Leitsatz (redaktionell)

Der Beschädigte ist hilflos iS des BVG § 35, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - nicht nur für einzelne - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf; dabei ist es nicht erforderlich, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird, es genügt schon, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß.

Es würde eine Überspannung an die Bereitstellung einer Hilfskraft bedeuten, wenn lediglich wegen (durchschnittlich) 5- bis 6mal im Jahre - anläßlich von schweren epileptischen Anfällen - zu leistender Hilfe die Notwendigkeit bejaht würde, daß eine Hilfskraft ständig bereitstehe.

Reisen und längere Spaziergänge, für die eine ständige Begleitung erforderlich ist, sind nur einzelne Verrichtungen des Lebens.

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 19. Januar 1961 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Wegen Hirnverletzungsfolgen, Verlust des linken Auges, Neigung zu - der Beschreibung nach - wahrscheinlich zentralen Krampfanfällen bezieht der Kläger, ein Volksschullehrer, seit dem Jahre 1948 auf Grund der Bescheide vom 27. und 28. März 1952 sowie 16. März 1953 nach dem Bayer. Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte - KB-Leistungsgesetz - (BKBLG) und nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um zunächst 70 v. H. und vom 1. Februar 1953 ab um 80 v. H.. Er hat diese drei Bescheide durch Berufung nach altem Recht angefochten, die nach Einführung der Sozialgerichtsbarkeit auf das Sozialgericht (SG) übergegangen ist, und hat zuletzt nur noch beantragt, ihm Pflegegeld bzw. Pflegezulage zu gewähren. Durch Urteil vom 18. Juni 1956 hat das SG die Klage abgewiesen.

Die Berufung nach neuem Recht hat der Kläger ebenfalls auf die Gewährung von Pflegegeld bzw. Pflegezulage beschränkt. Gestützt auf die im Laufe des Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahrens eingeholten ärztlichen Unterlagen und Gutachten sowie auf die Äußerung der Regierung von Oberbayern vom 23. November 1960 über die Tätigkeit des Klägers als Volksschullehrer, dessen Äußerungen im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 1961 und die Bekundungen seiner Ehefrau vom 19. Januar 1961 hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 19. Januar 1961 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, daß - von geringeren Störungen abgesehen - beim Kläger in der streitigen Zeit jährlich im Durchschnitt 5 bis 6 schwere Krampfanfälle mit Bewußtseinsstörung aufgetreten seien. Sie ereigneten sich unregelmäßig und unberechenbar. Ihr Kommen kündige sich höchstens unmittelbar vorher durch Mißempfindungen an, so daß der Kläger zwar gegebenenfalls, wie geschehen, den Schulraum noch verlassen könne, Hilfe aber nicht mehr herbeizurufen vermöge.

Es komme aber auch so plötzlich zu Anfällen, daß er selbst in der eigenen Wohnung weder aus eigener Kraft noch durch fremde Hilfe eine Liegestätte aufsuchen könne, sondern unvermittelt zusammenstürze. Die eigentliche Bewußtlosigkeit dauere zwar nur etwa 10 Minuten; es bleibe aber noch für eine gewisse Zeit ein Zustand der Benommenheit und Unorientiertheit zurück, in dem sich der Kläger mindestens außerhalb seiner Wohnung nicht ohne Gefahr bewegen könne. Die erforderliche Hilfeleistung bestehe in der Betreuung des Klägers nach den Anfällen durch Begleitung zur Wohnung und Verbringung zur Bettruhe, gegebenenfalls auch in der Versorgung eingetretener Verletzungen sowie Beseitigung eingetretener Schäden oder Verschmutzungen. Nach Auffassung des Berufungsgerichts könne eine Anfallsneigung wie beim Kläger an sich dazu führen, daß eine fremde Hilfe jederzeit bereit sein müsse. Ob dies notwendig sei, hänge von der Art und Heftigkeit der Anfälle ab. Wenn aber im Laufe eines Jahres mit etwa 5 bis 6 schweren Anfällen oder zeitweise auch mit solchen im Abstand von etwa 4 Wochen zu rechnen sei, so erfordere dieser Umstand noch nicht die Beiordnung einer ständig anwesenden Begleitperson. Bei Erfüllung des täglichen vollen Stundenplans als Lehrer seien bisher noch keine ernsthaften Schwierigkeiten aufgetreten. Es sei ausreichend, daß sich der Kläger allein vorsorglich nur in einem Bereich bewege, in welchem Hilfe nahe sei und gegebenenfalls eingreifen könne. Bei größeren Spaziergängen und Reisen außerhalb seines Wohnortes sei eine Begleitung unerläßlich, die von der Ehefrau gestellt werde. Im ganzen aber bleibe das Ausmaß der von der Ehefrau bei Spaziergängen, Reisen und bei schweren Anfällen zu leistenden Hilfe so begrenzt, daß fremde Hilfe im Ablauf des täglichen Lebens nicht in erheblichem Umfange erforderlich sei, und zwar auch nicht in dem Sinne, daß die Hilfe jederzeit bereit sein müsse. Die Betreuung anläßlich der auftretenden Anfälle sei als einzelne Hilfeleistung anzusehen, so daß der Tatbestand der Hilflosigkeit nicht gegeben sei. Das LSG hat die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen, weil zu der Frage, wann bei traumatisch bedingten Hirnkrampfanfällen die Notwendigkeit einer ständigen Hilfsbereitschaft anzunehmen sei, bisher eine höchstrichterliche Entscheidung noch nicht vorliege; es handele sich dabei um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung.

Der Kläger hat Berufung eingelegt und beantragt,

1. das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts München vom 18.6.1956 aufzuheben, die Bescheide des Beklagten vom 27./28.3.1952 und 16.3.1953 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger das einfache Pflegegeld nach dem KBLG vom 1.3.1948 ab sowie die einfache Pflegezulage nach dem BVG vom 1.10.1950 an zu gewähren;

2. hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 KBLG i. V. m. § 558 c der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 35 BVG. Seines Erachtens hat das LSG durch die Zulassung der Revision nicht gegen § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG verstoßen, jedenfalls handele es sich nicht um eine offenbar gesetzwidrige Zulassung. Es liege in der besonderen Natur des Anfallsleidens, daß Schwere und Häufigkeit der Anfälle nicht vorauszusehen seien und daß der Beschädigte gerade im Hinblick hierauf der Gefahr weiterer Gesundheitsschädigungen durch Sturzverletzungen usw. ausgesetzt sei. Um dieser Gefahr zu begegnen, müsse ständig eine Hilfe zur Verfügung stehen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19.1.1961 als unzulässig zu verwerfen; hilfsweise, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält die Zulassung der Revision für unwirksam, weil das Vorliegen von Hilflosigkeit eine Tatfrage sei. Im übrigen hält er das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Das LSG hat die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen. Für diese Nebenentscheidung ist an sich eine Begründung nicht erforderlich (so BSG SozR SGG § 162 Bl. Da 31 Nr. 109). Das LSG hat aber ausgeführt, zu der Frage, wann bei traumatisch bedingten Hirnkrampfanfällen die Notwendigkeit einer ständigen Hilfsbereitschaft anzunehmen sei, liege eine höchstrichterliche Entscheidung noch nicht vor; es handele sich dabei um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Hierzu hat der Beklagte auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 11. Juni 1959 hingewiesen (BSG SozR BVG § 35 Bl. Ca 3 Nr. 7). Im Leitsatz dieser Entscheidung ist ausgeführt, die Tatfrage, ob Hilflosigkeit im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG bestehe, dürfe nicht allein auf Grund ärztlicher Schlußfolgerungen beantwortet werden. In den Entscheidungsgründen ist dargelegt, ob ein Zustand der Hilflosigkeit bestehe, sei eine Tatfrage; die Unterordnung der festgestellten Tatsachen unter den Begriff des Gesetzes betreffe die rechtlichen Schlußfolgerungen, die vom Gericht vorzunehmen seien. Bereits in dieser Entscheidung ist also für Fälle der vorliegenden Art zwischen der Tatfrage - nämlich der Feststellung sämtlicher für eine Hilflosigkeit in Betracht kommenden Tatsachen - und der Rechtsfrage unterschieden, die in der Unterordnung der festgestellten Tatsachen unter den Begriff des Gesetzes besteht. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an. Er mußte daher auf Grund dieser Unterscheidung prüfen, ob die Revision offenbar gesetzwidrig zugelassen worden ist (BSG 10, 240 ff; 269 ff). Im vorliegenden Falle sind die Vorschriften des Art. 1 Abs. 1 KBLG i. V. m. § 558 c RVO und des § 35 BVG auf den vom LSG unangefochten festgestellten Sachverhalt anzuwenden. Bei dieser Subsumtion des Sachverhalts unter den Tatbestand des Gesetzes handelt es sich nicht um die Nachprüfung rein tatsächlicher Verhältnisse, sondern um die Anwendung des Gesetzes, also die Beantwortung von Rechtsfragen. Der Rechtsfrage, ob hier die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld bzw. Pflegezulage erfüllt sind, kommt auch grundsätzliche Bedeutung zu. Infolgedessen ist die Revision im Ergebnis zu Recht zugelassen worden, so daß die vom LSG gegebene Begründung dieser Nebenentscheidung unerörtert bleiben kann. Demgemäß ist die Revision hier gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG durch Zulassung statthaft. Da sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist (§ 164 SGG), ist sie zulässig. Das Rechtsmittel ist aber nicht begründet.

Nach Art. 1 Abs. 1 KBLG i. V. m. § 558 c RVO ist Pflegezulage zu gewähren, solange der Verletzte infolge des Unfalls so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Nach § 35 Abs. 1 RVO aF wird eine Pflegezulage gewährt, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Die beiden Vorschriften stimmen also weitgehend überein. Es ist deshalb berechtigt, ihre Voraussetzungen nicht getrennt zu behandeln. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (BSG 8, S. 97 ff, 99, 100) ist der Beschädigte hilflos, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - nicht nur für einzelne - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf; dabei ist es nicht erforderlich, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird, es genügt schon, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß. Nach den das BSG bindenden Feststellungen des LSG treten beim Kläger jährlich im Durchschnitt 5 bis 6 schwere Krampfanfälle mit Bewußtseinsstörung auf. Hiermit ist die weitere Feststellung, daß Krampfanfälle gelegentlich auch in Abständen von etwa 4 Wochen auftreten, - entgegen der Ansicht des Klägers - vereinbar, denn mit der zunächst festgestellten Gesamtzahl von 5 bis 6 schweren Anfällen im Jahr ist über den zeitlichen Abstand der einzelnen Anfälle von einander nichts gesagt. Diesen allein behandelt das LSG vielmehr in der späteren Feststellung, daß Anfälle gelegentlich auch in einem Abstand von 4 Wochen auftreten. Damit hat es nicht etwa die erste Feststellung über die jährliche Gesamtzahl geändert und keine höhere, im einzelnen nicht feststellbare Zahl von Anfällen angenommen. Das Berufungsgericht hat es hier zutreffend darauf abgestellt, wieviele schwere epileptische Anfälle im Jahre durchschnittlich auftreten. Dazu hat es die berufliche Inanspruchnahme des Klägers bis zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung herangezogen. Wenn das LSG aus diesen Unterlagen und den insgesamt getroffenen Feststellungen zu dem Ergebnis gelangt ist, daß das Anfalleiden noch keinen solchen Grad erreicht hat, daß eine Hilfskraft ständig bereit sein muß, so hat es die gesetzlichen Voraussetzungen der angegebenen Vorschriften nicht verkannt. Insbesondere kann den Ausführungen der Revision nicht gefolgt werden, im Hinblick auf die Gefahr, daß im Jahre durchschnittlich gesehen 5 bis 6 schwere epileptische Anfälle auftreten, müsse eine Hilfskraft ständig bereitstehen. Das Berufungsgericht hat insoweit zutreffend berücksichtigt, daß eine echte Hilfeleistung während des Anfalls oder gar zur Verhütung des Anfalls nicht möglich ist. Es kommt lediglich darauf an, daß dem Kläger nach dem Anfall Hilfe in dem vom LSG näher festgestellten Umfang geleistet wird, nämlich durch Begleitung zur Wohnung, Verbringen zur Bettruhe, gegebenenfalls auch Versorgung eingetretener Verletzungen oder Schäden. Es würde eine Überspannung an die Bereitstellung einer Hilfskraft bedeuten, wenn lediglich wegen dieser 5 bis 6 mal im Jahre zu leistenden Hilfe die Notwendigkeit bejaht würde, daß eine Hilfskraft ständig bereitstehe. Das LSG hat weiter zutreffend berücksichtigt, daß eine ständige Begleitung des Klägers auf Reisen und auf längeren Spaziergängen erforderlich ist. Aber hierbei handelt es sich nur um einzelne Verrichtungen, nicht aber darum, daß dem Kläger für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens Hilfe geleistet werden müßte und er ohne die Hilfeleistung nicht bestehen könne. In diesem Zusammenhang kann unerörtert bleiben, daß es den Lebensgewohnheiten von Eheleuten entsprechen kann, Reisen und Spaziergänge gemeinsam zu unternehmen. Die Revision weist zutreffend darauf hin, daß die Gewährung von Pflegezulage von dem Familienstand des Verletzten und von wirtschaftlichen Gesichtspunkten unabhängig ist (s. dazu BSG 8, S. 100). Maßgebend ist vorliegend aber, daß es sich bei solchen Reisen und Spaziergängen nur um einzelne Verrichtungen des Lebens handelt.

Da sonach die angefochtene Entscheidung der Sach- und Rechtslage entspricht, ist die Revision nicht begründet und war nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG als unbegründet zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2375001

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