Leitsatz (redaktionell)
1. Die Voraussetzungen zur Annahme einer Internierung sind dann nicht gegeben, wenn sowohl die volle Bewegungsfreiheit als auch die freie Wahl der ausübenden Tätigkeit gewährleistet ist, der Eingliederung in den Arbeitsprozeß am Aufenthaltsort somit nichts entgegensteht.
2. Die Internierung setzt eine Unterbringung auf eng begrenztem Raum unter dauernder Überwachung durch die Gewahrsamsmacht voraus. Von diesem völkerrechtlichen Internierungsbegriff weicht der des BVG nur insofern ab, als er nicht fremde Staatsangehörigkeit des internierten im Verhältnis zur Gewahrsamsmacht voraussetzt; es genügt vielmehr auch die deutsche Volkszugehörigkeit im Ausland.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, Abs. 2 Buchst. c Fassung: 1950-12-20, Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai 1968 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger, geboren 1912 in Litauen, wohnte vor dem 2. Weltkrieg in K; er besaß die litauische Staatsangehörigkeit, ist aber deutscher Volkszugehörigkeit. Im Herbst 1943 übernahm er ein Fleischwarengeschäft in dem polnischen Ort B (Südostpreußen). Im Januar 1945 floh er bei Annäherung der russischen Truppen mit seiner Familie in den Raum von A. Hier wurde er von den Russen aufgegriffen, zunächst in Lager nach B (Polen) und G (Weißrussland) und schließlich - nachdem seine frühere litauische Staatsangehörigkeit festgestellt worden war - im Juni/Juli 1945 nach M gebracht und dort in die am Stadtrand gelegene Strumpffabrik A eingewiesen. Der Kläger war zunächst in einer Baracke untergebracht, von 1948 an hatte er mit seiner Familie eine Unterkunft in wiederaufgebauten Räumen auf dem Fabrikgelände, auf dem auch einheimische Familien wohnten. Er wurde zunächst mit Aufräumungsarbeiten, später als Wächter in der Strumpffabrik beschäftigt, von Juni 1947 an war er in seinem Beruf als Fleischermeister in einer Fleischerei in M tätig; er erhielt Entlohnung und Krankenschutz. Zunächst durfte das Fabrikgelände ohne Genehmigung der Lagerverwaltung nur zu Arbeitszwecken verlassen werden; von Anfang 1947 an durfte sich der Kläger in der Stadt M frei bewegen, durfte jedoch bis zu seiner Umsiedlung in die Bundesrepublik im Jahre 1959 diese Stadt nicht verlassen.
Im Jahre 1952 wurde bei dem Kläger eine aktive Lungentuberkulose festgestellt; 1954 und 1958/1959 war er zu stationären Behandlungen in den Krankenhäusern in K und M; von 1955 an erhielt er wegen Invalidität eine Sozialrente. Im Dezember 1959 wurde er in die Bundesrepublik ausgesiedelt. Im Juli 1960 beantragte der Kläger, die Lungentuberkulose als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anzuerkennen.
Mit Bescheid vom 4. Mai 1962 lehnte das Versorgungsamt A den Antrag ab, da der Kläger von Juli 1945 an, dem Zeitpunkt seiner Rückkehr in seine Heimat (Litauen), nicht mehr als "Verschleppter" im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a i. V. m. § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG anzusehen und deshalb schon ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der 1952 festgestellten Tuberkulose und schädigenden Einwirkungen einer Verschleppung nicht wahrscheinlich sei. Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 2.1.1963).
Das Sozialgericht (SG) Aachen hat mit Urteil vom 17. November 1966 die Klage abgewiesen. Mit der Berufung hat der Kläger geltend gemacht, sein Aufenthalt in M sei bis zu seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik im Jahre 1959 als Internierung i. S. des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG anzusehen.
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung durch Urteil vom 9. Mai 1968 zurückgewiesen.
Der Kläger leide zwar an einer schweren Lungentuberkulose, diese sei jedoch keine Schädigungsfolge i. S. des § 1 BVG. Bei der Beurteilung des Zusammenhangs der 1952 festgestellten Krankheit mit einer Schädigung sei nach den medizinischen Erhebungen ein Zeitraum von 2 Jahren als versorgungsrechtlich geschützt anzusehen. Die Lungentuberkulose wäre demnach ein Versorgungsleiden, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 1, 5 BVG noch Anfang 1950 vorgelegen hätten. Das sei jedoch nicht der Fall. Die Verschleppung des Klägers durch die russische Armee sei mit der Verbringung nach M, das 1918 bis 1939 zu Litauen gehört habe, abgeschlossen gewesen; denn er sei litauischer Staatsbürger gewesen; mit der Verbringung nach M habe er sich wieder in seiner Heimat befunden. Er sei aber Anfang 1950 auch nicht mehr wegen deutscher Volkszugehörigkeit "interniert" gewesen. Seit 1947 habe er sich in M frei bewegen können; er habe auch wie jeder einheimische Arbeiter gegen Entgelt und bei Krankenschutz frei arbeiten können; seine Bewegungsfreiheit sei nur noch insoweit eingeschränkt gewesen, als er bis zu seiner Umsiedlung in die Bundesrepublik die Stadt M nicht verlassen durfte. Die Lebensverhältnisse des Klägers von 1948 an bis 1959 rechtfertigten es nicht, ihn noch während dieses Zeitabschnitts als "Internierten" anzusehen; ihm sei lediglich ein "Zwangsaufenthalt" zugewiesen gewesen. Das LSG ließ die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage der Auslegung des Begriffs "Internierung" i. S. des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG zu.
Der Kläger hat formgerecht und fristgemäß Revision eingelegt; er beantragt.
die Entscheidungen der Vorinstanzen sowie die Verwaltungsbescheide aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die "Lungentuberkulose" des Klägers als Schädigungsfolge anzuerkennen und ihm vom 1. Juli 1960 an Rente nach einer MdE um 100 v. H. und Pflegezulage nach Stufe I zu gewähren.
Der Kläger rügt. das LSG habe die §§ 1 Abs. 2 a und c, 5 Abs. 1 d BVG verletzt. Es habe zu Unrecht verneint, daß er noch Anfang 1950 wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit "interniert" gewesen sei, eine Internierung liege nach einem Urteil des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 26. Februar 1960 - 11/10 RV 66/67 - auch dann vor, wenn der Festgehaltene sich zwar an dem Ort der Festhaltung frei bewegen könne, aber diesen Ort nicht ohne Erlaubnis nach Gutdünken verlassen dürfe. Das Berufungsgericht habe auch zu Unrecht die Auffassung vertreten, daß die Verschleppung durch die russische Armee mit der Verbringung des Klägers nach M im Jahre 1945 beendet gewesen sei.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist jedoch nicht begründet.
Streitig ist, ob die Lungen-Tbc des Klägers Folge einer Schädigung im Sinne des BVG ist. Die Vorinstanzen haben dies zu Recht verneint. Das LSG ist in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen, daß aus medizinischen Gründen ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der im Jahr 1952 festgestellten Tbc des Klägers und schädigenden Einwirkungen im Sinne des BVG nur bejaht werden könne, wenn diese Einwirkungen nach Anfang 1950 eingetreten seien. Hiergegen sind zulässige und begründete Revisionsgründe nicht geltend gemacht (§ 163 SGG). Die Beteiligten sind vielmehr - mit dem LSG - übereinstimmend der Auffassung, daß die Lungen-Tbc des Klägers als Versorgungsleiden (nur dann) anzusehen wäre, wenn nach Anfang 1950 ein versorgungsrechtlich geschützter Tatbestand im Sinne des § 1 Abs. 1. Abs. 2 Buchst. c (Schädigung durch Internierung) oder des § 1 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a i. V. m. § 5 Abs. 1 Buchst. d (Schädigung, die durch eine mit der Verschleppung zusammenhängende besondere Gefahr eingetreten ist) vorgelegen hätte. Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger im Jahre 1947 eine Arbeit in seinem erlernten Beruf als Fleischermeister in M (gegen Entlohnung und mit "Krankenschutz") aufgenommen, hat sich seit dieser Zeit frei in M bewegen können und hat wie jeder einheimische Arbeiter frei arbeiten können; seine Bewegungsfreiheit ist nur insoweit eingeschränkt gewesen, als er die Stadt M bis zu seiner Umsiedlung in die Bundesrepublik im Jahre 1959 nicht verlassen durfte. Der Kläger hat zwar in der Revisionsschrift vorgetragen, er sei zu dieser Zeit (Anfang 1950) zweifellos noch in einem unter ständiger Kontrolle der Lagerverwaltung und Polizei stehenden Sammellager untergebracht gewesen, das er nur mit besonderer Genehmigung habe verlassen dürfen. Er hat jedoch gegen die Feststellungen des LSG, insbesondere auch gegen die, daß er sich ab 1947 frei in der Stadt M bewegen durfte und dort wie der einheimische Arbeiter gegen Entgelt und mit Krankenschutz frei arbeiten konnte, keine ordnungsmäßigen Verfahrensrügen erhoben (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Die Feststellungen sind daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Das Berufungsgericht hat aus seinen Feststellungen zutreffend gefolgert, daß der Kläger jedenfalls Anfang 1950 nicht mehr "interniert" i. S. des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG gewesen ist. Der Begriff der Internierung stammt aus dem Völkerrecht. Kennzeichnend für die Internierung ist, daß Angehörige der Zivilbevölkerung von einer ausländischen Macht oder auf ihre Veranlassung unter Aufhebung ihrer persönlichen Bewegungsfreiheit in Gewahrsam genommen und gehalten werden. Die Internierung setzt eine Unterbringung auf eng begrenztem Raum (z. B. Lager) unter dauernder Überwachung durch die Gewahrsamsmacht voraus. Von diesem völkerrechtlichen Internierungsbegriff weicht der des BVG nur insofern ab, als er nicht fremde Staatsangehörigkeit des Internierten im Verhältnis der Gewahrsamsmacht voraussetzt. Es genügt vielmehr auch die deutsche Volkszugehörigkeit im Ausland. Für eine weitere Ausdehnung des Internierungsbegriffs i. S. des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG gegenüber dem völkerrechtlichen Begriff bietet das Gesetz keinen Anhalt (vgl. hierzu Urteil des BSG vom 22.2.1961, SozR zu § 1 BVG Nr. 54). Der Kläger wurde, jedenfalls seit Anfang 1950, nicht mehr auf eng begrenztem Raum festgehalten, er konnte sich in der Stadt M frei bewegen; er war auch in das Wirtschafts- und Arbeitsleben seines Aufenthaltsortes eingegliedert. Er unterlag zwar insofern einer Aufenthaltsbeschränkung, als er die Stadt M bis zu einer Umsiedlung in die Bundesrepublik nicht verlassen durfte; diese Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit stellt jedoch noch keine Internierung dar. Der Hinweis der Revision auf das Urteil des BSG vom 26. Februar 1960, 11/10 RV 66/57, rechtfertigt kein anderes Ergebnis. In diesem Urteil heißt es zwar, "der Begriff der Internierung ist hiernach auch erfüllt, wenn der Festgehaltene sich an dem Ort der Festhaltung frei bewegen kann, aber diesen Ort nicht ohne Erlaubnis nach eigenem Gutdünken verlassen darf". Daraus ergibt sich jedoch noch nicht, daß nach der Auffassung des 11. Senats der "Ort der Festhaltung" auch etwas anderes sein könne, als ein eng begrenzter Raum, z. B. ein Sammellager. Denn aus den weiteren Ausführungen des genannten Urteils geht hervor, daß als "Ort der Festhaltung" jedenfalls nicht eine Stadt gemeint ist; die Feststellung, der Betroffene habe sich im Stadtgebiet K frei bewegen können ist als ein anspruchsverneinendes Tatbestandsmerkmal angesehen worden. Der 11. Senat hat als entscheidend angesehen. ob und in welchem Ausmaß die Freiheit beschränkt ist; er hat jedenfalls nicht die Auffassung vertreten. daß bei völliger Bewegungsfreiheit in einem ausgedehnten Stadtgebiet und bei Eingliederung in das Wirtschafts- und Arbeitsleben des Aufenthaltsorts noch von Internierung gesprochen werden kann.
Auch ein Versorgungsanspruch nach § 1 Abs. 2 Buchst. a i. V. m. § 5 Abs. 2 Buchst. c BVG ist nicht gegeben. Es kann dahingestellt bleiben, ob - wie das LSG meint - die Verschleppung des Klägers durch die russische Armee mit seiner Verbringung nach M, das von 1918 bis 1939 zu Litauen gehörte, abgeschlossen war, weil der Kläger litauischer Staatsangehöriger war und sich deshalb mit der Verbringung nach M im Juli 1945 wieder in seinem Heimatstaat befand. Nach den Feststellungen des LSG kann nicht bejaht werden, daß der Kläger noch Anfang 1950 schädigenden Vorgängen oder Einwirkungen ausgesetzt war, "die infolge einer mit der Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind". Zum Begriff der Verschleppung gehört zwar nicht notwendig, daß Zwangsarbeit zu leisten ist. Es ist aber andererseits von Bedeutung, daß der Kläger in das Wirtschafts- und Arbeitsleben seines Aufenthaltsorts eingegliedert war, und daß sich seine Lebensverhältnisse von denen der übrigen Bevölkerung nicht unterschieden haben. Daraus ergibt sich, daß jedenfalls "mit der Verschleppung zusammenhängende besondere Gefahren" nicht mehr bestanden haben. Auch der Kläger hat mit der Revision keinen Anhalt dafür vorgetragen, der darauf hindeutet, daß nach Anfang 1950 der "Verschleppung eigentümliche Gefahren" vorhanden waren, die für die Entstehung seiner Krankheit verantwortlich zu machen sind. Die Festhaltung des Klägers an seinem Aufenthaltsort ist nicht gleichbedeutend mit Verschleppung. Der Umstand, daß der Kläger unter den allgemein ungünstigen Lebensverhältnissen der Bevölkerung in den Ostgebieten leben mußte, erfüllt für sich allein keinen versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand. Unter diesen allgemeinen Lebensverhältnissen der Ostgebiete hätte der Kläger im übrigen auch leben müssen, wenn er nicht in seine Heimat "verschleppt" worden wäre, sei es, daß er an seinem letzten Wohnort in dem von Polen zurückgewonnenen Gebiet geblieben wäre. sei es, daß er das Schicksal der nach dem Einmarsch der Russen in Ostpreußen verbliebenen Bevölkerung hätte teilen müssen.
Das LSG hat danach im Ergebnis zutreffend entschieden. Die Revision des Klägers war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen