Leitsatz (amtlich)
Zur Erwerbsunfähigkeit eines früheren Zimmermanns, der nur noch höchstens 4 Stunden täglich leichte Arbeiten ausschließlich im Sitzen verrichten kann.
Normenkette
AVG § 24 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. Januar 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der im Jahre 1923 geborene Kläger leidet seit seiner frühesten Kindheit an den Folgen einer im ersten Lebensjahr durchgemachten Kinderlähmung. Von 1940 bis 1942 durchlief er eine Verwaltungslehre. Danach war er bis 1943 als Bankkaufmann tätig. Dann ergriff er den Zimmermannsberuf und arbeitete nach Abschluß einer entsprechenden Lehr- und Gesellenzeit als Zimmermann im eigenen Betrieb, wobei er sich freiwillig weiterversicherte.
Am 31. Oktober 1969 erlitt er einen Arbeitsunfall, bei dem er sich den rechten Unterschenkel brach und der eine längere stationäre und ambulante ärztliche Behandlung erforderte. Im Juni 1970 beantragte der Kläger die Gewährung von Rente wegen Erwerbs-, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Nach Bewilligung eines Heilverfahrens zahlte ihm die Beklagte schließlich gemäß ihrem Bescheid vom 26. Juli 1971 vom 13. Mai 1971 bis 31. Januar 1972 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit nach § 53 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in Höhe von monatlich 217,70 DM unter dem Vorbehalt einer Neuberechnung gemäß § 55 AVG nach Abschluß des Unfallrentenversicherungsverfahrens.
Hiergegen erhob der Kläger Klage mit dem Antrage,
die Beklagte in Abänderung ihres Bescheides vom 26. Juli 1971 zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer über den 31. Januar 1972 hinaus zu gewähren.
Dieser Klage gab das Sozialgericht (SG) Speyer durch Urteil vom 24. Juli 1972 statt. Die dagegen eingelegte Berufung der Beklagten war ohne Erfolg.
Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz war in seinem Urteil vom 11. Januar 1973 der Auffassung, der stark gehbehinderte Kläger könne wegen der bei ihm nach den vorgenommenen Untersuchungen festgestellten Leiden (im wesentlichen schlaffe Parese beider Beine nach Polyomyelitis, Restlähmung am rechten Arm, Skoliose der Lendenwirbelsäule, Nierenleiden unklarer Genese, Polyglobulie, Leberschaden, Adipositas, vegetative Labilität) als Zimmermann überhaupt nicht mehr und als Angestellter oder Bankkaufmann bei ausschließlich sitzender Tätigkeit höchstens noch 4 Stunden tätig sein. Damit sei er erwerbsunfähig mit der Folge, daß die Beklagte ihm eine Dauerrente wegen Erwerbsunfähigkeit zahlen müsse, weil es keine für ihn geeigneten Teilzeitarbeitsplätze gebe (BSG 30, 167 ff und 192 ff). Aufgrund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten und im Hinblick auf seine gesundheitlichen Behinderungen kämen für ihn nur Tätigkeiten in Betracht, die von der für die Erforschung des Arbeitsmarktes der Bundesrepublik allein zuständigen Bundesanstalt für Arbeit (BA) in Nürnberg unter der Berufsgruppe "Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe" zusammengefaßt würden. In dieser Berufsgruppe habe die Zahl der offenen Teilzeitarbeitsplätze für Männer in der statistisch belegten Zeit vom zweiten Vierteljahr 1970 bis einschließlich dem dritten Vierteljahr 1972 insgesamt 8202, die Zahl der Interessenten dafür jedoch 11853 betragen (ANBA 1970, 555, 854; 1971, 191, 346, 608, 877; 1972, 133, 376, 658, 913). Das Verhältnis der Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten sei danach ungünstiger als 75 : 100, womit der Arbeitsmarkt dem Kläger praktisch verschlossen sei.
Weitere Ermittlungen seien nicht erforderlich. Der Ansicht des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 23. Juli 1970 - SozR Nr. 24 zu § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - könne entsprechend der zutreffenden Auffassung des 5. Senats in seinem Urteil vom 28. Juli 1970 - SozR Nr. 87 zu § 1246 RVO - nicht gefolgt werden. Danach sei das zur Beurteilung der Frage des offenen oder verschlossenen Teilzeitarbeitsmarktes erforderliche Zahlenmaterial in der Regel nur bei der BA zu erhalten. Zwar seien Anfragen bei anderen Stellen nicht ausgeschlossen, doch seien davon kaum verwertbare Angaben zu erwarten. Der erkennende Senat folge dieser ihn überzeugenden Rechtsansicht des 5. Senats.
Hiergegen richtet sich die zugelassene Revision der Beklagten. Gerügt wird Verletzung des § 24 Abs. 2 AVG und des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Zutreffend sei zwar die Vorinstanz davon ausgegangen, daß der Kläger als Angestellter und Bankkaufmann bei ausschließlich sitzender Tätigkeit nur noch höchstens 4 Stunden täglich arbeiten könne, womit er zu der Gruppe gehöre, die noch halbschichtig bis untervollschichtig arbeiten könne; ihrer Auffassung, daß dem Kläger der Arbeitsmarkt verschlossen sei, sei jedoch nicht zu folgen.
Die zum beruflichen Werdegang des Klägers getroffenen tatsächlichen Feststellungen ließen erkennen, daß das LSG die von ihm angeführten Vierteljahresstatistiken über "Arbeitsuchende, offene Stellungen und Vermittlungen für Teilzeitarbeit" der BA unrichtig ausgewertet habe. Der Kläger sei nach seinem Hauptberuf - dem eines Bankkaufmanns - der Berufsgruppe der Handels- und Dienstleistungskaufleute zuzuordnen. Werde die für ihn zutreffende Berufsgruppe mit der alten systematischen Kennziffer 51 und der neuen Kennziffer 69/70 der Beurteilung des Teilzeitarbeitsmarktes zugrunde gelegt, ergebe sich anhand der genannten Vierteljahresstatistiken unter Einbeziehung der durchgeführten Vermittlungen für 1972 eine Relation von Teilzeitarbeitsplätzen und Interessenten von 200 : 100. Dieses rechnerische Ergebnis des für die Berufsgruppe der Handels- und Dienstleistungskaufleute offenen Teilzeitarbeitsmarktes werde durch die regelmäßig in der ANBA veröffentlichten Monatsberichte über die Arbeitsmarktlage bestätigt. Danach suchten Banken, Kreditinstitute und Sparkassen ständig qualifizierte Bankkaufleute und gäben zur Behebung des Mangels von Fachkräften nicht nur die Gelegenheit zur Einarbeit, sondern seien auch hinsichtlich der Arbeitszeit zu Konzessionen bereit.
Abgesehen hiervon hätte sich das LSG nicht allein auf das von ihm den Vierteljahresstatistiken entnommene negative Ergebnis stützen dürfen, sondern es hätte noch weitere Ermittlungen anstellen müssen. Das Problem der Aufhellung des Teilzeitarbeitsmarktes könne nicht mit der schematischen Bezugnahme auf die Statistiken oder mit dem Hinweis auf fehlendes Zahlenmaterial der BA gelöst werden. Das LSG hätte bei der BA die erforderlichen Zahlen erfragen müssen (BSG, SozR Nr. 100 zu § 1246 RVO). Zumindest aber hätte es die Gründe darlegen müssen, die es veranlaßt hätten, auf eine solche Anfrage zu verzichten. Der Hinweis auf die Rechtsprechung des 5. Senats des BSG könne eine eigene Begründung nicht ersetzen.
Wenn das LSG der Ansicht gewesen sei, die BA könne derzeit kein geeignetes Zahlenmaterial zur Verfügung stellen, hätte es sich auf andere Weise um die Aufklärung des Teilzeitarbeitsmarktes bemühen müssen. Nach der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG verletze das Tatsachengericht § 103 SGG, wenn es nicht auch das Adressenmaterial benutze, das die Finanzämter aufgrund der vereinfachten Lohn-Pauschal-Besteuerung besäßen. Hätte das LSG weitere Ermittlungen angestellt, so hätte sich, wie schon die Vierteljahresübersichten der BA bei richtiger Auswertung zeigten, ergeben, daß dem Kläger der Teilzeitarbeitsmarkt nicht verschlossen sei.
Die Beklagte und Revisionsklägerin beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Speyer vom 24. Juli 1972 die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er sei nie Bankkaufmann gewesen. Bei der Dresdner Bank in Bingen habe er vom 23. Februar 1942 bis 5. Juni 1943 nur als kaufmännische Aushilfskraft gearbeitet. Eine Lehre als Bankkaufmann habe er nicht absolviert. Damit sei seine Einordnung in die Berufsgruppe "Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe" zutreffend. Hier aber sei ihm der Teilzeitarbeitsmarkt nach den Statistiken in den ANBA verschlossen. Die von der Beklagten erhobenen Rügen einer Verletzung des § 103 SGG gingen fehl. Weitere Erkenntnisquellen hätten dem LSG nicht zur Verfügung gestanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Im Ergebnis ist das angefochtene Urteil nicht zu beanstanden.
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger in die Berufsgruppen 69 - 70 "Dienstleistungskaufleute und zug. Berufe" oder in die Berufsgruppen 75 - 78 "Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe" einzuordnen ist und ob sich nach den erwähnten Vierteljahresstatistiken der BA in diesen Berufsgruppen der Arbeitsmarkt als offen erweisen würde. Denn der Kläger gehört zu den noch höchstens halbschichtig einsetzbaren Versicherten, denen der Zugang zum Teilzeitarbeitsmarkt i. S. von Abschn. C V 2 b des Beschlusses des Großen Senats (GS) des BSG vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167, 189/90) in besonders starkem Maße erschwert ist und die nach dem weiteren Beschluß des GS vom selben Tage (BSG 30, 192/206) in der Regel schon allein deswegen als erwerbsunfähig anzusehen sind (Anschluß an BSG in SozR Nr. 23 zu § 1247 RVO und an BSG 34, 280). Diese Grundsätze gelten auch für die Angestelltenversicherung. Deshalb konnte das LSG den vorliegenden Fall ohne weitere Ermittlungen entscheiden. Der Kläger ist vor über 30 Jahren, nachdem er eine Verwaltungslehre durchgemacht hatte, kurzfristig bei einer Bank tätig gewesen. Seitdem hat er sich als Zimmermann betätigt. Für diesen Beruf kommt er aufgrund des Arbeitsunfalls vom 31. Oktober 1969 nicht mehr in Betracht. Er muß weger der Folgen der Kinderlähmung orthopädische Schuhe tragen und kann sich jetzt aufgrund des Unfalls nur noch sehr schwerfällig mit Armstützen fortbewegen. Dazu kommt noch eine Restlähmung am rechten Arm. Aufgrund dieses beruflichen Werdeganges des Klägers und seiner körperlichen Behinderungen ist das LSG zu dem Ergebnis gekommen, daß er nur noch für höchstens 4 Stunden täglich ausschließlich im Sitzen Arbeit verrichten kann und daß er keine für ihn geeignete Teilzeitarbeit mehr findet. Hierbei handelt es sich um tatsächliche Feststellungen, an die der Senat nach § 163 SGG gebunden ist, sofern nicht in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind. Hieran fehlt es.
Die Beklagte, die sowohl die körperlichen Behinderungen des Klägers als auch die daraus folgende zeitliche Einschränkung seiner Arbeitsfähigkeit ausdrücklich anerkennt, hat nichts dafür vorbringen können, daß das LSG bei seiner Schlußfolgerung, daß dem Kläger der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen ist, etwa gegen die Denkgesetze oder gegen die allgemeine Lebenserfahrung verstoßen hätte, oder daß es den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt hätte. Sie kann nichts Konkretes dafür vortragen, daß bei einer Anfrage oder bei einer Ermittlung irgendeiner Art sich ergeben hätte, daß für den Kläger noch eine Berufstätigkeit zu finden wäre. Statt dessen arbeitet sie mit allgemeinen Vermutungen, wobei sie nicht beachtet, daß zwar für im wesentlichen gesunde Versicherte Möglichkeiten gegeben sein mögen, als Dienstleistungskaufleute oder in Büroberufen Teilzeitarbeit zu finden, daß dies aber nicht zutrifft für Personen, die körperlich und gesundheitlich so stark beeinträchtigt sind wie der Kläger.
Nach alledem sind die Schlußfolgerungen des LSG dahin, daß dem Kläger der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen ist und daß er damit erwerbsunfähig ist, weder verfahrensrechtlich noch sachlich-rechtlich zu beanstanden.
Somit ist die Revision als unbegründet zurückzuweisen, da das LSG die Beklagte zu Recht zur Weiterzahlung der Erwerbsunfähigkeitsrente über den 31. Dezember 1972 hinaus verurteilt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen