Leitsatz (redaktionell)
Nach SGG § 179 kann ein rechtskräftig beendetes Verfahren wieder aufgenommen werden, dagegen läßt ZPO § 578 die Wiederaufnahme durch Nichtigkeitsklage und Restitutionsklage seinem Wortlaut nach nur zu, wenn das Verfahren durch ein rechtskräftiges Endurteil abgeschlossen worden ist.
In der Sozialgerichtsbarkeit ist die Wiederaufnahme eines Verfahrens nicht von der Art der für die Beendigung gewählten gerichtlichen Entscheidung abhängig. Diese Regelung hat hier ihren besonderen Sinn, weil das SGG über die Regelung der ZPO hinaus weitere Fälle kennt, in denen durch Vorbescheid entschieden werden kann (SGG §§ 105, 158) und früher durch Vorbescheid oder Beschluß nach SGG § 216 entschieden werden konnte. Die entsprechende Anwendung des ZPO § 578 bedeutet, daß die Wiederaufnahme eines Verfahrens auch in der Sozialgerichtsbarkeit zwar nur unter den Voraussetzungen der Nichtigkeitsklage oder Restitutionsklage möglich, aber nicht von der äußeren Form der rechtskräftigen Entscheidung abhängig und auch dann zulässig ist, wenn das Verfahren statt durch Endurteil durch eine andere richterliche Entscheidung - Vorbescheid oder Beschluß - rechtskräftig beendet worden ist.
Für die Frage der Statthaftigkeit der Wiederaufnahmeklage muß es dahinstehen, ob der Senat des BSG bei Erlaß des Verwerfungsbeschlußes die Voraussetzungen der Statthaftigkeit der Revision zutreffend verneint hat oder nicht. Auf jeden Fall konnte er, da es nach seiner Überzeugung an dem Erfordernis der Statthaftigkeit der Revision nach SGG § 162 Abs 1 fehlte und die Revision daher nach SGG § 169 S 2 als unzulässig zu verwerfen war, nach SGG § 169 S 3 verfahren. Diese Vorschrift sieht für diesen Fall ausdrücklich eine Verwerfung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß ohne Zuziehung der Bundessozialrichter vor.
Normenkette
SGG § 179 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 578; SGG § 105 Fassung: 1953-09-03, § 158 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 169 S. 2 Fassung: 1953-09-03, S. 3 Fassung: 1953-09-03, § 216 Fassung: 1958-06-25
Tenor
Die Klage auf Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den Beschluß des Bundessozialgerichts vom 21. Juli 1960 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger hatte gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts (LSG) vom 2. Dezember 1959 Revision eingelegt, die nach § 169 Satz 2 und 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Beschluß des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. Juli 1960 - 10 RV 191/60 - als unzulässig verworfen worden ist, da sie nicht statthaft war. Gegen diesen Beschluß hat der Kläger in einem Schriftsatz vom 16. September 1960 durch seinen Prozeßbevollmächtigten "gemäß §§ 179 SGG i.V.m. 579 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO Nichtigkeitsantrag" gestellt; zugleich hat er gegen das Urteil des LSG vom 2. Dezember 1959 "gemäß §§ 179 SGG i.V.m. 579 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO Nichtigkeitsklage" erhoben. In diesem Schriftsatz, der an das BSG und an das Hessische LSG gerichtet worden ist, führt er aus: "Für den Fall, daß für den Nichtigkeitsantrag das Bundessozialgericht für zuständig gehalten werden sollte, wird vorsorglich Zweitschrift dieses Schriftsatzes mit gleicher Post auch beim Bundessozialgericht eingereicht werden". Danach ist beim BSG nur die Wiederaufnahmeklage gegen den Beschluß des BSG vom 21. Juli 1960 erhoben.
Zu der von ihm begehrten Wiederaufnahme des Verfahrens führt der Kläger aus, das BSG habe weder ohne mündliche Verhandlung noch ohne Hinzuziehung der Bundessozialrichter noch durch Beschluß statt durch Urteil über seine Revision entscheiden dürfen. Statthaft werde die Revision allein schon durch die Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels; sie brauche nicht auch begründet zu sein. Ungeachtet dessen wäre eine sachlich-rechtliche Nachprüfung deshalb erforderlich gewesen, weil über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden gewesen sei, wenn auch das LSG rechtsirrtümlich die Zulassung der Revision versäumt habe. Zwar hätte nach damals geltendem Recht eine offenbar unbegründete Revision auch ohne Mitwirkung der Bundessozialrichter zurückgewiesen werden dürfen; dann aber hätte ihm Gelegenheit gegeben werden müssen, zu der beabsichtigten Entscheidung Stellung zu nehmen (§ 216 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a und b, Abs. 2 SGG). Der Antrag auf Wiederaufnahme des durch Beschluß des BSG vom 21. Juli 1960 rechtskräftig beendeten Verfahrens ist form- und fristgerecht erhoben. Zur Entscheidung über den Antrag, der auf § 179 SGG i.V.m. § 579 Abs. 1 Nr. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) gestützt wird, ist das BSG auch gemäß § 179 SGG i.V.m. § 584 Abs. 1 letzter Halbsatz ZPO zuständig. Die Nichtigkeitsklage ist aber nicht statthaft.
Sie ist allerdings nicht deshalb unzulässig, weil die Revision durch Beschluß verworfen worden ist. Nach § 179 SGG kann ein rechtskräftig beendetes Verfahren wieder aufgenommen werden, dagegen läßt § 578 ZPO die Wiederaufnahme durch Nichtigkeitsklage und Restitutionsklage seinem Wortlaut nach nur zu, wenn das Verfahren durch ein rechtskräftiges Endurteil abgeschlossen worden ist. In der Sozialgerichtsbarkeit ist danach die Wiederaufnahme eines Verfahrens nicht von der Art der für die Beendigung gewählten gerichtlichen Entscheidung abhängig. Diese Regelung hat hier ihren besonderen Sinn, weil das SGG über die Regelung der ZPO hinaus weitere Fälle kennt, in denen durch Vorbescheid entschieden werden kann (§ 105 Abs. 1 SGG) und früher durch Vorbescheid oder Beschluß gemäß § 216 SGG entschieden werden konnte. Die entsprechende Anwendung des § 578 ZPO bedeutet, daß die Wiederaufnahme eines Verfahrens auch in der Sozialgerichtsbarkeit zwar nur unter den Voraussetzungen der Nichtigkeitsklage oder Restitutionsklage möglich, aber nicht von der äußeren Form der rechtskräftigen Entscheidung abhängig und auch dann zulässig ist, wenn das Verfahren statt durch Endurteil durch eine andere richterliche Entscheidung - Vorbescheid oder Beschluß - rechtskräftig beendet worden ist (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 179 Anm. 2; ferner Klinger, Komm, zur Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), Anm. 2 zu dem mit § 179 Abs. 1 SGG übereinstimmenden § 153 Abs. 1 VwGO vom 21. Januar 1960 - BGBl I 17 -).
Zum gleichen Ergebnis ist bereits das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) -BVerwG, NJW 1959, 117- gekommen, obwohl im Zeitpunkt seiner Entscheidung die dem § 179 Abs. 1 SGG entsprechende Vorschrift des § 153 VwGO noch nicht galt.
Auch im Zivilprozeßrecht überwiegt heute, mindestens im Schrifttum, die Meinung, die Wiederaufnahme des Verfahrens sei bei rechtskräftigen oder unanfechtbaren Beschlüssen jedenfalls insoweit statthaft, als diese auf einer Sachprüfung beruhen (so Baumbach-Lauterbach, ZPO 26. Aufl., Grundzüge 2 vor § 578; Stein/Jonas/Schönke, Vorbemerkung 1 P vor § 578; Wieczorek, D III b 2, 5 zu § 578 ZPO; Hosenberg, § 154 III 2; Nikisch, § 129 II 2). Diese Ansicht wird auf die Erwägung gestützt, daß der Beschluß insoweit dieselbe Wirkung wie das Urteil habe, zumal das Gesetz manchmal ganz willkürlich die Form der Entscheidung regele. Baumbach-Lauterbach verweisen dabei insbesondere auf § 554 a ZPO, nach dem das Revisionsgericht - wie das BSG nach § 169 SGG - eine nicht statthafte oder nicht in der gesetzlichen Form und Frist erhobene und daher unzulässige Revision ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß verwerfen kann.
In Übereinstimmung damit und entgegen der streng wörtlichen Auslegung in Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (RGZ) -RGZ 73, 195; 120, 175- hat auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, daß ein die Instanz beendender Beschluß mit dem in der ZPO für die Wiederaufnahme des Verfahrens bestimmten außerordentlichen Rechtsbehelf angefochten werden könne, wenn die Voraussetzungen z.B. des § 579 Nr. 1 ZPO erfüllt seien (BAG in NJW 1955, 926 mit zustimmender Anm. von Dietz). Nach Ansicht des BAG ist es mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und der Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung (Art. 20, 28 des Grundgesetzes -GG-) nicht vereinbar, einen das Verfahren abschließenden, aber gesetzwidrigen Beschluß weiter gelten zu lassen; insoweit müsse es vielmehr wie bei Endurteilen möglich sein, die Wirkung solcher Beschlüsse, wenn sie gegen wesentliche Verfahrensvorschriften verstoßen, mit den gebotenen außerordentlichen Rechtsbehelfen aufzuheben und deren Nichtigkeit festzustellen. Danach ist es sowohl nach dem Wortlaut des § 179 SGG als auch nach den Grundgedanken der Wiederaufnahme als zulässig anzusehen, daß die Wiederaufnahmeklage - wie im vorliegenden Fall - gegen eine Entscheidung erhoben wird, die als Beschluß ergangen ist.
Die vom Kläger erhobene Klage auf Wiederaufnahme des Verfahrens ist aber deshalb nicht statthaft, weil entgegen der Behauptung des Klägers der erkennende Senat des BSG bei der Verwerfung der Revision nicht unvorschriftsmäßig besetzt gewesen ist (§ 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Für die Frage der Statthaftigkeit der Wiederaufnahmeklage muß es dahinstehen, ob der Senat des BSG bei Erlaß des Verwerfungsbeschlusses die Voraussetzungen der Statthaftigkeit der Revision zutreffend verneint hat oder nicht. Auf jeden Fall konnte er, da es nach seiner Überzeugung an dem Erfordernis der Statthaftigkeit der Revision nach § 162 Abs. 1 SGG fehlte und die Revision daher nach § 169 Satz 2 SGG als unzulässig zu verwerfen war nach § 169 Satz 3 SGG verfahren. Diese Vorschrift sieht für diesen Fall ausdrücklich eine Verwerfung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß ohne Zuziehung der Bundessozialrichter vor. Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob der Senat des BSG den Verwerfungsbeschluß auch nach dem damals noch geltenden § 216 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a und b SGG idF des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 25. Juni 1958 (BGBl I 425) in der Besetzung ohne die Bundessozialrichter hätte treffen können.
Die Wiederaufnahme des Verfahrens kann somit nicht gemäß § 179 SGG i.V.m. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO stattfinden. Die auf § 179 SGG i.V.m. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gestützte Nichtigkeitsklage mit dem Antrag, das durch Beschluß des BSG vom 21. Juli 1960 rechtskräftig beendete Verfahren wieder aufzunehmen, ist daher unzulässig und war durch Prozeßurteil zu verwerfen (§ 179 SGG; § 589 ZPO).
Unter diesen Umständen war es dem Senat verwehrt, auf das weitere Vorbringen einzugehen, mit dem der Kläger offenbar die Statthaftigkeit seiner Revision, die er gegen das Urteil des LSG eingelegt hatte, rechtfertigen will; dieses Vorbringen aber könnte erst dann beachtlich werden, wenn die Nichtigkeitsklage statthaft, der Verwerfungsbeschluß aufzuheben und der alte Rechtsstreit von neuem zu entscheiden gewesen wäre.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen