Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. anderes Aufenthaltsrecht. Arbeitnehmerstatus. Aufenthaltsrecht aus Art 10 EUV 492/2011. sozialgerichtliches Verfahren. notwendige Beiladung des Sozialhilfeträgers
Leitsatz (amtlich)
1. Maßgeblich für die Beurteilung des Arbeitnehmerstatus im Sinne des Unionsrechts sind nur die objektiven Umstände; die Motive für den Abschluss eines Arbeitsvertrags sind insoweit unerheblich.
2. Die Prüfung eines Rechtsmissbrauchs ist von der Beurteilung des Arbeitnehmerstatus zu trennen.
3. Der Sozialhilfeträger ist in Streitigkeiten um existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II auch dann notwendig beizuladen, wenn Ansprüche auf Sozialhilfe für Ausländer als Überbrückungsleistungen in Betracht kommen.
Orientierungssatz
1. Der im verfahrensgegenständlichen Zeitraum geltende Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst c SGB 2 ist nicht anzuwenden, auch wenn die Vorschrift erst zum 1.1.2021 aufgehoben worden ist, da die Vorschrift nach dem Urteil des EuGH vom 6.10.2020 - C-181/19 = ZESAR 2021, 43 mit dem Unionsrecht unvereinbar und deshalb nicht anzuwenden ist.
2. Das Recht auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zur weiteren Teilnahme am Unterricht aus Art 10 EUV 492/2011 vermittelt sowohl den Kindern als auch den sie betreuenden Elternteilen ein materielles Aufenthaltsrecht, welches an den Arbeitnehmerstatus eines Elternteils anknüpft, aber zeitlich über die Beschäftigung hinausreicht.
Normenkette
SGB 2 § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Buchst. c, b; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1; FreizügG/EU 2004 § 2 Abs. 2 Nr. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1a; FreizügG/EU 2004 § 2 Abs. 2 Nr. 1a; EUV 492/2011 Art. 10; AEUV Art. 45; SGB XII § 23 Abs. 3; SGG § 75 Abs. 2 Alt. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revisionen der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Dezember 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Im Streit stehen existenzsichernde Leistungen für EU-Ausländer vom 1.3. bis 31.8.2017.
Die 1981 geborene Klägerin zu 1 ist die Mutter des 2003 geborenen Klägers zu 2 und der 2004 geborenen Klägerin zu 3. Sie sind bulgarische Staatsangehörige. Die Kinder sind Halbwaisen. Die schwerbehinderte Klägerin zu 1 ist wegen Schizophrenie und Epilepsie in ärztlicher Behandlung. Sie hat keinen Beruf erlernt und in Bulgarien nicht gearbeitet. Die Kläger reisten nach eigenen Angaben im April 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Klägerin zu 1 gab an, dass sie ein besseres Leben erwartet und Hilfe gebraucht habe, um sich behandeln zu lassen. Sie habe eine Arbeit suchen wollen und die Kinder sollten eine Schule besuchen können. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, sei sie von einer Unterstützung durch die Stadt oder den Staat ausgegangen. Der Kläger zu 2 und die Klägerin zu 3 besuchen seit Anfang 2014 durchgehend die Schule. Die Klägerin zu 1 bezog bis Anfang März 2016 eine befristete bulgarische Invaliditätsrente. Sie war von November 2014 bis Februar 2015 beim Zeugen T als Helferin in einem Lebensmittelgeschäft gegen ein geringfügiges Entgelt beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung. Für den Kläger zu 2 und die Klägerin zu 3 wurde Kindergeld gezahlt.
Zwischen den Klägern und dem beklagten Jobcenter war zunächst streitig, ob die Kläger Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hatten; sie erhielten Regelleistungen aufgrund gerichtlicher Entscheidungen. Ab November 2014 bewilligte der Beklagte den Klägern Alg II bzw Sozialgeld, zuletzt bis Februar 2017 (Änderungsbescheid vom 13.12.2016). Den Folgeantrag lehnte er ab, weil die Kläger aufgrund einer zwischenzeitlichen Gesetzesänderung von Leistungen ausgeschlossen seien (Bescheid vom 22.2.2017; Widerspruchsbescheid vom 10.7.2017). Zwischenzeitlich verpflichtete das SG den Beklagten zur vorläufigen Zahlung von Leistungen in Höhe der für Februar 2017 gewährten Leistungen ohne Bedarfe für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 22.3. bis 31.8.2017 (Beschluss vom 28.4.2017 - S 25 AS 1170/17 ER). Der Beklagte bewilligte ohne Bezugnahme auf das Eilverfahren vorläufig Leistungen für den vorgenannten Zeitraum in monatlich unterschiedlicher Höhe (Bescheid vom 19.5.2017).
Das SG hat die Klagen abgewiesen (Urteil vom 6.9.2018). Das LSG hat die Berufungen nach Vernehmung des Zeugen zurückgewiesen (Urteil vom 5.12.2019). Die Kläger seien von Leistungen ausgeschlossen. Es habe insbesondere kein Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 bestanden. Bei der viermonatigen Beschäftigung sei die Klägerin zu 1 nicht Arbeitnehmerin iS von Art 45 AEUV gewesen. Nach Art und Durchführung der Tätigkeit sei die Beschäftigung "vergönnungsweise" erfolgt, sodass es sich nicht um eine echte und tatsächliche Tätigkeit gehandelt habe; sie sei als untergeordnet und unwesentlich einzustufen gewesen. Eine Beiladung des Sozialhilfeträgers sei entbehrlich, weil die Leistungen nach § 23 SGB XII ein aliud gegenüber den Leistungen nach dem SGB II darstellten.
Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung von Art 10 VO (EU) Nr 492/2011. Der Begriff der Beschäftigung dürfe nicht nach den gleichen Kriterien ausgefüllt werden wie der Begriff der Arbeitnehmereigenschaft aus der Unionsbürgerrichtlinie. Daher sei das LSG zu Unrecht von einem Ausschlusstatbestand ausgegangen. Selbst wenn kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II bestanden habe, seien allgemein Leistungen zur Existenzsicherung begehrt worden. Daher habe das LSG ihre Beiladungsanträge nicht übergehen dürfen.
Die Kläger beantragen,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Dezember 2019 und des Sozialgerichts Köln vom 6. September 2018 aufzuheben sowie den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 22. Februar 2017 und Änderung des Bescheids vom 19. Mai 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juli 2017 zu verurteilen, ihnen weitere Leistungen nach dem SGB II vom 1. März 2017 bis 31. August 2017 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässigen Revisionen der Kläger sind im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Nach den Feststellungen des LSG ist die Klägerin zu 1 Arbeitnehmerin gewesen. Ob sich die Kläger dennoch nicht auf ein Aufenthaltsrecht wegen des Schulbesuchs von Kindern als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigter EU-Ausländer berufen können, weil die Klägerin zu 1 ihren Status als Arbeitnehmerin missbräuchlich begründet hat, wird das LSG weiter aufzuklären haben.
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen die Bescheide vom 22.2.2017 und 19.5.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.7.2017 sowie das Begehren der Kläger auf Zahlung weiterer Leistungen nach dem SGB II vom 1.3. bis 31.8.2017.
2. Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Zutreffende Klageart für das gegen den Beklagten gerichtete Begehren ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG). Die Klage erfasst auch den Bescheid vom 19.5.2017, weil dieser nach § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchs- und damit des Klageverfahrens geworden ist. Es handelt sich um einen Verwaltungsakt (§ 31 Satz 1 SGB X), weil er die Höhe der Individualansprüche nach dem Beschluss im Verfahren S 25 AS 1170/17 ER festlegt, obwohl dessen Regelungen nicht weiter zu konkretisieren waren (vgl BSG vom 18.9.2003 - B 9 V 82/02 B - RdNr 6). Er ist darüber hinaus kein sog Ausführungsbescheid, der als solcher den mit Widerspruch angegriffenen Bescheid vom 22.2.2017 nicht für die Zeit vom 22.3. bis zum 31.8.2017 abändern würde (vgl BSG vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 20/06 R - SozR 4-3500 § 90 Nr 1 RdNr 12). Dies ergibt sich nach Auslegung des Bescheids vom 19.5.2017 anhand des objektiven Empfängerhorizonts, zu der das BSG als Revisionsgericht befugt ist (dazu eingehend BSG vom 25.10.2017 - B 14 AS 9/17 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 19 RdNr 21 ff), weil der Bescheid nicht ausdrücklich als Ausführungsbescheid bezeichnet ist und er die Höhe der Individualansprüche gegenüber dem Eilbeschluss abweichend, nämlich monatlich in unterschiedlicher Höhe, regelt.
3. Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Alg II/Sozialgeld sind §§ 7 ff, 19 ff SGB II in der Fassung, die das SGB II vor Beginn des Streitzeitraums zuletzt durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 22.12.2016 (BGBl I 3159) erhalten hat (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f).
Die Kläger erfüllten die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB II (dazu 4.). Sie sind nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, soweit sie sich auf ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 berufen konnten (dazu 5.). Der Kläger zu 2 und die Klägerin zu 3 besuchten die Schule und die Klägerin zu 1 war nach europarechtlichen Maßstäben Arbeitnehmerin (dazu 6.). Wegen fehlender Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen kann der Senat, ob es missbräuchlich ist, dass sich die Kläger auf das Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 berufen (dazu 7.).
4. Die Klägerin zu 1 ist nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II leistungsberechtigt. Sie hatte das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht und hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Erwerbsfähigkeit ist, soweit wie hier kein Feststellungsverfahren (vgl § 44a SGB II) eingeleitet worden ist, bereits aus rechtlichen Gründen anzunehmen (vgl BSG vom 13.7.2017 - B 4 AS 17/16 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 54 RdNr 15; BSG vom 5.8.2015 - B 4 AS 9/15 R - RdNr 14 mwN). Der Kläger zu 2 und die Klägerin zu 3 haben das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet und können als minderjährige, dem Haushalt der Klägerin zu 1 angehörende Kinder ohne bedarfsdeckendes Einkommen und Vermögen einen Anspruch auf Sozialgeld haben (§ 7 Abs 3 Nr 4, §§ 19 Abs 1 Satz 2, 23 SGB II).
5. Die Kläger sind nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, soweit sie sich auf ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 berufen konnten. Ausschlusstatbestände nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 1 oder 3 SGB II kommen nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt von vornherein nicht in Betracht.
Nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst a und b SGB II sind "ausgenommen" - also keine Leistungsberechtigten iS des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II und § 7 Abs 2 SGB II und ohne Leistungsberechtigung nach dem SGB II - Ausländer ohne Aufenthaltsrecht, sowie Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen. Da bereits ein anderes Aufenthaltsrecht als ein solches zum Zweck der Arbeitsuche sozialrechtlich die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst b SGB II hindert bzw den Leistungsausschluss "von vornherein" entfallen lässt (stRspr; vgl letztens BSG vom 13.7.2017 - B 4 AS 17/16 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 54 RdNr 17 mwN), haben die Kläger Anspruch auf Alg II/Sozialgeld, wenn sie sich auf ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 berufen können.
Der im verfahrensgegenständlichen Zeitraum geltende Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst c SGB II für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein oder neben einem Aufenthaltsrecht iS von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst b SGB II aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 ergibt, ist nicht anzuwenden, auch wenn die Vorschrift erst durch Art 4 Nr 2 des Gesetzes zur Ermittlung der Regelbedarfe und zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie weiterer Gesetze vom 9.12.2020 (BGBl I 2855) zum 1.1.2021 aufgehoben worden ist. Sie ist schon zuvor mit Unionsrecht unvereinbar und deshalb nicht anzuwenden gewesen (zum Anwendungsvorrang grundlegend EuGH vom 15.7.1964 - C-6/64 - Costa/E.N.E.L., EU:C:1964:66, Slg 1964, 1251). Der EuGH hat entschieden, dass Art 7 Abs 2 und Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 einer Regelung wie § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst c SGB II entgegenstehen, nach der ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats und seine minderjährigen Kinder, die alle im Aufenthaltsstaat ein Aufenthaltsrecht aufgrund von Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 genießen, weil die Kinder dort die Schule besuchen, unter allen Umständen automatisch vom Anspruch auf Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts ausgeschlossen sind (EuGH vom 6.10.2020 - C-181/19 - EU:C:2020:794 = ZESAR 2021, 43).
Ein Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 steht in diesem Sinne einem Leistungsausschluss, wie er im verfahrensgegenständlichen Zeitraum in § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Buchst c SGB II geregelt war, entgegen. Nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 können Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats (hier aus Bulgarien), der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier in der Bundesrepublik Deutschland) beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht teilnehmen. Dieses Recht auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zur weiteren Teilnahme am Unterricht (vgl EuGH vom 6.10.2020 - C-181/19 - EU:2020:794 = ZESAR 2021, 43 RdNr 35) vermittelt sowohl den Kindern als auch den sie betreuenden Elternteilen ein materielles Aufenthaltsrecht (vgl im Einzelnen BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 43/15 R - BSGE 120, 139 = SozR 4-4200 § 7 Nr 46, RdNr 27, 29 ff). Das Recht knüpft an den Arbeitnehmerstatus eines Elternteils an, reicht aber zeitlich über die Beschäftigung hinaus (BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - RdNr 24; vgl im Einzelnen BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 43/15 R - BSGE 120, 139 = SozR 4-4200 § 7 Nr 46, RdNr 30 ff). Mit dem Erfordernis der (früheren) Beschäftigung verweist Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 auf den Arbeitnehmerbegriff des Art 45 AEUV, wovon auch der EuGH ausgeht (letztens EuGH vom 6.10.2020 - C-181/19 - EU:C:2020:794 = ZESAR 2021, 43 RdNr 35 ff) und was sich im Übrigen aus der zu Art 10 gehörenden Abschnittsüberschrift und dem Sinn und Zweck der VO (EU) Nr 492/2011 ergibt, das Ziel der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erreichen (Erwägungsgrund Nr 3 der VO ≪EU≫ Nr 492/2011).
6. Der Kläger zu 2 und die Klägerin zu 3 besuchten in der Bundesrepublik Deutschland die Schule und nahmen damit am allgemeinen Unterricht des Aufenthaltsmitgliedstaats teil, während ihre Mutter einer Tätigkeit als Helferin in einem Lebensmittelgeschäft nachging. Mit dieser Tätigkeit war die Klägerin zu 1 nach europarechtlichen Maßstäben Arbeitnehmerin.
a) Der Begriff des Arbeitnehmers ist unionsrechtlich zu bestimmen (EuGH vom 23.3.1982 - C-53/81 - Levin, EU:C:1982:105, Slg 1982, 1035 RdNr 11 = NJW 1983, 1249 zur Bedeutung dieses Begriffs und dem der Beschäftigung in anderen Regelungszusammenhängen vgl nur Fuchs in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl 2018, Teil 1, Art 45-48 AEUV RdNr 10; Kahil-Wolff, ebenda, Teil 2, vor Art 1 VO ≪EG≫ Nr 883/2004 RdNr 5, Art 1 VO ≪EG≫ Nr 883/2004 RdNr 3, 6 ff; Steinmeyer, ebenda, Teil 2, vor Art 11 VO ≪EG≫ Nr 883/2004 RdNr 15 und Teil 3, Art 7 VO ≪EU≫ Nr 492/2011 RdNr 14; Fuchs/Marhold/Friedrich, Europäisches Arbeitsrecht, 6. Aufl 2020, S 89 f). Arbeitnehmer iS von Art 45 AEUV ist jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (EuGH vom 14.6.2012 - C-542/09 - Kommission/Niederlande, EU:C:2012:346 = ZESAR 2013, 37, RdNr 68; vgl BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - RdNr 19 mwN).
Der Umstand, dass eine Person im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden leistet, kann ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübte Tätigkeit nur untergeordnet und unwesentlich ist. Unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit ist indes nicht auszuschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses den Arbeitnehmerstatus begründen kann (EuGH vom 4.2.2010 - C-14/09 - Genc, EU:C:2010:57, Slg 2010, I-931 RdNr 26; vgl BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - RdNr 19 mwN).
Nach der Rechtsprechung des EuGH ist auch die Dauer der von dem Betroffenen verrichteten Tätigkeit ein Gesichtspunkt, den das innerstaatliche Gericht bei der Beurteilung der Frage berücksichtigen kann, ob es sich hierbei um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt oder ob sie vielmehr einen so geringen Umfang hat, dass sie nur unwesentlich und untergeordnet ist (EuGH vom 26.2.1992 - C-357/89 - Raulin, EU:C:1992:87, Slg 1992, I-1027 RdNr 14; EuGH vom 4.2.2010 - C-14/09 - Genc, EU:C:2010:57, Slg 2010, I-931 RdNr 27). Der bloße Umstand der kurzen Dauer der Beschäftigung führt als solcher nicht dazu, dass die Tätigkeit vom Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgeschlossen ist (EuGH vom 6.11.2003 - C-413/01 - Ninni-Orasche, EU:C:2003:600, Slg 2003, I-13187 RdNr 25; EuGH vom 4.6.2009 - C-22/08, C-23/08, - Vatsouras, Koupatantze, EU:C:2009:344, SozR 4-6035 Art 39 Nr 5 RdNr 29; EuGH vom 1.10.2015 - C-432/14 - EU:C:2015:643 = ZESAR 2016, 222 RdNr 23 f; EuGH vom 11.4.2019 - C-483/17 - Neculai Tarola, EU:C:2019:309 = InfAuslR 2019, 232 RdNr 22 ff).
Nicht maßgeblich für die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft sind dagegen bestimmte Umstände aus der Zeit vor und nach der Beschäftigung, wie etwa das Verhältnis der Beschäftigungsdauer zur Aufenthaltsdauer (EuGH vom 6.11.2003 - C-413/01 - Ninni-Orasche, EU:C:2003:600, Slg 2003, I-13187 RdNr 28 ff).
Weiterhin sind die Motive für den Abschluss von Arbeitsverträgen sowie der Suche von Arbeit in einem Mitgliedstaat unerheblich (EuGH vom 23.3.1982 - C-53/81 - Levin, EU:C:1982:105, Slg 1982, 1035 RdNr 22 = NJW 1983, 1249; EuGH vom 21.2.2013 - C-46/12 - EU:C:2013:97 RdNr 47). Selbst wenn ein Unionsbürger die Arbeitnehmereigenschaft nur in missbräuchlicher Absicht erlangen will, ändert dies nichts an der Stellung als Arbeitnehmer (EuGH vom 6.11.2003 - C-413/01 - Ninni-Orasche, EU:C:2003:600, Slg 2003, I-13187 RdNr 31). Die Arbeitnehmereigenschaft beurteilt sich allein nach objektiven Kriterien, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf Rechte und Pflichten kennzeichnen (EuGH vom 6.11.2003 - C-413/01 - Ninni-Orasche, EU:C:2003:600, Slg 2003, I-13187 RdNr 24; EuGH vom 21.2.2013 - C-46/12 - EU:C:2013:97 RdNr 40).
Für die Gesamtbewertung der Ausübung einer Tätigkeit als Beschäftigung und damit die Zuweisung des Arbeitnehmerstatus ist mithin Bezug zu nehmen insbesondere auf die Arbeitszeit, den Inhalt der Tätigkeit, eine Weisungsgebundenheit, den wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung, die Vergütung als Gegenleistung für die Tätigkeit, den Arbeitsvertrag und dessen Regelungen sowie die Beschäftigungsdauer (vgl dazu mit zahlreichen Hinweisen auf Rspr des EuGH nur Brinkmann in Huber, AufenthG, 2. Aufl 2016, § 2 FreizügG/EU RdNr 8 ff; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl 2020, § 2 FreizügG/EU RdNr 38 ff; Franzen in Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl 2018, Art 45 AEUV RdNr 15 ff). Nicht alle einzelnen dieser Merkmale müssen schon je für sich die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen genügen; maßgeblich ist ihre Bewertung in einer Gesamtschau. Der Gesamtbewertung ist mit Rücksicht auf einschlägige Rechtsprechung des EuGH ein weites Verständnis zugrunde zu legen (letztens BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - RdNr 20; weitere Nachweise bei Fuchs/Marhold/Friedrich, Europäisches Arbeitsrecht, 6. Aufl 2020, S 84 ff).
b) Hieran gemessen ist der Arbeitnehmerstatus der Klägerin zu 1 während der Beschäftigung beim Zeugen zu bejahen. Maßgeblich sind nur die objektiven Umstände und hiernach war ihre Tätigkeit echt und auch nicht nur unwesentlich und untergeordnet.
Nach dem Arbeitsvertrag war die Klägerin zu 1 dem Zeugen gegenüber für eine bestimmte Zeit zu einer Arbeitsleistung nach seinen Weisungen gegen Vergütung verpflichtet. Die geringfügige Beschäftigung erfüllt mit einer vereinbarten Arbeitszeit von acht Stunden pro Woche und einer Vergütung von 250 Euro pro Monat die Mindestanforderungen an Umfang, Dauer und Vergütungshöhe (BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21, RdNr 3, 18; BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - RdNr 21). Die Dauer des Arbeitsverhältnisses von vier Monaten steht weder für sich genommen noch unter Berücksichtigung der Gesamtumstände dem Arbeitnehmerstatus entgegen. Das Gleiche gilt für die Art der Tätigkeit als ungelernte Helferin. Anders als vom LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegt kommt es nicht darauf an, welchen Beitrag die Motive des Zeugen an der Aufrechterhaltung des Beschäftigungsverhältnisses hatten.
7. Ob das Berufen auf das Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 missbräuchlich ist, kann der Senat auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden. Das LSG hat die Beantwortung dieser Frage, auf die es nach seinem Rechtsstandpunkt nicht mehr ankam, ausdrücklich offengelassen.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH kann das Berufen auf eine unionsrechtliche Rechtsstellung im Einzelfall missbräuchlich sein, was von der Begründung der Rechtsstellung - hier der Arbeitnehmerstellung iS von Art 45 AEUV - zu trennen ist (EuGH vom 6.11.2003 - C-413/01 - Ninni-Orasche, EU:C:2003:600, Slg 2003, I-13187 RdNr 31; Schreiber, SGb 2019, 698, 701). Der Missbrauch ist nachzuweisen (vgl EuGH vom 26.2.2019 - C-116/16 und C-117/16 - T Danmark und Y Denmark, EU:C:2019:135 RdNr 97 ff; EuGH vom 18.12.2014 - C-202/13 - EU:C:2014:2450 RdNr 54).
Der Nachweis setzt zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung - hier von Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 - nicht erreicht wurde. Zum anderen erforderlich ist ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen künstlich bzw willkürlich geschaffen werden (zu den Voraussetzungen für einen Missbrauch bei Arbeitnehmern zuletzt EuGH vom 6.10.2020 - C-181/19 - EU:C:2020:794 = ZESAR 2021, 43 RdNr 76; die Rspr zum Rechtsmissbrauch im europäischen Arbeitsrecht zusammenfassend Kamanabrou, EuZA 2018, 18 ff; allgemein zum Missbrauch EuGH vom 22.12.2010 - C-303/08 - EU:C:2010:800, Slg 2010, I-13445 RdNr 47; EuGH vom 12.3.2014 - C-456/12 - EU:C:2014:135 = EuZW 2014, 395 RdNr 58; EuGH vom 17.7.2014 - C-58/13 und C-59/13 - EU:C:2014:2088 = NJW 2014, 2849 RdNr 42 ff).
Das Berufen auf einen erlangten Arbeitnehmerstatus und ein (ua) darauf beruhendes Recht nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 kann missbräuchlich sein, wenn EU-Ausländer die Freizügigkeit für Arbeitnehmer allein zu dem Zweck ausüben, in einem anderen Staat Sozialleistungen zu erhalten (vgl bereits EuGH vom 21.6.1988 - C-39/86 - Lair, EU:C:1988:322, Slg 1988, 3161 RdNr 43; EuGH vom 6.11.2003 - C-413/01 - Ninni-Orasche, EU:C:2003:600, Slg 2003, I-13187 RdNr 36; vgl auch EuGH vom 6.10.2020 - C-181/19 - EU:C:2020:794 = ZESAR 2021, 43 RdNr 68 unter Hinweis auf EuGH vom 11.11.2014 - C-333/13 - Dano, EU:C:2014:2358, SozR 4-6065 Art 4 Nr 3; zu Beispielen für ein missbräuchliches Berufen auf Rechte aus § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU im Aufenthaltsrecht OVG Nordrhein-Westfalen vom 28.3.2017 - 18 B 274/17; OVG Rheinland-Pfalz vom 20.9.2016 - 7 B 10406/16, 7 D 10407/16).
b) Nach den Feststellungen des LSG ist nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin zu 1 einen Teil der Voraussetzungen des Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 - nämlich ihre Arbeitnehmerinneneigenschaft - durch die Aufnahme einer Beschäftigung missbräuchlich geschaffen hat. Ist das der Fall, käme es darauf, ob dies auch auf die weiteren Voraussetzungen der Rechte aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 zutreffen könnte, nicht an.
Zunächst können die Umstände der Aufnahme und Durchführung der Tätigkeit, wegen der sich der EU-Ausländer darauf beruft, im Aufenthaltsstaat beschäftigt oder beschäftigt gewesen zu sein, zur Beurteilung der missbräuchlichen Schaffung der Voraussetzungen des Rechts aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 durch eine Beschäftigungsaufnahme herangezogen werden. In diesem Sinne hat nach den Feststellungen des LSG die Klägerin zu 1 eine Beschäftigung erst mehr als ein Jahr nach Einreise aufgenommen; zu einem Zeitpunkt, zu dem die Beteiligten darüber gestritten haben, ob den Klägern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren waren.
Neben den noch weiter aufzuklärenden Umständen der Aufnahme und Durchführung der Tätigkeit können grundsätzlich auch die Einreisegründe für oder gegen die Missbräuchlichkeit des Berufens auf formal über den erlangten Arbeitnehmerstatus bestehende Rechte sprechen. Je mehr Zeit zwischen Einreise und Beschäftigungsaufnahme vergangen ist, desto weniger Bedeutung haben die Einreisegründe. Das subjektive Element des Missbrauchs im Rahmen des Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 bezieht sich auf Voraussetzungen der Möglichkeit, bleiben zu können (Arbeitnehmereigenschaft, Ausbildung). Diese ist nicht deckungsgleich mit der Inanspruchnahme von Freizügigkeitsrechten bei der Einreise.
8. Das LSG wird die Beiladung des Sozialhilfeträgers nachzuholen haben. Der Beiladung und ggf der Verurteilung des Sozialhilfeträgers steht nicht entgegen, dass für den streitigen Zeitraum nach einer ausgeführten stattgebenden Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig Leistungen erbracht worden sind (BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - RdNr 11; vgl BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 38).
Vielmehr kommen anstelle der Leistungen nach dem SGB II Leistungen durch den beizuladenden Sozialhilfeträger entsprechend dem allgemeinen Begehren der Kläger auf Leistungen zur Existenzsicherung in Betracht (vgl zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG zuletzt BVerfG vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16 - BVerfGE 152, 68 ff; zum Verhältnis von SGB II und SGB XII letztens BSG vom 30.8.2017 - B 14 AS 31/16 R - BSGE 124, 81 = SozR 4-4200 § 7 Nr 53, RdNr 33 ff).
Voraussetzung einer unechten notwendigen Beiladung nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG ist nur, dass bei Ablehnung eines Anspruchs gegen den Beklagten ggf Ansprüche gegen den Beigeladenen bestehen, wofür die ernsthafte Möglichkeit einer Leistungsverpflichtung genügt (vgl BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 48/17 R - BSGE 127, 78 = SozR 4-4200 § 21 Nr 30, RdNr 23 mwN). Dies ist bei den auf die laufende Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums gerichteten Leistungen nach §§ 7 ff, 19 ff SGB II und den Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs 3 Satz 3, 5, 6 SGB XII der Fall, soweit sich die Leistungszeiträume decken. Dem steht nicht entgegen, dass Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs 3 SGB XII ggf als aliud gegenüber Leistungen nach § 23 Abs 1 SGB XII und Leistungen nach §§ 7 ff, 19 ff SGB II einzustufen sind (dazu Hessisches LSG vom 21.8.2019 - L 7 AS 285/19 B ER - RdNr 51 mwN).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 14456298 |
NJW 2021, 2461 |
FEVS 2022, 67 |
InfAuslR 2021, 350 |
NDV-RD 2022, 82 |
NZS 2021, 779 |
SGb 2021, 230 |
ZfF 2021, 215 |
AiSR 2021, 166 |