Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines Bescheides nach BVG § 64 Abs 2. Bindungswirkung bei Ermessensleistungen
Leitsatz (amtlich)
1. Auch eine Ermessensleistung hat die Verwaltung so lange zu erbringen, wie sie den über diese Leistung ergangenen Bescheid nicht aufhebt oder widerruft.
2. Der Anspruch auf Gewährung der in einem Bescheid bewilligten Ermessensleistung ist mit der allgemeinen Leistungsklage zu verfolgen.
Orientierungssatz
1. Für die Rücknahme eines Bescheides nach BVG § 64 Abs 2 müssen keine besonderen Formerfordernisse erfüllt sein. Die Verwaltung muß sich aber zur Rücknahme äußern. Aus der Äußerung muß der Wille erkennbar sein, daß die sich aus der wesentlichen Änderung der Verhältnisse - Zuzug in die Bundesrepublik - ergebenden Folgerungen für die Zukunft gezogen werden (Festhaltung an BSG vom 1972-12-05 10 RV 807/71 = Breith 1973, 480, 484). Die bloße Zahlungseinstellung ohne weitere Mitteilung kann den bindenden Verwaltungsakt nicht beseitigen. Dazu bedarf es der ausdrücklichen und klaren Willensäußerung der Versorgungsbehörde durch Bescheid (KOVVfG § 22).
2. Nach SGG § 77 sind unanfechtbar gewordene Verwaltungsakte für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Es ist aber weder gesetzlich bestimmt, daß bei Ermessensleistungen eine Bindungswirkung nicht eintrete, noch, daß hier ohne entsprechende Willenserklärung der Verwaltung die Bindungswirkung automatisch entfallen könne. Die Bezeichnung als Kann-Leistung besagt möglicherweise, daß schon eine Änderung von Ermessenserwägungen eine Änderung iS des BVG § 62 darstellen könne. Diese Bezeichnung ändert aber nichts daran, daß es für die Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes gleichgültig ist, ob das Handeln der Verwaltung durch eine Muß-Vorschrift, eine Kann-Vorschrift oder durch gar keine Vorschrift ausgelöst worden ist (vgl BSG vom 1957-12-10 11/9 RV 1076/56 = BSGE 6, 175, 179).
Normenkette
SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 54 Abs 5 Fassung: 1953-09-03; KOVVfG § 22 Fassung: 1975-06-09; BVG § 64 Abs 2
Verfahrensgang
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte eine Ermessensleistung nach § 64 Abs 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) formlos einstellen durfte.
Mit Bescheid vom 18. Januar 1966 bewilligte das beklagte Land dem damals in P lebenden Kläger Teilversorgung in Höhe von monatlich DM 45,-- . Welche Gesundheitsschäden als Schädigungsfolgen beurteilt wurden und welche Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sich daraus ergab, wurde dem Kläger nicht mitgeteilt. Nach seiner Übersiedlung in die B im Dezember 1975 beantragte der Kläger eine höhere Rente. Mit Bescheid vom 13.September 1976 sind lediglich einige Narben als Schädigungsfolgen anerkannt worden, die keine rentenberechtigende MdE bewirkten. Die Zahlung von DM 45,-- hat der Beklagte bereits mit Wirkung vom 1. Januar 1976 formlos eingestellt.
Seine gegen den Bescheid vom 13. September 1976 gerichtete Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Detmold vom 20. Januar 1978). Vor dem Landessozialgericht (LSG) hat er sein Begehren weiter verfolgt, jedoch hilfsweise beantragt, das beklagte Land zu verurteilen, ihm für die Zeit ab 1. Januar 1976 monatlich DM 45,-- zu zahlen.
Das LSG hat dem Hilfsantrag stattgegeben und die Revision zugelassen (Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Januar 1979).
Der Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 54 Absätze 1, 4 und 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie der §§ 62, 64 Absätze 1 und 2, § 64e Abs 1 BVG.
Er beantragt,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Januar 1979 abzuändern und die Berufung des Klägers gegen las Urteil des SG Detmold vom 20. Januar 1978 auch insoweit zurückzuweisen, als er vom Beklagten die Zahlung von DM 45,-- monatlich ab 1. Januar 1976 begehrt.
Die in der Revisionsinstanz antragsgemäß beigeladene Bundesrepublik Deutschland schließt sich diesem Antrag an.
Der Kläger ist nicht vertreten.
Mit "Rücknahmebescheid" vom 17. Mai 1979 hat das Versorgungsamt (VersorgA) Münster den Bescheid vom 18. Januar 1966 sowohl wegen Änderung der Verhältnisse als auch wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit aufgehoben; die laufende Zahlung bleibe mit Ablauf des Monats Dezember 1975 eingestellt; der Rücknahmebescheid gelte gemäß § 171 Abs 2 SGG als mit der Klage beim SG Detmold angefochten.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nicht begründet; sie ist zurückzuweisen.
Da über die von dem Kläger begehrte Leistung zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung ein Bescheid vorlag, konnte das LSG ohne verfahrensrechtliche Hindernisse über den Leistungsantrag entscheiden. Nach der Rechtsbehauptung des Klägers war der Beklagte verpflichtet, aufgrund seines eigenen Bescheids vom 18. Januar 1966 zu zahlen. Damit hat er zutreffend eine Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG erhoben. Diese Klageart ist zwar vorwiegend für Fälle vorgesehen, in denen sich ein Rechtsanspruch gegen den beklagten Leistungsträger aus dem Gesetz ergibt und - insbesondere im Falle der Gleichordnung - kein Verwaltungsakt zu ergehen hat. Hier wird der Rechtsanspruch aus dem Bescheid vom 18. Januar 1966 entnommen. Da im Rahmen der Sozialgerichtsbarkeit eine Vollstreckung aus Verwaltungsakten gegen die öffentliche Hand nicht vorgesehen ist (vgl Mayer- Ladewig, SGG mit Erläuterungen, 1977, § 198 Anm 3), bleibt nur die Leistungsklage, die zu einem Vollstreckungstitel führt (§ 199 Abs 1 Nr 1 SGG). Dem Versorgungsempfänger ist entgegen der Auffassung des Beklagten nicht zuzumuten, daß er eine formlose Zahlungseinstellung hinnimmt und vor Klageerhebung bei der Verwaltung beantragt, die Zahlung nach dem Bescheid fortzusetzen oder durch einen weiteren rechtsmittelfähigen Bescheid abzulehnen. Wird - wie hier - behauptet, daß das Leistungsbegehren seine Grundlage in einem Verwaltungsakt hat, ist die unmittelbare Leistungsklage der geeignete Weg zum Rechtsschutz (vgl Zeihe, Sozialgesetzgebung und Praxis, Stand: Juni 1979, § 54 Anm 43b).
Das LSG hat auch in der Sache zutreffend entschieden. Der Beklagte war nach den zur Zeit der mündlichen Verhandlung vorliegenden Tatsachen zur Weiterzahlung von monatlich DM 45,-- über den 31. Dezember 1975 hinaus verpflichtet. Denn zu dieser Leistung hat sich der Beklagte durch Bescheid vom 18. Januar 1966 verpflichtet. Diesen Bescheid, der bindend geworden ist, hatte der Beklagte zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung noch nicht geändert. Er hatte vielmehr die Zahlung schlicht eingestellt, indem er seine Zahlstelle (Amtskasse beim VersorgA Düsseldorf) dazu veranlaßt hatte.
Aus den Ausführungen des LSG zu der "schlichten" Zahlungseinstellung ist die Feststellung zu entnehmen, daß der Kläger von der Beendigung der Zahlung nicht unterrichtet worden ist. Er hat nur die Tatsache der Zahlungseinstellung zur Kenntnis genommen, weil die Rente von DM 45,-- ausblieb. Das LSG hat weiter festgestellt, in dem Bescheid vom 13. September 1976 sei ebenfalls nicht der Wille zum Ausdruck gebracht worden, die Zahlung von monatlich DM 45,-- einzustellen. Gegen beide Feststellungen hat die Revision keine Einwendungen erhoben.
Der Senat hat zwar entschieden, daß für die Rücknahme eines Bescheides nach § 64 Abs 2 BVG keine besonderen Formerfordernisse erfüllt sein müssen (Urteil vom 5. Dezember 1972 - 10 RV 807/71 - Breithaupt 1973, 480, 484), aber verlangt, daß sich die Verwaltung zur Rücknahme äußert und daß in dieser Äußerung der Wille erkennbar ist, daß die sich aus der wesentlichen Änderung der Verhältnisse - Zuzug in die Bundesrepublik - ergebenden Folgerungen für die Zukunft gezogen werden. Daran ist festzuhalten. Die bloße Zahlungseinstellung ohne weitere Mitteilung konnte indes den bindenden Verwaltungsakt nicht beseitigen. Dazu hätte es der ausdrücklichen und klaren Willensäußerung des Beklagten durch Bescheid (§ 22 des Verwaltungsverfahrensgesetzes-KOV) bedurft.
Der bindenden Wirkung des Bescheids vom 18. Januar 1966 steht nicht entgegen, daß die hier versprochene Zahlung eine Kann- Leistung ist und auch als solche in diesem Bescheid bezeichnet worden ist. Nach § 77 SGG sind unanfechtbar gewordene Verwaltungsakte für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Es ist aber weder gesetzlich bestimmt, daß bei Ermessensleistungen eine Bindungswirkung nicht eintrete, noch, daß hier ohne entsprechende Willenserklärung der Verwaltung die Bindungswirkung automatisch entfallen könne. Die Bezeichnung als Kann-Leistung besagt möglicherweise, daß schon eine Änderung von Ermessenserwägungen eine Änderung im Sinne des § 62 BVG darstellen könne. Diese Bezeichnung ändert aber nichts daran, daß es für die Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes gleichgültig ist, ob das Handeln der Verwaltung durch eine Muß-Vorschrift, eine Kann-Vorschrift oder durch gar keine Vorschrift ausgelöst worden ist (vgl BSGE 6, 175, 179).
Ob der Bescheid vom 18. Januar 1966 durch den Bescheid vom 17. Mai 1979 mit teilweiser Rückwirkung geändert werden konnte, hat das SG zu entscheiden (§ 171 Abs 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 82 |
Breith. 1981, 159 |