Entscheidungsstichwort (Thema)

Änderung oder Ersetzung des Verwaltungsakts nach Klageerhebung

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Bescheid über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, der während des die Ablehnung des Altersruhegeldes betreffenden Klageverfahrens ergeht, wird Gegenstand dieses Verfahrens nach SGG § 96 Abs 1.

 

Normenkette

SGG § 96 Abs. 1

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. Februar 1973 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob ein Bescheid über die Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente, der während des die Ablehnung des Altersruhegeldes betreffenden Klageverfahrens erlassen worden ist, Gegenstand des Verfahrens wird (§ 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Der im Jahre 1904 geborene Kläger stellte im Juni 1969 Antrag auf Rente aus der Angestelltenversicherung wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab, weil mit der nachgewiesenen Gesamtversicherungszeit von 79 Monaten die große Wartezeit von 180 Monaten Versicherungszeit für ein Altersruhegeld nicht erfüllt sei (Bescheid vom 6. März 1970). Hiergegen wandte der Kläger vor allem ein, daß ihm seine Kriegsdienstzeit und die anschließende Kriegsgefangenschaft als Ersatzzeit angerechnet werden müßten, womit die große Wartezeit erfüllt wäre.

Während des Klageverfahrens erließ die Beklagte am 5. Mai 1971 einen Bescheid, mit welchem sie dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. April 1969 an gewährte. In der abschließenden mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) beantragte der Kläger, den Bescheid vom 6. März 1970 aufzuheben und den Bescheid vom 5. Mai 1971 zu ändern sowie eine zusätzliche Beitragszeit von September bis November 1939 und Ersatzzeiten von Dezember 1940 bis Juli 1946 anzurechnen. Das SG betrachtete auch den Bescheid vom 5. Mai 1971 als Gegenstand des Verfahrens; es wies die Klage als unbegründet ab (Urteil vom 31. August 1972). Der Kläger legte Berufung ein. In der mündlichen Verhandlung des Landessozialgerichts (LSG) nahm er die Klage gegen den Bescheid vom 6. März 1970 zurück. Das LSG hob das Urteil des SG auf und verwies den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurück. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Das SG hätte über den Bescheid vom 5. Mai 1971 nur aufgrund eines zu erlassenden Verbindungsbeschlusses nach § 113 SGG gemeinsam mit dem ursprünglichen Bescheid vom 6. März 1970 entscheiden dürfen. Beide Verwaltungsakte beträfen verschiedene Ansprüche. Daher genüge die beiden Bescheiden gemeinsame Rechtsfrage nach der Höhe der Gesamtversicherungszeit und der daraus entstehende Sachzusammenhang nicht den Erfordernissen des § 96 SGG (Urteil vom 20. Februar 1973).

Das LSG hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Die Beklagte hat gleichwohl Revision eingelegt. Sie rügt als wesentlichen Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts eine Verletzung des § 96 Abs. 1 SGG.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger stellt keinen Antrag.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil der gerügte wesentliche Verfahrensmangel einer Verletzung des § 96 Abs. 1 SGG vorliegt. Die Revisionsklägerin ist durch das angefochtene Urteil auch beschwert, weil das LSG infolge einer zu engen Auslegung dieser Vorschrift die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 5. Mai 1971 - entgegen der Antragstellung der Beklagten in der Berufungsverhandlung - nicht geprüft hat (vgl. BSG in SozR Nr. 12 zu § 160 SGG).

Das LSG hat zu Unrecht angenommen, daß der nach der Klageerhebung erlassene Bescheid vom 5. Mai 1971 über die Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente nicht gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist. Die Anwendbarkeit dieser Vorschrift setzt voraus, daß der Rentenbescheid vom 5. Mai 1971 den das Altersruhegeld (§ 25 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - in der bis zum 31.12.1972 geltenden Fassung) ablehnenden Bescheid vom 6. März 1970 abgeändert oder ersetzt hat. Das ist der Fall. Da die Regelung des § 96 SGG der Prozeßökonomie dienen soll und nach den Intentionen des Gesetzgebers nicht eng auszulegen ist (vgl. Begründung zum Regierungsentwurf einer Sozialgerichtsordnung, Bundestags-Drucksache Nr. 4357, Anlage 1 S. 27), genügt hierfür, daß beide Verwaltungsakte den Streitgegenstand, also den erhobenen Anspruch (vgl. BSG 9, 17), betreffen und der zuletzt ergangene Verwaltungsakt den Kläger noch beschwert (so ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG -: vgl. BSG 5, 13, 16; 10, 103, 107; Breithaupt 1967, 81, 82).

Der Auffassung des LSG, die Bescheide vom 6. März 1970 und 5. Mai 1971 beträfen verschiedene Ansprüche, kann in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Streitgegenstand des Verfahrens war vielmehr auch vor Erlaß des Bescheides über die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ein gegen die Beklagte gerichteter Anspruch auf Rente. Die Beklagte hat ihre bis dahin uneingeschränkte Ablehnung einer Rentengewährung ersetzt durch die Bewilligung einer niedrigeren Rente (der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit) als der vom Kläger begehrten höheren Rente (das Altersruhegeld). Insoweit hat auch der spätere Bescheid über die Bewilligung der Erwerbsunfähigkeitsrente den Kläger im Hinblick auf sein Prozeßziel im Klageverfahren, nämlich die Gewährung des Altersruhegeldes zu erreichen, noch beschwert.

Es darf zudem nicht verkannt werden, daß die einzelnen Rentenansprüche aus der Angestelltenversicherung aus demselben Versicherungsverhältnis entspringen, dabei jedenfalls teilweise auch an übereinstimmende oder sich zumindest teilweise deckende Voraussetzungen geknüpft sind und nicht nebeneinander, sondern nur alternativ gewährt werden können (§§ 24 Abs. 5, 25 Abs. 8 AVG). Aus diesen Erwägungen hat das BSG wiederholt entschieden, daß in dem Antrag auf Altersruhegeld regelmäßig - stillschweigend - der Hilfsantrag auf Gewährung von Rente minderer Leistung, nämlich wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit für den Fall liegt, daß die Voraussetzungen des in erster Linie begehrten Ruhegeldes nicht erfüllt sind (BSG in Breith. 1961, 342, 345/346; BSG in SozR Nr. 10 zu Art. 2 § 42 ArVNG). Davon ist zutreffend auch die Beklagte ausgegangen, wie aus dem im Bescheid vom 5. Mai 1971 bestimmten Rentenbeginn zum 1. April 1969 erhellt. Im Hinblick auf § 67 Abs. 1 und 2 AVG war die Rentenzahlung bereits von diesem Zeitpunkt an bei dem im Bescheid angenommenen Eintritt des Versicherungsfalles am 31. März 1969 nur zulässig, wenn ihr nicht ein neuer, nach dem ersten Bescheid vom 6. März 1970 gestellter Rentenantrag, sondern der ursprüngliche und ausdrücklich nur auf Gewährung von Altersruhegeld gerichtete Antrag vom 16. Juni 1969 zugrunde gelegt wurde. Nach der genannten Rechtsprechung des BSG wäre daher das LSG verpflichtet gewesen, über den insoweit umfassenden Rentenanspruch des Klägers - d. h. einschließlich der Zuerkennung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit - selbst dann zu entscheiden, wenn die Beklagte während des Klageverfahrens nicht den Bescheid über die Erwerbsunfähigkeitsrente erlassen, sondern es bei der bisherigen Ablehnung des Altersruhegeldes belassen hätte. Um so mehr muß dann aber angenommen werden, daß der Rentenbescheid, den die Beklagte während des Klageverfahrens aufgrund des - alle Rentenarten umfassenden - ursprünglichen Rentenantrags zusätzlich erlassen hat, von § 96 SGG erfaßt wird.

Hinzu kommt, daß nach den Entscheidungen des BSG vom 28. Februar 1957 (BSG 5, 13) und vom 16. Februar 1966 (Az.: 1 RA 153/63) die in § 96 Abs. 1 SGG genannte Rechtsfolge bereits dann eintritt, wenn der neue Bescheid wenigstens den Streitstoff des anhängigen Rechtsstreits beeinflussen kann. Dies muß hier angenommen werden, weil sowohl zum Bescheid vom 6. März 1970 als auch zum Bescheid vom 5. Mai 1971 jedenfalls im Kern lediglich zu prüfen ist, ob die vom Kläger noch geltend gemachten Beitrags- und Ersatzzeiten zusätzlich zu berücksichtigen sind. Wenngleich sich dieser gleiche Streitstoff beim begehrten Altersruhegeld auf die Voraussetzungen des Rentenanspruchs dem Grunde nach (Wartezeiterfüllung) bezieht, während er bei der gewährten Erwerbsunfähigkeitsrente nur noch die Höhe derselben betreffen kann, entspricht es dem der Regelung des § 96 SGG zugrundeliegenden Gedanken der Prozeßwirtschaftlichkeit, in das Verfahren über den das Altersruhegeld ablehnenden Bescheid den nachfolgenden Bescheid über die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit einzubeziehen. Dies ist überdies auch aus Gründen der Rechtssicherheit geboten, weil anderenfalls die Gefahr divergierender Entscheidungen bezüglich der Berücksichtigung weiterer Versicherungszeiten bei der Erwerbsunfähigkeitsrente einerseits und dem Altersruhegeld andererseits nicht auszuschließen wäre. Bereits diese Gründe müßten aber jedenfalls zu einer entsprechenden Anwendung der Vorschrift führen (vgl. hierzu BSG 25,161,163; BSG in SozR Nr. 3 zu § 624 RVO; vgl. neuerdings auch BSG-Urteil vom 6.2.1974 - Az.: 12 RJ 380/72).

Diesem Ergebnis stehen das Urteil des 11. Senats des BSG vom 24. September 1968 (Az.: 11 RA 199/67) sowie das im Anschluß daran ergangene Urteil des 12. Senats des BSG vom 25. November 1970 (SozR Nr. 22 zu § 96 SGG) schon deswegen nicht entgegen, weil beide Entscheidungen andere Fälle betreffen: Der Bescheid über die Gewährung des (vorzeitigen) Altersruhegeldes erging dort während des die Ablehnung einer Berufsunfähigkeits- bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente betreffenden Rechtsstreits. Außerdem beruhen jene Entscheidungen überwiegend auf rechtlichen Erwägungen, die im vorliegenden Fall nicht einschlägig sind.

Durch die somit von der Revision zutreffend gerügte Verletzung des § 96 Abs. 1 SGG leidet das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel. Da das SG ohne Rechtsfehler von der Einbeziehung des Bescheides vom 5. Mai 1971 in das Klageverfahren ausgegangen ist und deshalb auch zu Recht über diesen Bescheid entschieden hat, ohne daß es eines Verbindungsbeschlusses im Sinne von § 113 Abs. 1 SGG bedurfte, hätte das LSG über diesen von der - teilweisen - Klagerücknahme in der Berufungsverhandlung nicht berührten Bescheid ebenfalls sachlich entscheiden müssen. Das LSG hat deswegen zu Unrecht die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung der Sache an das SG nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG bejaht.

Die wegen des aufgezeigten Mangels im Verfahren des Berufungsgerichts zulässige Revision ist auch insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zu neuer Verhandlung und Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des allein noch hinsichtlich der Rentenhöhe streitigen Bescheides vom 5. Mai 1971 zurückverwiesen werden muß (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1647318

NJW 1974, 1726

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