Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgabe des Widerspruchs an das Sozialgericht als Klage
Leitsatz (amtlich)
Hat sich die von der Vertreterversammlung des Sozialversicherungsträgers bestimmte Stelle (Widerspruchsstelle) darauf beschränkt, einen Widerspruch des Versicherten gegen einen belastenden Verwaltungsakt des Trägers zurückzuweisen, und hat sodann ein Bediensteter ("Referent") dieses Trägers die Abgabe der Akten an das SG veranlaßt, so wird beim SG keine Klage nach SGG § 85 Abs 4 anhängig.
Normenkette
SGG § 85 Abs 4 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 03.04.1979; Aktenzeichen L 16 Ar 400/77) |
SG Regensburg (Entscheidung vom 23.06.1977; Aktenzeichen S 3 Ar 717/75) |
Tatbestand
I.
In Streit ist, ob die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) eine Umschulung des Klägers zu Recht abgelehnt hat.
Mit Bescheid vom 14. August 1975 lehnte es die Beklagte ab, dem Kläger berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation zu gewähren; laut ärztlichem Gutachten sei seine Erwerbsfähigkeit nur geringfügig gefährdet oder gemindert, so daß er seinen Beruf als Maschinenschlosser noch ausüben könne. Hiergegen erhob der Kläger bei der Beklagten Widerspruch und stimmte auf deren Anfrage vom 25. September 1975 für den Fall, daß die Widerspruchsstelle dem Rechtsbehelf nicht stattgeben wolle, dessen Zuleitung an das Sozialgericht (SG) als Klage schriftlich zu. Die - mit drei Personen besetzte - Widerspruchsstelle wies in der Sitzung vom 26. November 1975 den Widerspruch des Klägers zurück. Hierauf verfügte ein Referent der Beklagten, die Akten an das SG abzugeben. Entsprechend wurde verfahren.
Das SG, vor dem sich der Kläger nicht geäußert hatte, hat den Bescheid der Beklagten für rechtmäßig erachtet und die Klage abgewiesen (Urteil vom 23. Juni 1977). In der Berufung hiergegen hat der Kläger geltend gemacht, eine Umschulung sei zwingend erforderlich. Mit der angefochtenen Entscheidung vom 3. April 1979 hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger einen Widerspruchsbescheid zu erteilen. In der Begründung ist ausgeführt, die Beklagte habe ihr Ermessen nicht ausgeschöpft, weil sie dem Kläger keinen Widerspruchsbescheid erteilt habe. § 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beziehe sich nur auf den wahlweise möglichen Widerspruch nach § 78 Abs 2 SGG. Anderenfalls würde dem Versicherten der Rechtsschutz geschmälert. Da sich die Beklagte geweigert habe, den von ihm - Berufungsgericht - geforderten Widerspruchsbescheid zu erlassen und es in der Sache selbst nicht entscheiden dürfe, habe die Beklagte im Interesse der Rechtsschutzsuchenden zur Bescheiderteilung verpflichtet werden müssen.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der vom LSG zugelassenen Revision. Sie ist der Auffassung, in § 85 Abs 4 SGG könne kein Unterschied zwischen Pflichtleistung und Kannleistung getroffen werden. Ihre Widerspruchsstelle habe "das Wesentliche des Widerspruchsverfahrens" getan; es könne daher dahingestellt bleiben, ob die von ihr inzwischen geänderten Modalitäten des Verfahrens nach § 85 Abs 4 SGG den gesetzlichen Vorschriften voll entsprochen hätten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. April 1979 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 23. Juni 1977 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen und dieser die ihm in allen drei Rechtszügen entstandenen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.
Er trägt im wesentlichen vor, der Revisionsvortrag der Beklagten sei ganz und gar unbegründet. Das Urteil des LSG treffe voll zu. Nach seiner Überzeugung korrespondiere § 85 Abs 4 SGG nicht mit den Fällen aus § 78 Abs 2 Satz 1 Halbs 1 aaO, in denen die Beklagte über einen geltend gemachten Anspruch entschieden habe, der in ihr pflichtgemäßes Ermessen gestellt sei. Vielmehr finde die erstgenannte Vorschrift nur in Fällen Anwendung, in denen die Aufhebung oder Abänderung eines Verwaltungsaktes begehrt worden ist, der eine Leistung betreffe, auf die ein Rechtsanspruch besteht.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung für einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist zulässig und zum Teil begründet.
Begründet ist die Revision, soweit das Berufungsgericht die Beklagte verurteilt hat, dem Kläger einen Widerspruchsbescheid zu erteilen. Nach §§ 153 Abs 1 iVm 123 SGG hatte das LSG nur über die vom Kläger erhobenen Ansprüche zu entscheiden. Der Kläger hat in den Vorinstanzen nie Anspruch auf Erlaß eines Widerspruchsbescheides erhoben, wie er auch bei der Beklagten nie um einen solchen gebeten und die Beklagte einen solchen nie abgelehnt hatte (vgl dazu auch §§ 54 Abs 1 Satz 1, 88 Abs 1 SGG). Der Kläger hat sich nach den Feststellungen des LSG im Gegenteil der Beklagten gegenüber schriftlich damit einverstanden erklärt, daß diese seinen Widerspruch als Klage an das SG abgibt; er war also an einem Widerspruchsbescheid nicht interessiert. Während er sich vor dem SG überhaupt nicht geäußert hat, hat er im Berufungsschriftsatz um eine Entscheidung in der Sache gebeten, weil die von der Beklagten versagte Umschulung sehr wohl erforderlich sei. Das "Interesse der Rechtsschutzsuchenden" berechtigte das LSG ebensowenig wie seine nicht befolgte schriftliche Aufforderung an die Beklagte, einen Widerspruchsbescheid zu erteilen, diese zum Erlaß eines solchen Bescheides zu verurteilen; Rechtsschutz durfte das LSG nicht von Amts wegen, sondern nur insoweit gewähren, als das Begehren des Klägers reichte. Mit der Verurteilung der Beklagten ist das LSG mithin über die vom Kläger erhobenen Ansprüche hinausgegangen. Diese Entscheidung ist sonach bereits wegen Verstoßes gegen § 123 SGG unstatthaft und auf das Rechtsmittel der Beklagten aufzuheben.
Dagegen hat das LSG das klageabweisende Urteil des SG im Ergebnis zu Recht aufgehoben. Zwar wird diese Entscheidung nicht von der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung getragen. Da dieses eine Entscheidung in der Sache für unzulässig hielt, weil noch zur Zeit des Erlasses des angefochtenen Urteils der s.E. erforderliche Widerspruchsbescheid der Beklagten nicht vorlag, wäre aus dem gleichen Grunde schon eine Klage unzulässig gewesen mit der Folge, daß sie das SG im Ergebnis zu Recht abgewiesen hätte. Die vom LSG gleichwohl verfügte Aufhebung des klageabweisenden Ersturteils erweist sich aber aus folgenden Gründen für zutreffend:
Nach § 85 Abs 4 SGG idF des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974 kann die von der Vertreterversammlung des Versicherungsträgers bestimmte Stelle (vgl Abs 2 Nr 2 aaO) einen Widerspruch dem zuständigen SG als Klage zuleiten, wenn sie dem Widerspruch nicht stattgeben will und der Widerspruchsführer vorher schriftlich zugestimmt hat. Im vorliegenden Fall hat die von der Vertreterversammlung der Beklagten bestimmte, mit einem Vertreter der Arbeitgeber, einem Vertreter der Arbeitnehmer und einem "Mitglied der Verwaltung" besetzte Widerspruchsstelle den Widerspruch des Klägers nicht dem SG als Klage zugeleitet. Dies hat - "im Auftrag" mutmaßlich der Geschäftsführer der Beklagten - ein "Referent", also ein Bediensteter der Beklagten getan. Die Widerspruchsstelle der Beklagten hat sich in der Sitzung vom 26. November 1975 damit begnügt, den Widerspruch des Klägers "zurückzuweisen"; mit den unter diese Entscheidung gesetzten Unterschriften endet im Fall des Klägers die Tätigkeit der Widerspruchsstelle. Sie hat es einem Beauftragten der Geschäftsführer überlassen zu entscheiden, ob der Widerspruch des Klägers an das SG abgegeben oder ob ein nicht abhelfender Widerspruchsbescheid (§ 85 Abs 2 SGG) ausgefertigt und dem Kläger zugestellt werden solle. Da aber die Bestimmung hierüber nach dem in § 85 Abs 4 SGG ausdrücklich erteilten und einer abweichenden Auslegung nicht zugänglichen Auftrag Aufgabe der von der Vertreterversammlung des Versicherungsträgers berufenen Widerspruchsstelle ist (vgl auch Meyer-Ladewig, SGG, § 85 Anm 9; Peters/Sautter/Wolff, SGG § 85, 314/1 Anm 7; Zeihe, SGG, § 85 Anm 16 und 18b), bewirkte die von dem Referenten der Beklagten verfügte Abgabe des zurückgewiesenen Widerspruchs an das SG nicht, daß dieser dort "als Klage" eingegangen ist. Es trifft nicht zu, daß mit der Entscheidung der Widerspruchsstelle den Rechtsbehelf zurückzuweisen, allen wesentlichen Anforderungen des § 85 Abs 4 SGG genügt wäre; die Abgabe des Widerspruchs an das SG als Klage ist vielmehr das Kernstück der genannten Bestimmung. Verfügt die Widerspruchsstelle diese Abgabe, so kann in ihr - als selbstverständlich - auch die Nichtabhilfe des Rechtsbehelfs liegen; weist dagegen - wie vorliegend - die Widerspruchsstelle den Widerspruch zurück, so ist nachfolgend erst noch darüber zu bestimmen, ob ein Widerspruchsbescheid ausgefertigt und dem Widersprechenden zugestellt werden oder ob nach § 85 Abs 4 SGG verfahren werden soll. Es ist daher unzulässig, wenn es die Widerspruchsstelle einem Bediensteten des Versicherungsträgers überläßt, zu entscheiden, was mit einem zurückgewiesenen Widerspruch nunmehr geschehen soll.
Da die Widerspruchsstelle der Beklagten entgegen § 85 Abs 4 den Widerspruch des Klägers nicht unter Qualifizierung "als Klage" an das SG weitergeleitet hatte, ist bislang keine Klage beim SG anhängig geworden. Das LSG hat daher das trotzdem über eine "Klage" entscheidende Urteil des SG zu Recht aufgehoben. Das Rechtsmittel der "Beklagten" war daher insoweit zurückzuweisen.
Es wird nunmehr Aufgabe der Widerspruchsstelle der Beklagten sein zu entscheiden, ob sie den Widerspruch des Klägers als Klage dem SG zuleiten will; anderenfalls werden die Geschäftsführer der Beklagten dafür zu sorgen haben, daß ein Widerspruchsbescheid ausgefertigt und dem Kläger mit zutreffender Rechtsbehelfsbelehrung zugestellt wird.
Die "Beklagte" hat dem "Kläger" die Kosten der Rechtsverfolgung zu erstatten, weil sie die Vorinstanzen zu Unrecht dazu veranlaßt hat, über eine angebliche Klage zu entscheiden (§ 193 SGG).
Fundstellen