Entscheidungsstichwort (Thema)
Regelaltersrente. verspätete Antragstellung. Verjährung. Rentenbeginn. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
Leitsatz (amtlich)
Kann aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine Leistung rückwirkend verlangt werden, gilt in entsprechender Anwendung des § 44 Abs 4 SGB 10 eine Ausschlussfrist von vier Jahren (Fortführung von BSG vom 9.9.1986 - 11a RA 28/85 = BSGE 60, 245 = SozR 1300 § 44 Nr 24, BSG vom 21.1.1987 - 1 RA 27/86 = SozR 1300 § 44 Nr 25, BSG vom 28.1.1999 - B 14 EG 6/98 B = SozR 3-1300 § 44 Nr 25 und BSG vom 14.2.2001 - B 9 V 9/00 R = BSGE 87, 280 = SozR 3-1200 § 14 Nr 31).
Orientierungssatz
Der Herstellungsanspruch, der die Verletzung einer Nebenpflicht des Leistungsträgers (zB eine Beratung) sanktioniert, kann nicht weiter reichen als der Anspruch nach § 44 Abs 1 SGB 10 als Rechtsfolge der Verletzung einer Hauptpflicht (vgl BSG vom 14.2.2001 - B 9 V 9/00 R aaO und BGH vom 7.3.1983 - VIII ZR 331/81 = BGHZ 87, 88)
Normenkette
SGB X § 44 Abs. 4 Sätze 1-3, Abs. 1, § 48 Abs. 1, 1 S. 2 Nr. 1, Abs. 4; SGB I § 45; SGB VI § 77 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b, § 115 Abs. 6
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beklagte wendet sich gegen ihre Verurteilung, dem Kläger auch für den Zeitraum von Mai 1995 bis Dezember 1996 Regelaltersrente (RAR) zu zahlen.
Der Kläger ist am 27.4.1995 65 Jahre alt geworden. Auf seinen Antrag von April 2001 gewährte ihm die Beklagte RAR wegen Vollendung des 65. Lebensjahrs ab 1.4.2001 (Bescheid vom 2.10.2001) . Den Widerspruch des Klägers, mit dem er die Zahlung der RAR bereits ab Vollendung des 65. Lebensjahrs begehrte, wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 28.1.2002) .
Das Sozialgericht Berlin (SG) hat mit Urteil vom 25.2.2004 die Beklagte verurteilt, dem Kläger bereits ab 1.5.1995 RAR zu gewähren. Der rechtzeitige Rentenantrag sei im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu fingieren, weil die Beklagte die aus § 115 Abs 6 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) resultierende Hinweispflicht verletzt habe. Einem Rentenbeginn ab 1.5.1995 stehe auch nicht die Vier-Jahres-Frist des § 44 Abs 4 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) entgegen. Diese Regelung sei auf den Fall eines Herstellungsanspruchs nicht entsprechend anwendbar.
Die Berufung, mit der die Beklagte die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils hinsichtlich ihrer Verurteilung zur Gewährung von RAR für die Zeit vor dem 1.1.1997 begehrt hat, hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 22.9.2005) . Hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 44 Abs 4 SGB X hat es sich im Ergebnis der Argumentation des SG angeschlossen. Der Anspruch des Klägers sei insoweit auch nicht verjährt, weil sich die Beklagte nicht wirksam auf Verjährung berufen könne. Die Erhebung der Einrede der Verjährung sei rechtsmissbräuchlich und damit ermessensfehlerhaft, weil sie gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoße. Die verspätete Antragstellung des Klägers beruhe allein auf einem Verschulden der Beklagten, die es in pflichtwidriger Weise unterlassen habe, den Kläger darauf hinzuweisen, dass er ab Vollendung des 65. Lebensjahrs die RAR erhalten könne. Demgegenüber bestehe kein zu berücksichtigendes Mitverschulden des Klägers. Die Beklagte könne sich nicht darauf berufen, dass der Kläger aus dem noch vorhandenen Versicherungsverlauf aus dem Jahre 1987, siebeneinhalb Jahre vor dem möglichen Rentenbeginn, seine Rechte hätte erkennen können (Hinweis auf BSG vom 22.10.1996, SozR 3-2600 § 115 Nr 1) .
Hiergegen wendet sich die vom Senat zugelassene Revision der Beklagten. Sie rügt die Verletzung der Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB X. Diese Vorschrift sei auf den vorliegenden Fall entsprechend anwendbar. Die Analogie sei nicht durch § 37 Satz 1 Halbsatz 1 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I) ausgeschlossen. Es seien keine Gründe erkennbar, die es rechtfertigen könnten, den Leistungszeitraum in Fällen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X anders zu bestimmen als in Fällen wie dem vorliegenden, in denen in Anwendung der Grundsätze zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch eine Rente erstmals festgesetzt werde.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 22.9.2005 aufzuheben und unter Änderung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 25.2.2004 die Klage insoweit abzuweisen, als dem Kläger Regelaltersrente für Zeiträume vor dem 1.1.1997 zuerkannt wurde.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision der Beklagten waren das Berufungsurteil aufzuheben und das erstinstanzliche Urteil im beantragten Umfang zu ändern. Dem Kläger steht RAR nicht vor dem 1.1.1997 zu.
Auch wenn der Kläger RAR bereits vor dem sich aus § 99 Abs 1 Satz 2 SGB VI ergebenden Zeitpunkt (Beginn des Antragsmonats April 2001) beanspruchen kann und die Instanzgerichte zu Recht angenommen haben, dass die Beklagte insoweit ihre Hinweispflicht nach § 115 Abs 6 SGB VI verletzt hat, so dass dem Kläger ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zusteht (1.), hat er, in entsprechender Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X, keinen Anspruch auf RAR für einen Zeitraum vor dem 1.1.1997 (2.). Mit dieser Entscheidung weicht der Senat nicht iS des § 41 Abs 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von der Rechtsprechung anderer Senate des Bundessozialgerichts (BSG) ab (3.).
1. Das LSG ist davon ausgegangen, dass der Kläger einen Anspruch auf Herstellung des Zustands hat, wie er bei rechtzeitiger Stellung seines Antrags auf RAR vorgelegen hätte, weil die Beklagte ihre Pflicht aus § 115 Abs 6 SGB VI (s hierzu Senatsurteil vom 14.11.2002, SozR 3-2600 § 115 Nr 9 mwN) verletzt habe, ihn auf diese Antragsmöglichkeit hinzuweisen. Einzelheiten sind insoweit für den Senat nicht entscheidungserheblich. Die Revision der Beklagten bezieht sich lediglich auf den Umfang der aus einem derartigen Herstellungsanspruch folgenden Leistungspflichten. Das Rechtsmittel ist insgesamt begründet, ohne dass über den Herstellungsanspruch selbst zu befinden wäre. Der Kläger hat jedenfalls keinen weitergehenden Leistungsanspruch als von der Beklagten durch ihre auf den Zeitraum vor dem 1.1.1997 eingeschränkte Berufung anerkannt.
2. Hat ein Berechtigter Anspruch auf rückwirkende Leistungen aufgrund eines Herstellungsanspruchs, werden diese längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren rückwirkend erbracht. Die Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB X ist insoweit entsprechend anzuwenden.
Nach § 44 Abs 4 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist (Satz 1). Dabei wird nach Satz 2 der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt nach Satz 3 bei der Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
Der Senat schließt sich insoweit der bisherigen Rechtsprechung des BSG an (BSG 11a. Senat vom 9.9.1986, BSGE 60, 245, 246 ff = SozR 1300 § 44 Nr 24 S 62 ff; BSG 11a. Senat vom 9.9.1986 - 11a RA 10/86, nicht veröffentlicht; BSG 1. Senat vom 21.1.1987, SozR 1300 § 44 Nr 25 S 67 f; BSG 14. Senat vom 28.1.1999, SozR 3-1300 § 44 Nr 25 S 60 f; BSG 9. Senat vom 14.2.2001, BSGE 87, 280, 288 f = SozR 3-1200 § 14 Nr 31 S 114 f; auch in einer neueren Entscheidung - Urteil vom 16.12.2004 - B 9 VJ 2/03 R, am Ende, bekräftigt der 9. Senat des BSG in einem obiter dictum die Auffassung, dass sich die Rückwirkung des Herstellungsanspruchs "innerhalb des von § 44 Abs 4 SGB X gezogenen zeitlichen Rahmens" bewegt) .
a) Das BSG hat das Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs im Wege richterlicher Rechtsfortbildung seit Anfang der 60-er Jahre des vorigen Jahrhunderts zur "Schließung einer Lücke im Schadensersatzrecht" (BSG 11. Senat vom 18.8.1983, BSGE 55, 261, 263 f = SozR 2200 § 1303 Nr 27 S 81) entwickelt (vgl zB Adolf, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, 1991, S 19 ff) . Seither haben sich "Tatbestand" und Rechtsfolgen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs mehr und mehr verfestigt, so dass insoweit innerhalb der Rechtsprechung der Sozialgerichte inzwischen weitgehend Rechtssicherheit herrscht.
Das BSG hat in seiner den Herstellungsanspruch begründenden Rechtsprechung zunächst keine Einschränkungen des Umfangs der Rückwirkung gesehen (BSG 1. Senat vom 17.11.1970, BSGE 32, 60 ff = SozR Nr 15 zu § 1286 aF RVO zur Rückwirkung eines im Jahre 1964 gestellten Rentenantrags auf das Jahr 1952; ähnlich BSG 12. Senat vom 18.12.1975, BSGE 41, 126 ff = SozR 7610 § 242 Nr 5 zur Rückwirkung von 1973 auf 1965; BSG 5. Senat vom 23.3.1972, BSGE 34, 124, 127 = SozR Nr 25 zu § 29 RVO Bl Aa 27 Rs hielt in einem obiter dictum die Verjährungseinrede nach dem Grundsatz von Treu und Glauben für ausgeschlossen, wenn der Versicherte infolge einer erbetenen unrichtigen Auskunft an einem rechtzeitigen Rentenantrag gehindert wurde) . Demgegenüber geht es seit dem Inkrafttreten des SGB X zum 1.1.1981 und damit seit nunmehr über 20 Jahren in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein Anspruch auf rückwirkende Leistungserbringung aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ebenfalls der Vier-Jahres-Frist des § 44 Abs 4 SGB X unterfällt (s die Nachweise bei RdNr 13); die Annahme, es bestehe eine "gefestigte Rechtsprechung (des BSG), wonach Erstfeststellungsverfahren nicht in den Anwendungsbereich des § 44 Abs 4 SGB X fallen" (Dankelmann, juris PR-SozR 9/2006 Anm 4 unter C) , trifft nicht zu.
Zur Begründung stellt das BSG darauf ab, dass sowohl bei der nachträglichen Korrektur eines bindenden belastenden Verwaltungsakts (§ 44 SGB X) als auch beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch eine vergleichbare Interessenlage besteht. In beiden Fällen wird vom Leistungsträger das Recht unrichtig angewandt, und in beiden Fällen hat dies zur Folge, dass der Leistungsberechtigte nicht die ihm zustehende Leistung erlangt. Einen ins Gewicht fallenden Unterschied hat das BSG nicht darin gesehen, dass der Berechtigte einmal einen ablehnenden Verwaltungsakt erhalten, ein andermal dagegen schon im Vorfeld von der Anspruchsverfolgung abgesehen hat. Denn so oder so ist der Leistungsträger gleichermaßen zur Korrektur verpflichtet. Auf ein Verschulden des Leistungsträgers kommt es hier wie dort nicht an; auch der Umfang seiner Verpflichtung ist grundsätzlich der gleiche. Aus diesen Gründen kann es für den zeitlichen Umfang der rückwirkenden Leistung nicht wesentlich sein, ob der Leistungsträger eine Leistung durch Verwaltungsakt zu Unrecht versagt oder er aus anderen ihm zuzurechnenden Gründen den Berechtigten nicht in den Leistungsgenuss hat kommen lassen; der Berechtigte ist im letzteren Fall keinesfalls schutzwürdiger als im ersten. Die Rechtsähnlichkeit der Fallgruppen erfordert daher die Gleichbehandlung (BSG 11a. Senat vom 9.9.1986, BSGE 60, 245, 247 f = SozR 1300 § 44 Nr 24 S 63 f; zum großen Teil textidentisch ferner BSG 11a. Senat vom selben Tag - 11a RA 10/86; BSG 1. Senat vom 21.1.1987, SozR 1300 § 44 Nr 25 S 67 f; für die Vergleichbarkeit beider Konstellationen schon zuvor zB BSG 9. Senat vom 9.5.1979, SozR 3100 § 44 Nr 11 S 28) .
Diese Erwägungen hat der 9. Senat in seinem Urteil vom 14.2.2001 mit dem Hinweis darauf untermauert, dass der Herstellungsanspruch, der die Verletzung einer Nebenpflicht des Leistungsträgers (zB Beratung) sanktioniert, nicht weiter reichen kann als der Anspruch nach § 44 Abs 1 SGB X als Rechtsfolge der Verletzung einer Hauptpflicht (Leistungsgewährung durch rechtmäßigen Verwaltungsakt, BSGE 87, 280, 288 = SozR 3-1200 § 14 Nr 31 S 114; für die Gleichstellungvon Haupt- und Nebenpflichten in Verjährungsfragen zB auch Bundesgerichtshof ≪BGH≫ vom 7.3.1983, BGHZ 87, 88, 93 f) .
b) Diese Überlegungen hält der erkennende Senat nach wie vor für ausschlaggebend.
Für die Gleichbehandlung der Fälle einer nachträglichen Korrektur eines bindenden Verwaltungsakts (§ 44 SGB X) mit denen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs spricht auch, dass hiermit im Grenzbereich beider Rechtsinstitute unterschiedliche Rechtsfolgen vermieden werden; es sei insoweit zB auf die Fallkonstellationen hingewiesen, die folgenden Urteilen des BSG zugrunde lagen: BSG 9. Senat vom 9.5.1979 (SozR 3100 § 44 Nr 11 S 28: Behörde erreicht Antragsrücknahme, statt durch Verwaltungsakt zu entscheiden) , BSG 7. Senat vom 11.11.1982 (Az 7 RAr 24/80: Ausreise eines Ausländers nach fälschlicher Ablehnung seines Antrags auf Arbeitslosenhilfe; vom 7. Senat im Rahmen eines Herstellungsanspruchs geprüft) , BSG 12. Senat vom 28.2.1984 (SozR 1200 § 14 Nr 16 S 31 f: unterbliebene Anfechtung eines Bescheids wegen nicht genügend deutlicher Abweichung von Angaben des Adressaten) und BSG 5a. Senat vom 14.5.1985 (SozR 1300 § 44 Nr 18 S 41: unrichtige rechtliche Ausführungen in den Gründen eines Bescheids) , s auch das Senatsurteil vom heutigen Tag (B 13 R 34/06 R: fragliche Rechtswidrigkeit eines Bescheids durch Nichtberücksichtigung eines unmittelbar bevorstehenden Anspruchsbeginns) .
c) Unerheblich ist im vorliegenden Zusammenhang, ob aus § 44 Abs 4 SGB X ein allgemeiner Rechtsgedanke folgt, wonach Sozialleistungen nicht über vier Jahre hinaus rückwirkend zu gewähren sind (so jedoch BSG 11a. Senat vom 9.9.1986, BSGE 60, 245, 247 = SozR 1300 § 44 Nr 24 S 63; ähnlich BSG 1. Senat vom 21.1.1987, SozR 1300 § 44 Nr 25 S 66 f) . Diese Rechtsansicht hat zwar der 4. Senat des BSG ausdrücklich "aufgegeben" (BSG vom 2.8.2000, SozR 3-2600 § 99 Nr 5 Leitsatz 3, S 30) . Er hat sich hierzu augenscheinlich ohne Verfahren nach § 41 Abs 3 SGG für berechtigt gehalten, weil die zitierten Entscheidungen sowohl des 11a. als auch des 1. Senats des BSG beide in Streitigkeiten der Angestelltenversicherung ergangen waren, für die der 4. Senat des BSG im Jahre 2000 allein zuständig war (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 31.1.2002, BSGE 89, 151, 157 = SozR 3-1300 § 44 Nr 34 S 77) ; auf die Erwähnung dieses allgemeinen Rechtsgedankens im Beschluss des 14. Senats vom 28.1.1999 (SozR 3-1300 § 44 Nr 25) geht der 4. Senat nicht ein. Ob die beschriebene Vorgehensweise mit § 41 Abs 3 Satz 2 SGG übereinstimmt, hat der erkennende Senat nicht zu entscheiden; materiell neigt er der Auffassung zu, die der Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB X keinen allgemeinen Rechtsgedanken oder -grundsatz entnimmt (so im Ergebnis bereits das Senatsurteil vom 31.1.2002, aaO; einschränkend zuvor schon Senatsurteil vom 22.10.1996,BSGE 79, 177, 180=SozR 3-1200 § 45 Nr 6 S 21; vgl auch Senatsurteil vom 8.12.2005,BSGE 95, 300 = SozR 4-2200 § 1290 Nr 1, RdNr 24) . Dies schließt jedoch nicht aus, die genannte Vorschrift im Wege eines Analogieschlusses auch auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch anzuwenden (Heidemann, DRV 2004, 532, 540) .
Dem widersprechen auch nicht die Ausführungen des erkennenden Senats in seinem Urteil vom 22.10.1996 (BSGE 79, 177, 180 = SozR 3-1200 § 45 Nr 6 S 21) , wonach dort, wo § 44 Abs 4 SGB X tatbestandsmäßig nicht hinreicht, nach wie vor die Verjährungsregelung des § 45 SGB I gilt. Denn im damaligen Verfahren ging es gerade nicht um einen Herstellungsanspruch; der Senat hatte sich lediglich mit der oben erwähnten Frage auseinander gesetzt, ob es einen allgemeinen Rechtsgrundsatz gibt, wonach Leistungen für die Vergangenheit im Sinne einer Ausschlussfrist generell auf die nicht von der Verjährung erfassten vier Jahre vor dem Jahr der Geltendmachung beschränkt sind.
Am Rande sei darauf hingewiesen, dass das LSG - in der Begründung seiner Entscheidung, die Revision nicht zuzulassen - zu Unrecht angenommen hat, der erkennende Senat habe sich der oa Rechtsansicht des 4. Senats angeschlossen. Es hat eine Bemerkung in der Presse-Mitteilung Nr 21/05 des BSG vom 3.5.2005 über die Sitzung des erkennenden Senats von diesem Tage falsch interpretiert: In der Mitteilung heißt es unter 2), die Beklagte habe die Revision zurückgenommen, nachdem der Senat auf die Grundsätze des BSG-Urteils vom 2.8.2000, (SozR 3-2600 § 99 Nr 5) hingewiesen habe. Dieser Hinweis betraf jedoch die tragenden Gründe dieses Urteils zur Fortwirkung eines nach dem Recht der Reichsversicherungsordnung auch ohne Antrag entstandenen Anspruchs auf Altersruhegeld (s Senatsurteil vom 8.12.2005,BSGE 95, 300 = SozR 4-2200 § 1290 Nr 1) , nicht dessen obiter dictum zur Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X auf den Herstellungsanspruch (s hierzu unter 3.) .
d) Die gegen die Auffassung des BSG vorgebrachten Argumente können nicht überzeugen.
aa) Insoweit wird darauf hingewiesen, dass ein Berechtigter, dem gegenüber ein rechtswidriger belastender Verwaltungsakt ergangen sei, immerhin diesen in den Händen habe und somit einen Anlass zu Überlegungen, ob hiergegen etwas zu unternehmen sei; demgegenüber wisse der aus einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch Berechtigte typischerweise - zB wegen eines fehlendes Hinweises durch den Träger, wie im vorliegenden Fall - nichts von seinen Ansprüchen, so dass für ihn viel weniger Anlass bestehe, diese dennoch geltend zu machen. Dies rechtfertige, ihn hinsichtlich der Rückwirkung besser zu stellen als einen Berechtigten nach § 44 Abs 1 SGB X (so zB Gagel, SGb 2000, 517, 521 f; LSG Baden-Württemberg vom 23.5.2002 - L 10 RA 3507/01) .
Obgleich man diesem Argument eine gewisse Plausibilität nicht absprechen kann, wird es doch jedenfalls durch die seit dem 18.6.1994 geltende Rechtslage widerlegt. Mit Wirkung ab diesem Zeitpunkt hat das Zweite Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuchs vom 13.6.1994 (BGBl I1229) die Vorschrift des § 48 Abs 4 SGB X um die Verweisung ua auf § 44 Abs 4 SGB X ergänzt. Dies bedeutet, dass auch in den Anwendungsfällen des § 48 Abs 1 SGB X die Rückwirkung zugunsten des Betroffenen (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X) auf vier Jahr begrenzt ist. Damit aber werden typischerweise Fallkonstellationen erfasst, in denen, ähnlich wie beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, der Bürger nicht durch einen (rechtswidrigen) Verwaltungsakt auf ein (fehlerhaftes) Verwaltungshandeln aufmerksam gemacht wurde: Einschlägig sind zB Fälle, in denen aufgrund einer tatsächlichen oder rechtlichen Änderung eine zuvor durch Verwaltungsakt bewilligte Dauerleistung hätte erhöht werden müssen, was jedoch versäumt wurde. Wenn aber der Gesetzgeber bereits selbst derartige Interessenlagen dem Anwendungsbereich des § 44 Abs 4 SGB X zuordnet, kann für die vergleichbare Situation des Berechtigten eines Herstellungsanspruchs nichts anderes gelten.
bb) Ebenso wenig vermag sich der Senat der Argumentation anzuschließen, wonach die Übertragung der Rechtsfolge des § 44 Abs 4 SGB X auf den Herstellungsanspruch in Fallkonstellationen wie der vorliegenden deswegen ausgeschlossen sei, weil das Gesetz durch § 99 SGB VI (Rückwirkung der Rentenantragstellung bis zu drei Monaten bzw zwölf Monaten bei Hinterbliebenenrenten), § 44 Abs 4 SGB X sowie § 45 SGB I (Verjährung) ein in sich stimmiges und lückenfreies Regelungskonzept ausgestaltet habe, das einer richterlichen Ergänzung oder gar Durchbrechung nicht offen stehe (vgl BSG 4. Senat vom 6.3.2003, BSGE 91, 1 = SozR 4-2600 § 115 Nr 1, RdNr 71; ähnlich bereits BSG 4. Senat vom 2.8.2000, SozR 3-2600 § 99 Nr 5 S 30) .
Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass der Gesetzgeber bisher von einer gesetzlichen Regelung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs abgesehen hat, obwohl ihm dieser durch die Rechtsprechung entwickelte Anspruch längst - insbesondere auch bei Schaffung des am 1.1.1981 in Kraft getretenen SGB X - bekannt war und ist. Damit hat er die Verantwortung zur näheren Ausgestaltung dieses Rechtsinstituts weiterhin bei der Rechtsprechung belassen. Dies bedeutet aber gleichzeitig, dass aus dem Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung zur Rückwirkung des Herstellungsanspruchs keinerlei Schlüsse dahingehend gezogen werden können, der Gesetzgeber habe dieses Detail abschließend geregelt.
Dementsprechend gibt es auch keine Sperre, ein richterrechtlich entwickeltes Rechtsinstitut (hier: den Herstellungsanspruch) durch analoge Übernahme einer neuen gesetzlichen Regelung (hier: der Vier-Jahres-Frist nach § 44 Abs 4 SGB X) fortzuentwickeln, wenn der Gesetzgeber eine rechtsähnliche Fallgestaltung (hier: die Rücknahme bindender Verwaltungsakte) erstmals zusammenfassend normiert. Im Gegenteil wird hierdurch die Nähe zum Gesetz eher gefördert.
cc) Ebenso wenig folgt der Senat der Rechtsmeinung (BSG 4. Senat aaO) , der Rechtsprechung sei es verwehrt, den Versicherten eine vollständige Herstellung des grundrechtlich geschützten Zustands mit allen rechtmäßigen und faktisch noch möglichen Mitteln zu verweigern, falls der Rentenversicherungsträger ein derartiges Recht verletzt habe.
Zwar kann der Herstellungsanspruch auch als Verwirklichung des Gebots verstanden werden, sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden (§ 2 Abs 2 SGB I) . Hieraus kann jedoch keine - erst recht keine grundrechtlich bewehrte - Pflicht gefolgert werden, auf den Herstellungsanspruch lediglich die Verjährungsregelung des § 45 SGB I, nicht jedoch die Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB X anzuwenden. Wie (oben unter 2.a) aufgezeigt, stellt bereits die Begründung des Herstellungsanspruchs durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung eine Begünstigung des Bürgers (auch des Rentenversicherten) gegenüber der Gesetzeslage dar ("Schließung einer Lücke im Schadensersatzrecht"); hieran ändert auch die Begrenzung seiner Rückwirkung in entsprechender Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X nichts.
e) Diesem Ergebnis stehen auch anderweit keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen (zur Vereinbarkeit der Regelung des § 44 Abs 4 SGB X mit dem GG: BSG 1. Senat vom 23.7.1986, BSGE 60, 158, 161 ff = SozR 1300 § 44 Nr 23 S 54) .
Dies gilt umso mehr, als in der vorliegenden Fallkonstellation dem Kläger wegen des Beginns der Rentenzahlung erst im Januar 1997 (statt mit Vollendung des 65. Lebensjahrs im Mai 1995) ein zusätzlicher Ausgleich zusteht. Dieser folgt aus § 77 Abs 2 Nr 2 Buchst b SGB VI; hiernach erhöht sich bei Renten wegen Alters, die nach Vollendung des 65. Lebensjahrs trotz erfüllter Wartezeit nicht in Anspruch genommen werden, der Zugangsfaktor für jeden Kalendermonat um 0,005. Im Ergebnis fällt also die Altersrente für jedes Jahr der Nichtinanspruchnahme um 6 % höher aus. Dies gilt auch für jene Zeiträume, in denen, wie hier, die entsprechende Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X einer Rückwirkung entgegensteht, im Falle des Klägers also für 20 Monate; hieraus ergibt sich ein Zuschlag zum Zugangsfaktor in Höhe von immerhin 10 % und damit eine entsprechend höhere Rente (hiermit hätte sich im Übrigen auch das LSG auseinander setzen müssen, als es, seiner Rechtsmeinung folgend, ohne weiteres davon ausgegangen ist, es widerspreche Treu und Glauben, wenn sich die Beklagte auf Verjährung berufe) . Dies wird auch die Beklagte nach Abschluss des Verfahrens zu beachten haben (in dem das SG-Urteil vorläufig ausführenden Bescheid vom 1.7.2004, Bl 72 LSG-Akten, noch nicht berücksichtigt; vgl ferner Senatsurteil vom 8.12.2005, SozR 4-6580 Art 19 Nr 2 RdNr 19) .
3. Mit dieser Entscheidung weicht der Senat nicht iS des § 41 Abs 3 SGG von der Rechtsprechung anderer Senate des BSG ab.
In Betracht kommt insoweit allenfalls eine Abweichung von den Urteilen des 4. Senats vom 2.8.2000 (SozR 3-2600 § 99 Nr 5) sowie vom 6.3.2003 (BSGE 91, 1 = SozR 4-2600 § 115 Nr 1) . In beiden Entscheidungen ist der 4. Senat davon ausgegangen, dass die Rückwirkung des Herstellungsanspruchs in Erstfeststellungsverfahren (also nicht dann, wenn über einen Herstellungsanspruch die Rechtswidrigkeit iS des § 44 SGB X begründet wird) nicht in entsprechender Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X auf einen Vier-Jahres-Zeitraum beschränkt werden könne. Es handelt sich jedoch in beiden Fällen um nicht tragende Erwägungen.
Dies folgt für das Urteil vom 2.8.2000 bereits daraus, dass der 4. Senat (aaO S 30) ausdrücklich selbst anführt, dass das richterrechtliche Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs in dem damals entschiedenen Fall tatbestandlich nicht anwendbar war.
Im Urteil vom 6.3.2003 nimmt der 4. Senat zur Anwendbarkeit des § 44 Abs 4 SGB X auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch im Rahmen seiner Hinweise an das LSG Stellung, die dieses in seiner erneuten Entscheidung nach Zurückverweisung der Sache zu beachten haben wird (auch als "Segelanweisungen" bezeichnet) . Wenn aber - wie im Urteil vom 6.3.2003 - bei einem zurückverweisenden Urteil noch gar nicht feststeht, ob es auf bestimmte zu prüfende Umstände überhaupt ankommen wird, zählen auch die entsprechenden Rechtsausführungen des BSG nicht zu den tragenden Gründen, sondern stellen ein iS des § 41 Abs 3 SGG unbeachtliches obiter dictum dar. Die Ausführungen zur Anwendbarkeit des § 44 Abs 4 SGB X auf den Herstellungsanspruch waren kein unabdingbares Glied in der Gedankenkette der Entscheidung. Denn diese bestand in der Zurückverweisung der Sache an das LSG, weil dieses weitere Feststellungen zu treffen hatte (vgl Meyer-Ladewig in ders/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 160 RdNr 14a, § 170 RdNr 11; W. Schlüter, Das obiter dictum, 1973, S 181).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1746594 |
BSGE 2008, 162 |
DStR 2007, 2221 |