Leitsatz (amtlich)
Der Versicherte hatte seiner früheren Ehefrau nicht "Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes" zu leisten, wenn die Ehe auf Verlangen der früheren Ehefrau nach EheG § 44 wegen geistiger Störung des Versicherten ohne Schuldausspruch geschieden wurde. Die Regelung des EheG § 61 Abs 2, daß nur der Ehegatte, der die Scheidung verlangt hat, dem andern bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen Unterhalt zu gewähren hat, verstößt nicht gegen GG Art 3 Abs 1.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Alt. 1 Fassung: 1957-02-23; EheG § 61 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1946-02-20; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; EheG § 44 Fassung: 1946-02-20
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 3. Juli 1975 wird aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 5. März 1975 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten wurde auf Antrag der Klägerin im Oktober 1972 ohne Schuldausspruch nach § 44 des Ehegesetzes (EheG) geschieden. Sie war wegen einer geistigen Störung des Versicherten ("systematisierter, unkorrigierbarer Wahn mit dem Grad einer Geisteskrankheit") zerrüttet. Die Klägerin verlangte in der Folgezeit vom Versicherten keinen Unterhalt; sie erhielt von ihm keine Unterhaltszahlungen, auch eine Unterhaltsvereinbarung wurde nicht getroffen.
Der Versicherte starb am 30. April 1974, ohne zuvor eine neue Ehe geschlossen zu haben. Auch die Klägerin ist unverheiratet geblieben.
Die Beklagte lehnte den im Mai 1974 gestellten Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nach dem Versicherten durch Bescheid vom 20. August 1974 ab. Die Klage hatte vor dem Sozialgericht (SG) keinen Erfolg (Urteil vom 5. März 1975). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte dagegen verurteilt, der Klägerin die Hinterbliebenenrente vom 1. Juli 1974 an zu zahlen. In den Entscheidungsgründen ist u. a. ausgeführt: In dem vorliegenden Fall seien die Voraussetzungen des § 1265 Satz 1 RVO erfüllt, weil der Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten gegen diesen ein Anspruch auf Unterhalt nach § 61 Abs. 2 EheG zugestanden habe. Dies ergebe sich zwar nicht aus der wortgetreuen Anwendung der Vorschrift, denn danach habe nur der Ehegatte, der die Scheidung verlangt habe, beim Vorliegen weiterer Voraussetzungen Unterhalt zu gewähren. Diese Auslegung verstoße jedoch gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes - GG - (vgl. Art. 3 Abs. 1 GG). Darüber habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht zu befinden, weil es sich bei dem EheG um ein Kontrollratsgesetz handele, das vor Inkrafttreten des GG Geltung erlangt habe. Vielmehr seien die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit befugt, das EheG auf seine Übereinstimmung mit dem GG hin zu überprüfen. Diese Überprüfung führe zu einer Auslegung des § 61 Abs. 2 EheG, die dem Wortlaut entgegenstehen müsse. Durch die wortgetreue Auslegung der Vorschrift werde derjenige, der die Scheidung ohne Verschulden des anderen Teiles verfolge, ohne erkennbaren Grund benachteiligt. Schon das Reichsgericht habe die im EheG getroffene Regelung mißbilligt; in der Literatur werde das Ergebnis als eine nur schwer erträgliche Situation bezeichnet. Ein Ehegatte, dem beispielsweise § 44 EheG ein Scheidungsrecht von seinem geisteskranken Partner gebe, könne dieses Recht nur unter dem Opfer ihm sonst möglicherweise zustehender Unterhaltsansprüche wahrnehmen. Dieses Opfer sei nicht zum Schutz der "Institution Ehe" gerechtfertigt. Daß es sich um ein sachlich unangemessenes "Opfer" handele, werde gerade in Fällen wie dem vorliegenden deutlich. Hier greife die Überlegung, die Klägerin habe ihren kranken Ehepartner im Stich gelassen, nicht durch. Die Scheidung sei nämlich wegen des aggressiven Verhaltens des Versicherten gegenüber der Klägerin notwendig geworden. Auch wirtschaftliche Gründe rechtfertigten es nicht, beide Ehegatten unterschiedlich zu behandeln. Deshalb sei § 61 Abs. 2 EheG so anzuwenden, daß auch dem Ehegatten, der die Scheidung nicht verlangt habe, ein Unterhaltsanspruch zugebilligt werden könne.
Dieses Ergebnis werde durch die neueste Rechtsprechung des BVerfG gestützt. Das BVerfG habe § 44 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) - hiernach werde für das Wiederaufleben von Witwenrenten vorausgesetzt, daß die neue Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe aufgelöst worden sei - als grundgesetzwidrig angesehen. Es sei nämlich nicht gerechtfertigt, an einer solchen "Scheidungsstrafe" festzuhalten.
In dem vorliegenden Fall müsse, da auch die übrigen Voraussetzungen des § 61 Abs. 2 EheG erfüllt sein, davon ausgegangen werden, daß der Klägerin gegen den Versicherten ein Unterhaltsanspruch nach § 61 Abs. 2 EheG zugestanden habe. Ihr Rentenanspruch sei deshalb nach § 1265 Satz 1 RVO begründet.
Gegen die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung wendet sich die Beklagte mit der zugelassenen Revision.
Sie hält die in § 61 Abs. 2 EheG getroffene Regelung nicht für grundgesetzwidrig. In Fällen der Scheidung ohne Verschulden sei eine differenzierte Betrachtungsweise gerechtfertigt. Es sei zulässig, allein demjenigen, der die Scheidung veranlaßt habe, unter bestimmten Voraussetzungen eine Unterhaltsverpflichtung aufzubürden.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Die Klägerin ist im Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückweisung der Berufung der Klägerin. Das SG hat zu Recht dahin entschieden, daß der Klägerin kein Rentenanspruch nach § 1265 RVO zusteht. Der davon abweichenden Auffassung des LSG vermag der Senat nicht zu folgen.
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG hat der Versicherte der Klägerin nach der Ehescheidung keinen Unterhalt geleistet, er hatte auch nicht aus "sonstigen Gründen" Unterhalt zu leisten. Ein Rentenanspruch nach § 1265 Satz 1 RVO könnte hiernach nur dann bestehen, wenn der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes hätte leisten müssen. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt.
Die Ehe ist auf Betreiben der Klägerin hin nach § 44 EheG geschieden worden. Einen Schuldausspruch enthält das Scheidungsurteil nicht. Demgemäß kommt es für einen Unterhaltsanspruch nach dem EheG darauf an, ob die Voraussetzungen des § 61 Abs. 2 EheG erfüllt sind. Das Berufungsgericht hat zutreffend dargelegt, daß der Wortlaut des Gesetzes einem solchen Anspruch entgegensteht. Nur der Ehegatte, der die Scheidung verlangt hat, hat hiernach dem anderen - beim Vorliegen weiterer Voraussetzungen - Unterhalt zu gewähren. Entgegen der vom LSG vertretenen Auffassung verstößt diese Regelung nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber hat nicht gleiche Tatbestände ungleich beurteilt.
Die Erwägungen des LSG sind schon in ihrem Ansatz nicht unbedenklich. Die Vorschrift des § 61 Abs. 2 EheG kann nicht für sich allein betrachtet werden, sie steht im Zusammenhang mit den übrigen Vorschriften des EheG, die den Unterhalt nach der Scheidung betreffen. Sie lassen erkennen, daß der Gesetzgeber das Verschuldensprinzip in den Vordergrund gestellt und ihm die entscheidende Bedeutung beigemessen hat. Aus § 58 EheG ergibt sich, daß dann, wenn das Urteil einen Schuldausspruch enthält, Unterhalt nur derjenige zu leisten hat, der das alleinige oder überwiegende Verschulden an der Scheidung trägt. Demjenigen, den kein Verschulden trifft, wird keine Unterhaltsverpflichtung aufgebürdet. Eine entsprechende Regelung enthält § 61 Abs. 1 EheG. Auch die Vorschrift des § 60 EheG stellt auf das Verschulden an der Ehescheidung ab. Der Ehegatte, der die Scheidung nicht zumindest mitverschuldet hat, ist nicht einmal zur Zahlung eines Beitrags zum Unterhalt des anderen Ehegatten verpflichtet. In diesen Rahmen paßt die Regelung, die in bezug auf den Ehegatten, der die Scheidung nicht verlangt hat, in § 61 Abs. 2 EheG getroffen ist. Er ist - wie in den anderen bisher aufgezeigten Fällen - von jeder Unterhaltsverpflichtung dem anderen gegenüber freigestellt. Damit steht er - im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG zu Recht - denjenigen gleich, die in den Fällen, in denen das Scheidungsurteil eine Schuldfeststellung enthält, die Scheidung nicht verschuldet haben. Damit könnte sich nach Auffassung des Senats allenfalls die Frage stellen, ob die Ausnahme vom Verschuldensprinzip, die § 61 Abs. 2 EheG enthält, daß nämlich der Ehegatte, der die Scheidung verlangt hat, mit einem Unterhaltsanspruch belastet sein kann, auch wenn er die Scheidung nicht verschuldet hat, dem Gleichheitssatz des GG widerstreiten könnte. Jedoch gibt es gute Gründe, die für die vorbezeichnete Regelung sprechen. Die Vorschrift des § 61 Abs. 2 EheG betrifft Fälle, in denen die Zerrüttung der Ehe durch Geisteskrankheit oder andere geistige Störungen oder durch ansteckende oder ekelerregende Krankheiten eines Ehegatten (vgl. §§ 44 bis 46 EheG) hervorgerufen worden ist. In solchen Fällen muß die Ehe gleichwohl aufrechterhalten werden, wenn das Scheidungsbegehren sittlich nicht gerechtfertigt ist, insbesondere also dann, wenn die Auflösung der Ehe den anderen Ehegatten außergewöhnlich hart treffen würde (§ 47 EheG). Der gesunde Ehegatte hat also eine weitgehende Verantwortung für seinen Ehepartner zu übernehmen, die sogar dazu führen kann, daß er trotz unheilbarer Zerrüttung der Ehe gegen seinen Willen gezwungen wird, an der Ehe festzuhalten. Dies macht deutlich, daß es in den Fällen, in denen die Scheidung erlaubt ist, gerechtfertigt sein kann, den die Scheidung betreibenden Ehegatten auch nach der Scheidung nicht völlig aus der Verantwortung für seinen Partner zu entlassen und diese der Allgemeinheit aufzubürden. Der Senat vermag keine sachwidrige Regelung darin zu erkennen, daß in solchen Fällen das Verschuldensprinzip durch das Veranlassungsprinzip ersetzt und der Ehegatte, der die Scheidung betrieben hat, verpflichtet wird, die wirtschaftliche Lage seines Ehepartners sicherzustellen. Hinzu kommt, daß § 61 Abs. 2 EheG den Ehegatten, der die Scheidung verlangt hat, nicht uneingeschränkt zur Zahlung des Unterhalts verpflichtet. Die Unterhaltspflicht besteht nur, wenn und soweit dies mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und die Vermögens- und Einkommensverhältnisse der geschiedenen Ehegatten und der nach § 63 EheG unterhaltspflichtigen Verwandten des Berechtigten der Billigkeit entspricht.
In der Rechtsprechung im übrigen und auch im Schrifttum findet sich kein Hinweis darauf, daß die vom LSG vertretene Auffassung geteilt wird; insbesondere stützt die in dem angefochtenen Urteil zitierte Entscheidung des Reichsgerichts (RGZ 164, 92, 96) die Auffassung des Berufungsgerichts nicht. Im Schrifttum wird lediglich in Zweifel gezogen, ob die Vorschrift des § 58 EheG, die den schuldig geschiedenen Ehemann schlechter stellt als die schuldig geschiedene Ehefrau, als grundgesetzgemäß angesehen werden kann. Darauf kommt es jedoch hier nicht an.
Die Entscheidung des BVerfG zu § 44 Abs. 2 BVG ist ebenfalls für den vorliegenden Fall ohne Bedeutung. Der Umstand, daß das Wiederaufleben einer Witwenrente nicht voraussetzt, daß die zweite Ehe ohne Verschulden der Witwe geschieden worden ist, gibt keinen Hinweis darauf, wie in Fällen der vorliegenden Art zu entscheiden ist.
Wenn hiernach ein Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den Versicherten nicht bestanden hat, so steht zugleich fest, daß ihr eine Rente nach § 1265 Satz 2 RVO nicht zugesprochen werden kann. Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben und das Urteil des SG wiederhergestellt werden. Es bedarf keiner Erörterung der übrigen vom LSG angesprochenen Rechtsfragen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen