiteren) Vorlust von Beitragszeiten gekommen ist. Mit dem Wort "anschließend" ist in § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG - wie im Falle des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG (in der Fassung vor dem RVÄndG vom 9. Juni 1965), in dem es sich um den Anschluß einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Ersatzzeit an die Schulausbildung handelt (Urt. des BSG vom 20. Juni 1962, SozR Nr. 5 zu § 1259 RVO) - kein lückenloser zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Kriegsdienst und dem Verlust von Beitragszeiten durch Krankheit gemeint. Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Kriegsdienst und dem (weiteren) Verlust von Beitragszeiten durch Krankheit wird deshalb nicht schon durch jede "zwischenzeitliche" Beschäftigung unterbrochen; eine solche Beschäftigung, die in einem verhältnismäßig kurzen zeitlichen Abstand von dem Kriegsdienst infolge Krankheit wieder aufgegeben werden muß, steht der Annahme eines an den Kriegsdienst "anschließenden" Verlusts von Beitragszeiten durch Krankheit und damit der Anrechnung der folgenden Zeit der Arbeitsunfähigkeit als Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG nicht entgegen. Der 1. Senat hat in seinem Urteil vom 20. Juni 1962 (aaO) den zeitlichen Zusammenhang, der nach den Worten "Anschluß" und "anschließend" in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG erforderlich ist, noch als gewahrt angesehen, wenn die versicherungspflichtige Beschäftigung oder Ersatzzeit der Schulzeit innerhalb eines Zeitraumes von zwei Jahren nachgefolgt ist; es hat hierfür in dem in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG und § 28 Abs. 2 Buchst. a AVG (beide in der Fassung vor dem RVÄndG. vom 9. Juni 1965) ausdrücklich festgelegten Zeitraum von zwei Jahren einen sinnvollen Anhalt erblickt. Es kann dahingestellt bleiben, ob es diese Erwägungen auch rechtfertigen, den Begriff "anschließende" Krankheit im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG entsprechend auszulegen, d. h. es genügen zu lassen, daß der Verlust von Beitragszeiten durch Krankheit nicht später als zwei Jahre nach dem Kriegsdienst eingetreten ist; im vorliegenden Falle ist der Verlust der Beitragszeiten durch Krankheit erst eingetreten, nachdem der Kläger im Anschluß an seinen Kriegsdienst über 3 1/2 Jahre lang versicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist. Hier kann jedenfalls nicht von einem an den Kriegsdienst "anschließenden" Verlust von Beitragszeiten durch Krankheit gesprochen werden. Der Ersatzzeitentatbestand einer an den Kriegsdienst "anschließenden" Krankheit im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG ist deshalb nicht erfüllt.
Da das LSG die Rechtslage nicht zutreffend beurteilt hat, ist das Urteil des LSG aufzuheben; die Berufung des Klägers gegen das zutreffende Urteil des SG ist zurückzuweisen.
Nachdem die Vorschrift des § 36 Abs. 3 AVG (Berechnung der Halbdeckung für die Anrechnung von Ausfallzeiten) durch Art. 2 § 2 Nr. 19 Buchst. g des RVÄndG vom 9. Juni 1965 geändert worden ist, sind die streitigen Zeiten möglicherweise als Ausfallzeiten nach § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG zu berücksichtigen. Die Beklagte wird die Rente des Klägers gegebenenfalls nach Art. 5 § 6 RVÄndG neu festzustellen haben.
Fundstellen