Leitsatz (redaktionell)

Die Einsichtsfähigkeit des Klägers ist im Hinblick auf sein Alter (20jähriger Oberschüler), seine Kenntnis von explosiven Stoffen und die wiederholten Warnungen seines Vaters, daß er mit Fundmunition und den aufgefundenen Gegenständen vorsichtig umgehen müsse, zu bejahen.

 

Normenkette

BVG § 5 Abs. 1 Buchst. e Fassung: 1953-08-07

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Mai 1967 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppe hob der Vater des Klägers im Jahre 1945 eine amerikanische Eierhandgranate vor seinem Hause auf und legte sie in einen Schrank, der zunächst in einem Schuppen stand und später auf den Hausboden gebracht wurde. Im September 1962 fand sie der Kläger, ein damals 20-jähriger Oberschüler, hantierte mit ihr, sie explodierte und verursachte schwere Verletzungen an der rechten Hand und dem rechten Knie. Den Rentenantrag lehnte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 15. November 1962 ab. Die Handgranate sei dem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich entzogen und ein neuer Gefahrenbereich geschaffen worden; das treffe sowohl für das Aufbewahren der Handgranate als auch auf das Hantieren des Klägers zu, dem die Einsichtfähigkeit in die Gefährlichkeit seines Handelns unterstellt werden müsse. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 1963).

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Beweis erhoben durch Vernehmung des Vaters des Klägers als Zeugen und Einholung eines Arztberichts sowie eines Gutachtens einer Orthopädischen Klinik. Es hat durch Urteil vom 19. Juni 1964 die Verwaltungsbescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, wegen mehrerer, im einzelnen bezeichneter Gesundheitsstörungen Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v. H. vom 1. September 1962 an zu gewähren. Es hat ausgeführt, der Kläger sei einem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. e des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlegen. Die Handgranate habe auch auf dem Dachboden einen solchen Gefahrenbereich dargestellt. Bei der Abwägung der Bedingungen für den Eintritt des Erfolges stehe der kriegseigentümliche Gefahrenbereich nicht gleichwertig neben dem eigenen Verhalten des Klägers, sondern überwiege es eindeutig, da für diesen die Gefahr subjektiv nicht erkennbar gewesen sei.

Der Beklagte hat Berufung eingelegt und geltend gemacht, der Vater des Klägers habe den kriegseigentümlichen Gefahrenbereich beendet, indem er die Handgranate von ihrem ursprünglichen Platz entfernt habe; jedenfalls aber habe der Kläger fahrlässig gehandelt, zumal die Handgranate anders ausgesehen hätte, als eine Fettpresse, als welche er sie angesehen haben wolle. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Akten der Staatsanwaltschaft beigezogen und durch Urteil vom 9. Mai 1967 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage gegen die Verwaltungsbescheide abgewiesen. Es hat dahingestellt gelassen, ob in Anbetracht der Verlagerung des Explosionskörpers auf den Dachboden ein kriegseigentümlicher Gefahrenbereich auch noch zu dem Zeitpunkt bestanden habe, als der Kläger verletzt worden sei. Auch bei Bejahung dieser Frage habe der Kläger keine Ansprüche, weil er die Gefährlichkeit seines Handelns als 20-jähriger Oberschüler, der schon einmal mit explosiblen Stoffen gearbeitet habe, habe erkennen müssen. Es komme nicht darauf an, ob der Kläger das Ausmaß der Explosionswirkung genau übersehen habe. Vielmehr sei entscheidend, daß er überhaupt mit einer Gefahr habe rechnen müssen. Außerdem sei der Kläger wiederholt von seinem Vater darauf hingewiesen worden, daß er mit Fundmunition oder mit aufgefundenen Gegenständen, die ihm nicht bekannt seien, vorsichtig umgehen müsse. Das LSG hat die Revision zugelassen, weil die streitigen Rechtsfragen grundsätzliche Bedeutung hätten.

Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 19. Juni 1964 zurückzuweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine Verkennung der Kausalität. Sein Verhalten könne nicht als wesentliche Bedingung für den Eintritt des schädigenden Erfolges gewertet werden. Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Mai 1967 als unbegründet zurückzuweisen.

Er bleibt bei seiner - schon mit der Berufung vertretenen - Auffassung, daß die Handgranate im Schrank auf dem Dachboden keinen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich mehr dargestellt habe; sie habe sich ihrem Aussehen nach von einer Fettpresse entscheidend unterschieden, so daß der Kläger sie als solche nicht habe ansehen können, sondern mit ihrer Gefährlichkeit habe rechnen müssen.

Der Kläger hat die durch Zulassung statthafte Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Sein Rechtsmittel ist zulässig, konnte aber keinen Erfolg haben.

Das LSG hat es zwar dahingestellt gelassen, ob die amerikanische Eierhandgranate auf dem Dachboden, 17 Jahre nach dem Einmarsch der Amerikaner noch ein kriegseigentümlicher Gefahrenbereich im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG gewesen ist. Es hat aber keine Erwägungen angestellt, welche den Urteilsausspruch tragen könnten, wenn die Handgranate nicht mehr ein derartiger Gefahrenbereich gewesen wäre. Infolgedessen ist das Berufungsgericht in Wahrheit davon ausgegangen, daß vorliegend die Handgranate das Tatbestandsmerkmal des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG erfüllt hat. Nach dieser Vorschrift gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen, nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben. Weggeworfene oder in Bunkern oder im Wald gelagerte Munition und Sprengkörper sind regelmäßig als ein derartiger kriegseigentümlicher Gefahrenbereich angesehen worden. Infolgedessen war die amerikanische Handgranate 1945, als die einrückende Truppe sie allem Anschein nach vor dem Hause des Vaters des Klägers verloren hatte, ein kriegseigentümlicher Gefahrenbereich gewesen.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfordert die Eigenart des Begriffs "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich" weder eine zeitliche noch eine örtliche Verbindung mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen. Es ist sehr wohl möglich, daß auch bei einer Verlagerung des Spreng- oder Brandkörpers von dem Ort, an dem er ursprünglich den kriegsbedingten Gefahrenzustand hervorgerufen hat, dieser Zustand aufrechterhalten bleibt. So ist es jedenfalls dann, wenn der Sprengkörper aus Unachtsamkeit verschleppt oder zur Unschädlichmachung oder Sicherstellung fortgeschafft wird. Der Begriff "kriegseigentümlicher Gefahrenbereich" ist nicht durch eine örtliche Begrenzung gekennzeichnet, etwa in der Weise, daß nur die Stelle, an der der Sprengkörper verloren gegangen ist, seine Merkmale erfüllt (BSG 6, 103). Die Verlagerung des gefährlichen Gegenstandes an einen anderen Ort, auch wenn sie der Verunglückte selbst vorgenommen hat, löst nicht notwendig die Verbindung mit dem Kriegsgeschehen (BSG SozR BVG § 5 Nr. 29 - Urt. v. 10. November 1960 8 RV 397/59). Da der Vater des Klägers die Handgranate, als er sie 1945 fand, sicherstellen und Schaden durch sie verhüten wollte, bildete sie auch nach dem Verbringen in den Schrank im Schuppen und ebenfalls nach dem weiteren Transport auf den Hausboden einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG. Der entgegenstehenden Auffassung der Beklagten, die Handgranate habe ihren Charakter als kriegseigentümlicher Gefahrenbereich durch das Handeln des Vaters des Klägers verloren, kann nicht gefolgt werden. Infolgedessen hat das LSG zu Recht geprüft, ob der eingetretene Schaden ursächlich hierauf oder auf das Verhalten des Klägers zu beziehen ist.

Das Berufungsgericht ist der Auffassung gewesen, der Kläger habe beim Hantieren mit der Handgranate mit einer Gefahr gerechnet oder jedenfalls rechnen müssen; es komme nicht darauf an, ob er die Handgranate nicht als solche erkannt habe. Dies ist in seiner Allgemeinheit nicht frei von Rechtsirrtum. Nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. statt anderen Urteil des 10. Senats vom 27. Februar 1962, abgedruckt BSG 16, 216 ff, 220) kommt es darauf an, inwieweit der kriegseigentümliche Gefahrenbereich subjektiv von dem Beschädigten erkannt worden ist oder nach Lage des Einzelfalles hätte erkannt werden müssen, so daß er dementsprechend sein Verhalten einrichten und die Gefahr vermeiden konnte. Für seine Entscheidung hat sich das Berufungsgericht auf die in der Sozialgerichtsbarkeit 1962 S. 272 Nr. 24 mitgeteilte Entscheidung des 11. Senats vom 18. Juli 1962 (11 RV 584/59) bezogen. Zwar ist in diesem Auszug aus der Entscheidung ausgeführt, es sei entscheidend, daß der Kläger überhaupt mit einer Gefahr gerechnet habe oder jedenfalls habe rechnen müssen; das Tatbestandsmerkmal des kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs ist für dieses Erkennenmüssen in dem Auszug aus der Entscheidung des 11. Senats nicht erwähnt. Wie sich aber aus der gesamten Entscheidung ergibt, hat der 11. Senat von der strengeren Auffassung des 10. Senats, der es auf das Erkennen oder Erkennenmüssen des kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs abgestellt hat, nicht abweichen wollen. Er hat ausgeführt, nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG sei der damalige Kläger auf die Herkunft des schadenbringenden Sprengkörpers aus einer Brandbombe hingewiesen worden. Er kannte also den Gegenstand, mit dem er dann herumspielte, wußte, daß es sich um Kriegsgerät, sogar um einen Sprengkörper handelte, und war sich also über den kriegseigentümlichen Gefahrenbereich, den dieser Sprengkörper darstellte, im klaren. Infolgedessen muß daran festgehalten werden, daß es bei der Abwägung der Kausalität darauf ankommt, daß im vorliegenden Fall der Kläger - da er das Aussehen einer amerikanischen Handgranate nicht gekannt hat - hat erkennen müssen, daß es sich bei dem von ihm aufgefundenen Gegenstand um einen militärischen Sprengkörper, also um einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich, gehandelt hat.

Bei der Abwägung der zur Schädigung führenden Bedingungen ist maßgebend, ob zu der kriegseigentümlichen Gefahr in Gestalt der sichergestellten Handgranate eine vom Kläger selbst gesetzte hinzutritt. Bei der Beurteilung dieser zweiten Gefahr ist wesentlich, ob der Kläger sie nicht nur überhaupt als ein Geschehen hat erkennen können, durch das er möglicherweise zu Schaden komme, sondern ob er hat erkennen müssen, daß es sich um Kriegsgerät gehandelt hat. Insoweit ist seine Einsichtsfähigkeit und seine Fähigkeit zu prüfen gewesen, sein Handeln demgemäß einzurichten. So ist die von einem 14 1/2-jährigen Oberschüler selbst gesetzte Gefahr nicht als wesentliche Bedingung gegenüber der kriegseigentümlichen Gefahr angesehen worden, weil er aus kindlicher Unbekümmertheit gehandelt und seine Chance, ihr zu entgehen, erheblich überschätzt habe (BSG in SozR BVG § 5 Nr. 29). Es kommt also darauf an, ob die selbst gesetzte Gefahr in ihrer kriegseigentümlichen Fähigkeit, Schaden zu stiften, überhaupt erkannt werden konnte und mußte. Insoweit hat das LSG zu Recht entschieden, daß das Herumhantieren des Klägers, zunächst das Befühlen, das Betasten des Hebels, das Herausziehen des Ringes und Beobachten, daß der Hebel dann zur Seite stand, die wesentliche Bedingung für den Erfolg gesetzt hat.

Das Berufungsgericht hat insoweit die allgemeine Einsichtfähigkeit eines 20-jährigen Oberschülers, der vor dem Abitur stand, in Rechnung gezogen. Zusätzlich hat es berücksichtigt, daß der Kläger schon einmal mit explosiblen Stoffen gearbeitet und den Treibsatz einer Rakete zusammenzusetzen versucht hat. Schließlich hat es noch festgestellt, daß der Vater des Klägers ihn auf die Gefährlichkeit von Munition und Sprengkörpern aus den Beständen der Wehrmacht hingewiesen und ermahnt hatte, mit aufgefundenen Gegenständen, die ihm nicht bekannt seien, vorsichtig umzugehen. Gegen diese tatsächlichen Feststellungen sind Revisionsrügen nicht erhoben. Sie binden also nach § 163 SGG den Senat.

Diese tatsächlichen Feststellungen reichen dazu aus, daß das LSG ohne Rechtsverstoß zu dem Ergebnis gelangen konnte, der Kläger habe den kriegseigentümlichen Gefahrenbereich erkennen müssen.

Bei den tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil kann nicht mit der Revision gesagt werden, die Maßstäbe für die Einsichtfähigkeit des Klägers seien überspannt worden. Wenn man auch mit dem LSG davon ausgeht, daß er die Handgranate zunächst als solche nicht erkannt hat, so mußte doch der äußere Anschein des Metallgegenstandes mit dem Hebel, der sich nicht bewegen ließ, und dem Ring in ihm die Überzeugung reifen lassen, daß dieser ihm unbekannte Gegenstand Gefahren in sich bergen könne. Mag diese Einsicht auch nicht gleich beim ersten Betrachten sich eingestellt haben, so doch bei dem offenbar über längere Zeit fortgesetzten Betasten. Allerspätestens in dem Augenblick, als sich der Ring herausziehen ließ und der Hebel sich bewegte; mußte der Kläger sich an die Warnungen seines Vaters erinnern und erkennen, daß er Kriegsmaterial, und zwar offenbar einen Explosionskörper vor sich hatte. Ihm mußte auch klar werden, daß er eine Automatik in Gang gesetzt hatte, welche aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer Explosion endete. Zu dieser Erkenntnis mußte er auch aus seinem früheren Hantieren mit Chemikalien als Treibsatz einer Rakete kommen. In diesem Augenblick hatte der Kläger an sich noch Zeit genug, der Gefahr zu entgehen. Wenn er trotzdem die Handgranate weiter betrachtete und dann erst überlegte, daß er sie fortwerfen könne, ist dieses Zuwarten und Beobachten die wesentliche Bedingung für den dann eingetretenen Körperschaden gewesen.

Da also die angefochtene Entscheidung zu Bedenken keinen Anlaß gibt, mußte die Revision des Klägers zurückgewiesen werden.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284912

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