Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzulässigkeit der Berufung. Begründung eines Verfahrensmangels. Hilflosigkeit. Ausschlußgrund
Orientierungssatz
1. Die Berufung gegen das Urteil des SG, das den Beschädigten eine bereits mehrfach bindend abgelehnte Pflegezulage wegen Hilflosigkeit (BVG § 35) zugesprochen hat, ist unzulässig, da das angefochtene Urteil nur die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse betrifft (SGG § 148 Nr 3). Die Berufung ist auch nicht ausnahmsweise nach SGG § 150 Abs 2 statthaft, weil die Ausführungen der Beklagten nicht ausreichen, die behaupteten Verfahrensmängel darzutun.
2. Die Tatsachen, die den Verfahrensmangel ergeben sollen, sind im wesentlichen genau und bestimmt anzugeben. Insbesondere ist vorzutragen, welche Erhebungen noch möglich und notwendig sind, damit der Pflicht zur Amtsermittlung ausreichend genügt wird. Den gleichen Anforderungen unterliegt die Rüge einer Verletzung der richterlichen Beweiswürdigung (SGG § 128 Abs 1 S 1).
Normenkette
BVG § 35; SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 148 Nr 3 Fassung: 1958-06-25, § 150 Nr 2 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 19.12.1978; Aktenzeichen L 8 V 17/77) |
SG Lüneburg (Entscheidung vom 15.12.1976; Aktenzeichen S 10 V 49/75) |
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Pflegezulage zu beanspruchen hat.
Die 1915 geborene Klägerin wurde 1945 durch Tieffliegerbeschuß am Kopf und am rechten Arm verletzt; der rechte Arm wurde im mittleren Drittel des Oberarmes amputiert. Vor allem wegen dieser Schädigungsfolgen bezieht sie Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 90 vH. Anträge auf Gewährung von Pflegezulage hat der Beklagte 1957 und 1973 wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 35 BVG abgelehnt. Im Oktober 1974 beantragte die Klägerin erneut, jedoch erfolglos, Pflegezulage und die Anerkennung einer weiteren Schädigungsfolge (Bescheid vom 11. November 1974, Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 1975).
Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat den Bescheid dahin abgeändert, daß eine "Gefühlsstörung entlang des nervus ulnaris links" zusätzlich als mittelbare Schädigungsfolge anzuerkennen sei und den Beklagten verurteilt, der Klägerin ab 1. Oktober 1974 Pflegezulage nach Stufe I zu gewähren; im übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. Dezember 1976). Gegen dieses Urteil hat der Beklagte insoweit Berufung eingelegt, als das SG Pflegezulage zuerkannt hatte. Das SG habe seine Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts verletzt (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) und die Grenzen des Rechts zur freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten (§ 128 SGG).
Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. Dezember 1978). Es hat ausgeführt, die durch § 148 Nr 3 SGG an sich ausgeschlossene Berufung sei nach § 150 Nr 2 SGG zulässig, weil das erstinstanzliche Verfahren an einem wesentlichen Mangel leide, den der Beklagte zutreffend gerügt habe. Bei der Prüfung der Frage, ob Hilflosigkeit iS des § 35 Abs 1 BVG vorliege, sei das Gericht gehalten, im einzelnen Feststellungen darüber zu treffen, ob und in welchem Umfange die Beschädigte nicht in der Lage sei, die regelmäßig wiederkehrenden und notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens (Ankleiden und Auskleiden, Speisen zerkleinern und zu sich nehmen, sich waschen und die Notdurft verrichten) allein vorzunehmen. Andernfalls sei dies ein Verstoß gegen die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) und zur Würdigung des gesamten Ergebnisses des Verfahrens (§ 128 Abs 1 SGG). Einen solchen Verstoß habe das SG begangen, weil es sich damit, zu welchen einzelnen Verrichtungen des täglichen Lebens die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, nur insoweit befaßt habe, als es ausgeführt habe, die Klägerin habe wegen ihres Alters die Überwindungskraft verloren, sich im Restaurant die Speisen vor dem Essen zerkleinern zu lassen. Dies reiche nicht aus, um zu entscheiden, ob die Klägerin "hilflos" iS des § 35 BVG sei. Die Hilflosigkeit der Klägerin habe nicht einen solchen Grad erreicht, daß sie nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen könne.
Die Klägerin hat gegen dieses Urteil die nachträglich zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung der §§ 150 Nr 2, 103 und 128 SGG.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Dezember 1978 aufzuheben und die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 15. Dezember 1976 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet.
Das Berufungsurteil ist aufzuheben. Die Berufung des Beklagten ist als unzulässig zu verwerfen.
Das LSG hat die Berufung zu Unrecht als zulässig angesehen. Da Anträge der Klägerin auf Gewährung von Pflegezulage bereits in den Jahren 1957 und 1973 bindend abgelehnt waren, betraf der angefochtene Teil des Urteils des SG nur die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse. Ebenso verhält es sich mit der Berufung des Beklagten. Die Berufung war daher nach § 148 Nr 3 SGG ausgeschlossen. Sie war auch nicht ausnahmsweise nach § 150 Nr 2 SGG statthaft. Danach ist die Berufung ungeachtet der §§ 144 bis 149 zulässig, wenn der Berufungskläger einen wesentlichen Verfahrensmangel des SG rügt und dieser Mangel tatsächlich vorliegt (vgl BSG in ständiger Rechtsprechung seit BSGE 2, 124; weitere Hinweise bei Meyer- Ladewig, SGG, § 150 Anm 18). Der Beklagte hat seine Berufung lediglich damit begründet, das SG habe die §§ 103 und 128 SGG verletzt und sich danach damit befaßt, was unter den "gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens" iS des § 35 Abs 1 BVG zu verstehen sei. Sodann hat er gerügt, die allgemeinen Hinweise des SG zur Hilflosigkeit iS des § 35 BVG reichten nicht aus; Ermittlungen in notwendigem Umfang habe das SG nicht angestellt.
Diese Ausführungen reichen nicht aus, um die behaupteten Verfahrensmängel darzutun. Es sind die Tatsachen, die den Verfahrensmangel ergeben sollen, im wesentlichen genau und bestimmt anzugeben. Insbesondere ist vorzutragen, welche Erhebungen noch möglich und notwendig sind, damit der Pflicht zur Amtsermittlung ausreichend genügt wird (vgl Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, § 150 RdNr 29; Meyer-Ladewig, aaO, § 150 Anm 19). Den gleichen Anforderungen unterliegt die Rüge einer Verletzung der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG).
Das LSG hat daher § 150 Nr 2 SGG verletzt, wenn es die Berufung gleichwohl als statthaft angesehen hat. Auf diesem Verfahrensmangel beruht sein Urteil. Bei richtiger Anwendung des § 150 Nr 2 SGG hätte nämlich das LSG nicht durch Sachurteil entscheiden dürfen, sondern hätte die Berufung als unzulässig verwerfen.müssen.
Daß das SG möglicherweise § 35 BVG falsch ausgelegt hat, ist kein Fehler auf dem Weg zum Urteil, sondern betrifft den Inhalt des Urteils; dies reicht für die Anwendung des § 150 Nr 2 SGG nicht aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen