Leitsatz (redaktionell)
1. Bei einer wegen vorübergehender Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit gewährten Rente auf Zeit ist der Versicherungsfall der Eintritt der Berufsunfähigkeit oder der Erwerbsunfähigkeit.
2. Wenn der Beginn der Rente auch um 26 Wochen aufgeschoben war und deshalb in das Jahr 1965 fiel, so war doch das für die allgemeine Bemessungsgrundlage bestimmende Moment, nämlich der Versicherungsfall, bereits 1964 eingetreten. Der als Versicherungsfall zu bezeichnende Tatbestand war mit der Fähigkeit des Klägers verwirklicht. Das Kriterium des Versicherungsfalles in RVO § 1255 Abs 2 läßt keine abweichende Deutung zu.
Normenkette
RVO § 1276 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1255 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 3. Mai 1966 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beklagte bewilligte dem Kläger wegen Erwerbsunfähigkeit die Rente auf Zeit, nämlich für die 13 Monate vom 1. März 1965 bis 31. März 1966. Sie nahm an, der Kläger sei am 1. August 1964 vorübergehend erwerbsunfähig geworden. Bei der Berechnung der Rente ging sie von der für 1964 geltenden allgemeinen Bemessungsgrundlage (§ 1255 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) aus.
Der Kläger hat dagegen die Festsetzung der Rente auf der allgemeinen Bemessungsgrundlage für 1965 gefordert; er hat behauptet, der monatliche Betrag der Rente liege dann um 13,50 DM über der von der Beklagten ermittelten Höhe.
Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben die Klage abgewiesen. Sie haben sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gestützt, wonach der Versicherungsfall einheitlich mit dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit zusammentreffe. In bezug auf die Zeitrente gelte nichts anderes (ua BSG 22, 278). Das bedeute, daß als Jahr des Versicherungsfalles das Jahr 1964 anzunehmen und demgemäß die allgemeine Bemessungsgrundlage zu bestimmen sei.
Der Kläger hat die - zugelassene - Revision eingelegt und beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und nach seinem Klageantrag zu erkennen. Er verficht die Ansicht, § 1276 RVO - die Vorschrift über die Zeitrente - normiere einen Versicherungsfall eigener Art. Die Zeitspanne von 26 Wochen, die abgelaufen sein müßte, bevor Rente gezahlt werden könne, sei ebenso wie die Beeinträchtigung des Leistungsvermögens Bestandteil des Versicherungsfallbegriffs und nicht nur eine Bestimmung über den Leistungsbeginn.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie sieht sich durch die Rechtsprechung des BSG gehindert, dem Klagebegehren, das sie an sich erfüllen möchte, nachzukommen.
Beide Beteiligte regen die Anrufung des Großen Senats an.
Die Revision ist unbegründet. Die dem Kläger bewilligte Zeitrente ist unzutreffend nach der für 1964 geltenden allgemeinen Bemessungsgrundlage berechnet worden. Wenn der Beginn der Rente auch um 26 Wochen aufgeschoben war und deshalb in das Jahr 1965 fiel, so war doch das für die allgemeine Bemessungsgrundlage bestimmende Moment, nämlich der Versicherungsfall (§ 1255 Abs. 2 RVO), bereits 1964 eingetreten. Denn der Versicherungsfall fällt bei der Rente auf Zeit (§ 1276 Abs. 1 RVO) mit dem Eintritt der Berufsunfähigkeit oder der Erwerbsunfähigkeit zusammen. Das hat das BSG wiederholt in Entscheidungen verschiedener Senate dargelegt (BSG 22, 278; Urteil vom 5. März 1965 - 11/1 RA 79/62 -; SozR Nr. 3 zu RVO § 1276; Urteil vom 30. September 1965 - 12/3 RJ 356/60 -). Dabei hat sich das BSG zum Teil mit der Kritik an seiner Rechtsprechung und auch bereits mit den im gegenwärtigen Rechtsstreit vorgetragenen Argumenten auseinandergesetzt. Der Senat vermag die Bedenken der Revision gegen die bisherige Rechtsprechung nicht zu teilen. Der als Versicherungsfall zu bezeichnende Tatbestand war mit der Erwerbsunfähigkeit des Klägers verwirklicht. Auf diesen, in § 1247 Abs. 2 RVO definierten Begriff geht § 1276 Abs. 1 RVO zurück. Letztere Vorschrift wandelt die Begriffsmerkmale der Erwerbsunfähigkeit nur insoweit ab, als sie die begründete Aussicht auf Besserung der eingeschränkten Erwerbsfähigkeit "in absehbarer Zeit" erfaßt. Zum Unterschied von § 1247 Abs. 2 RVO verlangt das Gesetz an dieser Stelle also nicht, daß das Leistungsvermögen des Versicherten "auf nicht absehbare Zeit" beeinträchtigt ist. Diese Abweichung auf der Voraussetzungsseite des Rechtssatzes bedeutet nicht, wie die Revision meint, einen unlösbaren Normwiderspruch (dazu: BSG-Urteil vom 30. September 1965 - 12/3 RJ 356/60 -). Man mag in § 1276 Abs. 1 RVO ein Abgehen von einem leitenden Gedanken des Gesetzes, nämlich der unbegrenzbaren Dauerhaftigkeit des die Erwerbsunfähigkeit bedingenden Zustandes sehen. Eine solche Systemdurchbrechung - wenn man die getroffene Regelung so sehen will - ist nicht ausgeschlossen oder auch nur ungewöhnlich. Keineswegs ist aber - was erst eine Gesetzesantinomie bedeuten würde - in § 1276 Abs. 1 RVO schlechthin das Gegenteil dessen ausgesprochen, was § 1247 Abs. 2 RVO beinhaltet; das eine ergänzt bloß das andere. Der Tatbestand der Erwerbsunfähigkeit ist nur in einem einzelnen Merkmal verändert; zugleich sind aber für diesen Sonderfall über Beginn, Ende und Umwandlung der Rente abweichende Rechtsfolgen angeordnet. Daß der Kreis dieser Anordnungen unvollständig sei oder daß ein Versicherungsfall eigener Art normiert sein sollte, ist nicht zu erkennen. Dem Gesetz ist nichts dafür zu entnehmen, daß der Tatbestand der Berufsunfähigkeit oder der Erwerbsunfähigkeit oder die damit verbundenen Rechtsfolgen im Zusammenhang mit der Zeitrente über das positiv Erklärte hinaus anders als sonst zu verstehen und anzuwenden seien. Im Gegenteil, die Zeitrente ist eine Rente "wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit" wie andere Renten wegen dieser Tatbestände auch (§ 1245 Nr. 1 RVO). Die Umkehr- und Sperrwirkungen, die als die spezifischen Erscheinungen des Versicherungsfalles angesehen werden, treten ein für allemal mit Erfüllung der Tatbestände der Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit ein, gleichviel, ob die Dauer dieser Zustände unabsehbar ist oder ob sich ihr Ende voraussehen läßt So muß die Wartezeit ohne Unterschied bei Eintritt der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit erfüllt sein (§ 1246 Abs. 3, § 1247 Abs. 3 RVO). Wer so oder so berufsunfähig oder erwerbsunfähig ist, kann ohne einen Aufschub aus einer freiwilligen Versicherung für die entsprechende Leistung keinen Nutzen mehr ziehen (§ 1419 Abs. 1 RVO); eine Ausfallzeit kann er insoweit nicht mehr zurücklegen (§ 1258 Abs. 4 RVO).
Eine andere rechtliche Beurteilung ist nicht aus dem Begriff des Versicherungsfalles zu gewinnen. Ob ihm im Recht der gesetzlichen Rentenversicherungen überhaupt eine eigene normative Bedeutung zukommt, kann auf sich beruhen. Selbst wenn man ihm eine Begriffsautonomie, eine von den Normen des Gesetzes abgelöste Tragweite beimißt, so ist doch die Verzögerung des Leistungsbeginns in § 1276 RVO nicht notwendig dem Inhalt des Begriffs Versicherungsfall zuzurechnen. Versicherungsfall ist namentlich nicht ohne weiteres stets mit Bedarfsfall gleichzusetzen (so Malkewitz, DRV 1966, 6, 9 f). Unter den Voraussetzungen des § 1276 RVO wird allerdings vom Gesetzgeber der Bedarfsfall für die ersten 26 Wochen der Berufsunfähigkeit oder der Erwerbsunfähigkeit verneint; es wird angenommen, daß der Versicherte im ersten Halbjahr den Ausfall an Erwerbseinkommen ohne die Leistung der Rentenversicherung auszugleichen vermag (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 29. Juni 1967 - 4 RJ 35/66 -). Das ändert aber nichts daran, daß der Tatbestand der Erwerbsunfähigkeit, nämlich eine bestimmte Einbuße im Leistungsvermögen des Versicherten und damit die Gegebenheit, die das Gesetz auch unter die Sammelbezeichnung Versicherungsfall subsumiert, verwirklicht sein kann.
Durch die hier vertretene Auslegung des § 1276 Abs. 1 RVO wird nicht, wie die Revision unterstellt, jede noch so kurzfristige Erkrankung den Tatbeständen der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit untergeordnet. Das Moment einer gewissen Dauer, das einer gesundheitlichen Störung anhaften muß, wenn diese den Anspruch auf Leistung aus den Rentenversicherungen begründen soll, wird nicht geleugnet. Lediglich die Prognose, die über die voraussichtliche Dauer der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit zunächst gestellt wird, ist verschieden.
Der Senat hat schon in seiner, in SozR Nr. 38 zu RVO § 1248 veröffentlichten Entscheidung ausgeführt, daß das Kriterium des Versicherungsfalls in § 1255 Abs. 2 RVO keine abweichende Deutung zuläßt. Die in dieser Richtung in dem zitierten Urteil angestellten Überlegungen sind von der Revision nicht in Frage gestellt und, soweit ersichtlich, auch sonst nicht in Zweifel gezogen worden. Deshalb kann es dazu bei dem früher Gesagten bewenden.
Die Vorinstanzen haben sonach richtig entschieden. Es besteht kein Anlaß, der Anregung der Beteiligten zu folgen und dem Großen Senat die Frage vorzulegen, ob bei der Rente auf Zeit der Leistungsaufschub zum Versicherungsfall gehört. Für eine Anrufung des Großen Senats bietet § 43 SGG - nur diese Vorschrift kommt hier in Betracht - keine Handhabe, da weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des großen Senats erfordern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen