Leitsatz (amtlich)
Zur Feststellung des Jahresarbeitsverdienst nach billigem Ermessen (RVO § 577), wenn der Versicherte, der kurz nach Aufnahme einer Tätigkeit einen Arbeitsunfall erlitten hat, früher einmal - zu einer Zeit, die vor dem dem Unfall vorhergehenden Jahr liegt - eine gleiche Tätigkeit ausgeübt hat, die er lediglich zwischenzeitlich durch eine andersartige Tätigkeit unterbrochen hatte.
Normenkette
RVO § 577 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. Mai 1971 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der der Unfallrente des Klägers zugrunde gelegte, nach den §§ 571 bis 576 der Reichsversicherungsordnung (RVO) berechnete Jahresarbeitsverdienst (JAV) in erheblichem Maße unbillig und daher nach § 577 RVO nach billigem Ermessen festzustellen ist.
Der Kläger ist im Jahre 1936 geboren und türkischer Staatsangehöriger. Er war vom 10. September 1965 bis zum 16. Januar 1967 im Ruhrbergbau tätig. Danach arbeitete er bis April 1969 in seiner Heimat in der eigenen Landwirtschaft und nahm anschließend erneut eine Arbeit (als Gedingeschlepper) im Rheinisch-Westfälischen Steinkohlenbergbau auf. Nach 20 Schichten erlitt er am 9. Mai 1969 eine schwere Quetschung der linken Hand, die eine Teilamputation erforderlich machte. Seitdem ist er als Maschinenputzer tätig. Die durch die Schädigung bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist mit 40 v.H. anerkannt.
In dem Bescheid vom 27. Januar 1970 legte die Beklagte der Rente einen JAV von 6.075 DM zugrunde. Der Kläger hatte der Beklagten im Juli 1969 auf einer Postkarte mitgeteilt, er habe in der Zeit vom 9. Mai 1968 bis zum 13. April 1969 in der Türkei keine Beschäftigung gehabt. Bei einer Vorsprache bei der Beklagten am 19. Dezember 1969 gab er an, er sei in der Türkei selbständig als Landwirt auf eigenen Boden tätig gewesen. Jetzt habe er das Land an seinen Bruder verpachtet. Sein reines Arbeitseinkommen habe in dieser Zeit nicht mehr als 10 000 Türkische Pfund betragen. Er unterschrieb eine entsprechende Erklärung. Mit Schreiben vom 19. August 1969 erklärte er der Beklagten, er habe in der Zeit vom 9. Mai 1968 bis zum 13. April 1969 insbesondere Zuckerrüben und Korn zu einem Gesamtverkaufspreis von ca. 25 000 Türkischen Pfund veräußert. Der Gemeindevorstand der türkischen Heimatgemeinde teilte dem Verstand der türkischen Landwirtschaftskammer am 28. Oktober 1969 mit, ihr Dorfältestenausschuß bestätige, daß der Kläger im Jahre 1968/69 ein Bruttoeinkommen von 25 000 Türkischen Pfund gehabt habe.
Die Beklagte ging davon aus, daß der durchschnittliche JAV des Klägers vom 9. Mai 1968 bis zum 13. April 1969 nicht mehr als 10 000 Türkische Pfund betragen habe, bei einem Mittelkurs von 0,4444 DM entspreche das einem Verdienst von 4 444 DM. Hinzu komme noch der vom 14. April bis zum 8. Mai 1969 im deutschen Bergbau erzielte Verdienst von 753,29 DM, so daß der JAV des Klägers im Jahre vor dem Arbeitsunfall 5 197,29 DM betragen habe. Da dieser Betrag geringer als das Dreihundertfache des Ortslohnes war, der zur Zeit des Arbeitsunfalles für den Beschäftigungsort des Klägers mit 6 075 DM festgesetzt war, wurde der dreihundertfache Ortslohn nach § 575 Abs. 1 Satz 1 RVO als JAV bei der Rentenfestsetzung berücksichtigt. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund.
Das SG hat die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 27. Januar 1970 verurteilt, dem Kläger vom 20. August 1969 an eine Teilrente von 40 v.H. der Vollrente zu gewähren, deren Berechnung ein JAV von 9 691,78 DM zugrunde zu legen sei. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte für verpflichtet erklärt wurde, dem Kläger vom 20. August 1969 an eine Unfallrente unter Zugrundelegung eines JAV, der unter Beachtung der Ausführungen in den Gründen des Urteils festzustellen sei, zu zahlen. Das LSG ist der Ansicht, der von der Beklagten nach den §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV sei in erheblichem Maße unbillig im Sinne des § 577 RVO. Der Ortslohn betrage 20,25 DM. Der erzielte Schichtverdienst des Klägers in der Zeit vom 14. April bis zum 8. Mai 1969 habe dagegen 37,66 DM betragen. Der geringste Lohn im Rheinisch-Westfälischen Steinkohlenbergbau - nämlich der der Lohngruppe 5 über Tage - sei mit 24,07 DM festgelegt gewesen. Da der Kläger zur Zeit seines Unfalles auch kein gewöhnlicher Tagarbeiter, sondern im Gedinge unter Tage beschäftigt gewesen sei, sei die Festsetzung nach dem Dreihundertfachen des Ortslohnes in erheblichem Maße unbillig. Das gelte auch dann, wenn man berücksichtige, daß im Rheinisch-Westfälischen Steinkohlenbergbau nicht 300, sondern nur etwa 284 Schichten im Jahre geleistet würden. weiter sei zu berücksichtigen, daß der Kläger in einen wesentlich gefahrvolleren Beruf übergewechselt und schon kurze Zeit nach der Wiederaufnahme der Bergmannsarbeit dieser höheren Gefahr erlegen sei. Schließlich weise seine linke Hand nunmehr eine weitgehende Gebrauchsunfähigkeit auf, die ihn zu einem entscheidenden Anteil daran hindere, künftig manuelle Arbeiten höher entlohnter Art zu verrichten. Allerdings könne bei richtiger Ausübung des Ermessens im vorliegenden Falle nicht nur eine einzige Entscheidung richtig sein, wie das SG gemeint habe. Daher habe das SG sein Ermessen nicht an die Stelle des Ermessens der Beklagten setzen dürfen. Dieser habe nicht die Möglichkeit genommen werden dürfen, alle nach ihrer Auffassung für die Bemessung des JAV bedeutsamen Umstände einer Würdigung zu unterziehen. Ihr müsse nunmehr Gelegenheit gegeben worden, das ihr im Rahmen des § 577 RVO Eingeräumte Ermessen auszuüben. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Zur Begründung der von ihr eingelegten Revision macht die Beklagte geltend, die Ansicht des LSG stehe in Widerspruch zu dem mit § 577 RVO beabsichtigten Sinn und Zweck. Der nach den §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV sei nicht in erheblichem Maße unbillig. Beide im Jahr vor dem Unfall geleisteten Tätigkeiten gehörten der gleichen Beschäftigungskategorie an. Bei beiden Tätigkeiten würden keine besonderen Fähigkeiten gefordert, die mit einer speziellen und umfangreichen Anlernung verbunden seien. Durch die Wertigkeit der Arbeit des Klägers in der Türkei und in Deutschland werde kein sozialer Auf- oder Abstieg begründet. Das Einkommen des Klägers sei auch nicht zeitweilig so niedrig gewesen, daß es nicht als Grundlage seiner normalen Lebenshaltung angesehen werden könne, denn sein Arbeitsverdienst aus der Landwirtschaft habe nach seinen Angaben in der für die Anrechnung in Betracht kommenden Zeit rd. 10 000 Türkische Pfund betragen. Damit habe er in der Türkei seinen Lebensunterhalt bestreiten können, denn nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes habe ein türkischer Industriearbeiter im Jahre vor dem Unfall nur 6 000 bis 9 000 Türkische Pfund verdient. Dieses Einkommen liege weit unter dem Ortslohn, der der dem Kläger gewährten Rente zugrunde liege, denn das Drei hundert fache des Ortslohns (6 075 DM) sei im Jahre 1968 mit mehr als 13 000 Türkischen Pfund zu berechnen gewesen. Der Rente des Klägers in Höhe von 135 DM monatlich entspreche ein Betrag von rund 580 Türkischen Pfund. Mit diesem Einkommen sei er in der Türkei in der Lage, seinen Lebensunterhalt fast voll zu bestreiten. Es sei auch nicht möglich, den Kläger besser als deutsche Arbeitnehmer zu stellen, bei denen § 577 RVO nicht angewendet werden könne, wenn sie bei gleichem Arbeiterstand eine höher bezahlte Tätigkeit annehmen. Bei einem deutschen Versicherten, der aus der Landwirtschaft in die Industrie überwechsle, ohne dabei eine Änderung der sozialen Stellung zu erreichen, könne keine Anpassung des JAV wegen grober Unbilligkeit durchgeführt werden.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. Mai 1971 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 13. Oktober 1970 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für richtig.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Nach den Feststellungen des LSG war der Kläger vom 10. September 1965 bis zum 16. Januar 1967 in Ruhrbergbau tätig, war dann in seiner türkischen Heimat bis April 1969 selbständiger Landwirt und nahm in diesem Monat erneut eine Tätigkeit als Gedingeschlepper im deutschen. Steinkohlenbergbau auf. Hierbei erlitt er am 9. Mai 1969 nach Ableistung von 20 Schichten einen Arbeitsunfall, der zu einem Rentenanspruch in Höhe von 40 v.H. der Vollrente führte.
Die Rentenhöhe ist abhängig von dem JAV (§ 581 RVO). Nach § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO gilt als JAV das Arbeitseinkommen des Verletzten im letzten Jahr vor dem Arbeitsunfall. Für Zeiten, in denen der Verletzte im Jahre vor dem Arbeitsunfall kein Arbeitseinkommen bezog, wird das Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, das durch eine Tätigkeit erzielt wird, die der letzten Tätigkeit des Verletzten vor diesen Zeiten entspricht (§ 571 Abs. 1 Satz 2 RVO). Ist er früher nicht tätig gewesen, so ist die Tätigkeit maßgebend, die er zur Zeit des Arbeitsunfalls ausgeübt hat (§ 571 Abs. 1 Satz 3 RVO). Der JAV beträgt nach § 575 Abs. 1 Satz 1 RVO mindestens das Dreihundertfache des Ortslohns, der zur Zeit des Arbeitsunfalls für den Beschäftigungsort oder, wenn ein solcher fehlt, für den Wohnort des Verletzten festgesetzt ist. Ist der nach den §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig, so ist der JAV im Rahmen der Mindest- und Höchstgrenzen des § 575 RVO nach billigem Ermessen festzustellen. Hierbei ist außer den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls zu berücksichtigen (§ 577 RVO).
Das LSG hat die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids für verpflichtet erklärt, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, in welchem sie den JAV durch erneute Ausübung ihres Ermessens nach § 577 RVO neu festzustellen hat. Aus den Gründen des Urteils, die das Bundessozialgericht beachten muß, ergibt sich, daß das LSG einen JAV in Höhe des Dreihundertfachen des Ortslohns in erheblichem Maße für unbillig hält und daß die Beklagte der neuen Bescheiderteilung jedenfalls einen höheren als den dem Dreihundertfachen des Ortslohns entsprechenden JAV zugrunde zu legen hat.
Da nur die Beklagte gegen dieses Urteil Revision eingelegt hat, kann es der erkennende Senat nur zum Vorteil, nicht aber zum Nachteil der Beklagten abändern. Er könnte also - da das das LSG die Beklagte lediglich verpflichtet hat, den JAV unter erneuter Ausübung ihres Ermessens neu festzusetzen - diese nicht verurteilen, die Rente unter Zugrundelegung eines bestimmten JAV zu gewähren, der höher liegt als der gerade etwas über dem Ortslohn liegende JAV.
Da der Senat - wie unten ausgeführt - die Auffassung des LSG teilt, daß dem Kläger infolge der Anwendung des § 577 RVO jedenfalls ein höherer als der nach dem Ortslohn berechnete JAV zuzubilligen ist, ohne daß damit etwas über die genaue Höhe dieses JAV gesagt wäre, kann er nur das angefochtene Urteil bestätigen. Aus diesem Grunde kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob und gegebenenfalls welcher Anspruch des Klägers sich aus dem zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei getroffenen Abkommen über Soziale Sicherheit (BGBl II 1965, 1170; BABl 1955, 907), aus Art. 3 des "Vorläufigen Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit unter Ausschluß der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen" (BGBl II 1965, 508 ff) z.B. in Verbindung mit Art. 40 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Griechenland über Soziale Sicherheit vom 29. April 1961 (BGBl II 1963, 679 BABl 1963, 503) oder aus den Allgemeinen Grundsätzen des Internationalen Sozialversicherungsrechts ergibt. Selbst wenn sich aus der Anwendung dieser Vorschriften und Grundsätze ergeben würde, daß der Berechnung der Rente des Klägers ein JAV zugrunde gelegt werden müßte, der höher wäre als der, der dem Kläger im Urteil des LSG bereits dem Grundsatz nach zugebilligt ist, könnte der Senat die Beklagte wegen des Verbots, die Rechtsstellung der Beklagten gegenüber dem Berufungsurteil zu verschlechtern, nicht verurteilen, der Rentenberechnung einen solchen JAV zugrunde zu legen.
Bei der Prüfung der Frage, ob die Beklagte den JAV mit dem Dreihundertfachen des Ortslohns zu gering angesetzt hat, ist, wie bereits ausgeführt, auch der erkennende Senat zu dem Ergebnis gekommen, daß der Mindestjahresarbeitsverdienst (Dreihundertfache des Ortslohns) in erheblichem Maße unbillig ist. Dieser trägt nicht den besonderen Umständen des Falles Rechnung, die darin liegen, daß der Kläger bereits früher einmal, vom 10. September 1965 bis zum 16. Januar 1967, im Ruhrbergbau tätig war, so daß die Bergbautätigkeit nur durch die etwa 27 Monate ausgeübte Tätigkeit als selbständiger Landwirt in der Türkei unterbrochen war. Bei einer Feststellung des JAV nach § 577 RVO (d.h. nach billigem Ermessen) sind vor allem die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung des Verletzten und seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls zu berücksichtigen. Wenn diese Gegebenheiten bei der Festsetzung des JAV nach billigem Ermessen berücksichtigt werden müssen, ist zu schließen, daß sie auch schon bei der vorhergehenden Prüfung, ob der Mindestjahresarbeitsverdienst in erheblichem Maße unbillig ist, mit berücksichtigt werden müssen.
Bei seiner früheren Tätigkeit im Bergbau hatte der Kläger bereits Fähigkeiten erworben, die ihn für die zur Zeit des Arbeitsunfalls ausgeübte Erwerbstätigkeit besonders geeignet machten, die also im Rahmen des § 577 RVO mit berücksichtigt werden müssen. Auch bei der Beurteilung der Lebensstellung des Klägers kann der Umstand, daß er bereits früher als Bergmann im deutschen Bergbau tätig war, in diesem Zusammenhang nicht unberücksichtigt bleiben. Diese Umstände erfordern im besonderen Maße die Berücksichtigung der Erwerbstätigkeit des Klägers zur Zeit des Unfalls, d.h. des Erwerbseinkommens aus dieser Tätigkeit. Die im Rahmen des § 577 RVO zu berücksichtigende Unbilligkeit muß sich allerdings immer nur aus der Festsetzung des JAV ergeben. Es ist nicht möglich, bei der Festsetzung eines höheren JAV in dem durch § 577 RVO eröffneten Billigkeitswege zugunsten des Versicherten auch - wie das LSG meint - zu berücksichtigen, daß der Kläger in einen wesentlich gefahrvolleren Beruf übergewechselt, daß er schon kurze Zeit nach der Aufnahme der neuen Tätigkeit dieser höheren Gefahr erlegen ist und daß seine linke Hand nunmehr eine weitgehende Gebrauchsunfähigkeit aufweist, die ihn zu einem entscheidenden Anteil daran hindert, künftig manuelle Arbeiten höher entlohnter Art zu verrichten.
Das LSG ist unter Berücksichtigung dieser Umstände zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, daß der für die Rente des Klägers maßgebende JAV von der Beklagten zu niedrig festgesetzt worden ist und daß er im Rahmen des § 577 RVO nach billigem Ermessen jedenfalls höher als der Mindestjahresarbeitsverdienst festzustellen ist.
Die Revision der Beklagten mußte daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen