Leitsatz (amtlich)
Zum Ausschluß der Gewährung von Verletztenrente, wenn der Versicherte bei Eintritt des Arbeitsunfalls bzw bei Beginn der Berufskrankheit oder einer darauf beruhenden - an sich vorliegenden - Minderung der Erwerbsfähigkeit bereits aus anderen Gründen völlig erwerbsunfähig war (vgl § 561 RVO aF).
Leitsatz (redaktionell)
Der Begriff "völlige Erwerbsunfähigkeit" steht nicht einer Erwerbsunfähigkeit iS des RVO § 1247 Abs 2 (RKG § 47) gleich. An ihn sind vielmehr strengere Anforderungen zu stellen.
Völlige Erwerbsunfähigkeit bedeutet im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, daß der Verletzte dauernd die Fähigkeit verloren hat, einen irgendwie nennenswerten Verdienst zu erlangen; er muß also aus gesundheitlichen Gründen unfähig sein, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich nach seinen gesamten Kenntnissen sowie körperlichen und geistigen Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, noch einen Erwerb zu verschaffen.
Verfügt der Versicherte noch über einen nennenswerten Rest einer im allgemeinen Arbeitsleben verwertbaren Erwerbsfähigkeit - wenn er zB sowohl nach seinem beruflichen Werdegang als auch nach seinen gesundheitlichen Kräften in der Lage ist, einfache Schreib- und Büroarbeiten an mehreren Tagen in der Woche einige Stunden lang zumindest in Heimarbeit gewinnbringend auszuführen -, dann ist eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit iS des RVO § 581 Abs 1 durchaus noch möglich.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 561 Fassung: 1925-07-14
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Juli 1971 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Der 1916 geborene, bis 1949 als Gedingearbeiter und sodann bis 1962 als Gruben- und Reviersteiger im Bergbau berufstätig gewesene Kläger bezieht seit 1. August 1962 die Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Der Bewilligung dieser Rente liegen medizinischerseits ärztliche Gutachten und Befundberichte zugrunde, nach denen damals beim Kläger ein fortgeschrittenes, beiderseitiges, organisches Nierenleiden bestand (Gutachten des Knappschaftsvertrauensarztes Dr. Dr. V vom 9. Mai 1962 und Befundbericht des Urologen Dr. E vom 5. Juni 1962).
Mit dem streitigen Bescheid vom 18. Dezember 1967 erkannte die beklagte Bergbau-Berufsgenossenschaft beim Kläger eine Quarzstaublungenerkrankung (Silikose, Nr. 34 der Anlage zur Sechsten Berufskrankheitenverordnung - 6. BKVO -) als - am 26. Mai 1967 eingetretene - Berufskrankheit an, gewährte ihm hierwegen Krankenbehandlung, lehnte es jedoch ab, eine Verletztenrente zu gewähren. Sie war der Ansicht, daß der Kläger schon bei Beginn der Berufskrankheit infolge der unabhängig von ihr bestehenden Leiden bereits dauernd völlig erwerbsunfähig sei. Dabei stützte sich die Beklagte auf entsprechende Gutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. H vom 24. August und 27. November 1967, der an sich davon ausging, daß der Kläger an einer Silikose II. Grades mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H. leidet.
Mit der gegen die Versagung der Rente erhobenen Klage hatte der Kläger zwar nicht vor dem Sozialgericht (SG), wohl aber vor dem Landessozialgericht (LSG) Erfolg. Mit der angefochtenen Entscheidung vom 8. Juli 1971 hat das LSG nach Anhörung eines innerfachärztlichen Sachverständigen das klageabweisende Urteil des SG abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen seiner Quarzstaublungenerkrankung Rente nach einer MdE um 30 v. H. ab 27. Mai 1967 zu gewähren. In der Begründung hat das LSG ausgeführt: Wie sein medizinischer Sachverständiger Dr. O in seinem Gutachten vom 15. Mai 1961 richtig erkannt habe, sei der Kläger bei Eintritt des Versicherungsfalles der Quarzstaublungenerkrankung am 26. Mai 1967 noch fähig gewesen, in geringem Umfang einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Der Kläger könne, aufbauend auf seiner beruflichen Vorbildung als Abteilungssteiger, an fünf Tagen in der Woche jeweils zwei Stunden noch einfache Schreib- oder Büroarbeiten verrichten. Eine derartige teilweise Erwerbsfähigkeit könne nicht als geringfügig angesehen werden. Es komme in einem Fall der vorliegenden Art nicht darauf an, welche Chancen der Erkrankte habe, die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit noch tatsächlich zu nutzen.
Das LSG hat im Urteil die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat die Revision eingelegt. Sie trägt vor: Erwerbsfähigkeit im Sinne des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung sei die Fähigkeit eines Versicherten, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen Kenntnissen sowie seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten im Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Das LSG habe für den Kläger nur rein theoretische Betätigungsmöglichkeiten aufgezeigt, ohne daß der effektive Einsatz auf dem allgemeinen Arbeitsfeld zu realisieren sei. Würde man entsprechend den Vorstellungen des LSG verfahren, so wäre eine Ablehnung von Ansprüchen wegen bereits bestehender völliger Erwerbsunfähigkeit kaum noch denkbar. Soweit das LSG davon ausgehe, daß der Kläger an fünf Tagen in der Woche einfache Schreib- und Büroarbeiten habe verrichten können, begegne diese Feststellung Bedenken, weil Chefarzt Dr. O in diesem Zusammenhang nur von der Möglichkeit der Ausübung einer Tätigkeit "an mehreren Tagen in der Woche" gesprochen habe. Es reiche nicht aus, abstrakt auf irgendwelche Betätigungsmöglichkeiten hinzuweisen. Allein die Tatsache, daß der Versicherte noch gewisse manuelle oder geistige Fähigkeiten habe, bedeute nicht, daß er sie im allgemeinen nutzbringend auf den allgemeinen Arbeitsmarkt anzubringen vermöge. Erfahrungsgemäß biete der allgemeine Arbeitsmarkt derartige Möglichkeiten nicht. Sei aber eine Arbeitsmöglichkeit nicht realisierbar, so könne nicht von einer restlichen verwertbaren Erwerbsfähigkeit gesprochen werden.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und unter Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils die Klage gegen den Bescheid vom 18. Dezember 1967 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision kostenpflichtig zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für richtig und betont, ein Steiger besitze auch Kenntnisse und Erfahrungen in der Buchführung; auch wenn er nur in Heimarbeit Buchführungsarbeiten erledige, sei er doch in der Lage, hierdurch einen nennenswerten Erwerb zu erzielen.
II.
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wird eine Verletztenrente gewährt, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge eines Arbeitsunfalls um wenigstens ein Fünftel gemindert ist. Diese Vorschrift ist für Berufskrankheiten entsprechend anzuwenden (§ 551 Abs. 3 Satz 1 RVO). Die rentenberechtigende MdE muß also durch den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit verursacht worden sein. Daraus ergibt sich, daß dann, wenn ein Versicherter in dem Zeitpunkt, in welchem an sich eine rentenberechtigende MdE durch den Unfall oder durch die Berufskrankheit eingetreten wäre, bereits infolge anderer Krankheiten dauernd erwerbsunfähig ist, keine Rente gewährt werden kann; denn in diesem Fall ist die MdE nicht infolge des Unfalls oder der Berufskrankheit, sondern allein infolge der unfallunabhängigen Krankheit eingetreten. Eine bereits völlig entfallene Erwerbsfähigkeit kann nicht mehr weiter gemindert werden (Urteil des erkennenden Senats vom 17. Dezember 1969 in BSG 30, 224 = SozR Nr. 6 zu § 581 RVO). § 561 RVO in der vor dem 1. Juli 1963 geltenden alten Fassung (aF) - nach dem keine Verletztenrente zu zahlen war, wenn der Verletzte schon zur Zeit des Unfalls "völlig erwerbsunfähig" war -, stellte diesen das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung beherrschenden Grundsatz ausdrücklich heraus. Allerdings sollte, so war diese Vorschrift zu verstehen, auch nur in diesem äußersten Falle die Verletztenrente entfallen. Die Möglichkeit einer Kürzung der Verletztenrente in anderen Fällen, etwa in denen, in welchen die MdE auf Grund des Unfalls oder der Berufskrankheit größer war als die bei Eintritt des Arbeitsunfalls bzw. des Beginn der Berufskrankheit noch vorhandene Erwerbsfähigkeit des Versicherten, schied daher aus. Die Streichung des § 561 RVO aF, der als überflüssig angesehen wurde, sollte keine Rechtsänderung bewirken. Das seit 1. Juli 1963 geltende Recht der gesetzlichen Unfallversicherung enthält also stillschweigend den dem § 561 RVO aF entsprechenden Rechtssatz mit dem bezeichneten Inhalt.
Das LSG hat den Begriff der "völligen Erwerbsunfähigkeit" im Sinne dieses Rechtssatzes nicht verkannt. Es ist richtig, daß völlige Erwerbsunfähigkeit nicht einer Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 RVO gleichsteht; an diesen Begriff sind vielmehr strengere Anforderungen zu stellen. Anders als im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, wo in Grenzfällen eine konkrete Beurteilung der MdE des Versicherten notwendig wird (BSG 30, 167 u. 192 = SozR Nr. 79 zu § 1246 und Nr. 20 zu § 1247 RVO), ist im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung von der abstrakten Beurteilung der MdE des Verletzten auszugehen (vgl. z. B. Lauterbach, Komm. zur gesetzlichen Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 9 bei § 537 RVO). Völlige Erwerbsunfähigkeit bedeutet im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, daß der Verletzte oder Erkrankte dauernd die Fähigkeit verloren hat, einen irgendwie nennenswerten Verdienst zu erlangen; er muß also aus gesundheitlichen Gründen unfähig sein, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen gesamten Kenntnissen sowie körperlichen und geistigen Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, noch einen Erwerb zu verschaffen (RVA in AN 1897, 463, 464; BSG in BSG 17, 160, 161; Urteil des erkennenden Senats vom 25. Mai 1972 - 5 RKnU 2/70-). Hinzu kommt, daß im Rahmen des oben bezeichneten, dem § 561 RVO aF entsprechenden Rechtssatzes eine enge Auslegung des Begriffs der Erwerbsunfähigkeit aus der Funktion, die dem Rechtssatz im Leistungsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung zugewiesen ist, geboten ist: Die diesem Rechtssatz eigentümliche Wirkungsweise ist es, den Anspruch auf Verletztenrente auszuschließen, obschon der Versicherte durch einen Unfall oder durch eine Berufskrankheit in seiner Gesundheit an sich beeinträchtigt ist; die leistungsausschließende Wirkung des Rechtsgrundsatzes trotz an sich gegebener Leistungsvoraussetzungen erfordert es, ihn nur in engen Grenzen wirksam werden zu lassen. Schließlich kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß die den Grundsatz begründende Sachlogik versagt, wo der durch Arbeitsunfall oder Berufskrankheit gesundheitlich Beeinträchtigte noch über einen nennenswerten Rest von im allgemeinen Arbeitsleben verwertbarer Erwerbsfähigkeit verfügt; denn dann ist eine unfallbedingte MdE im Sinne des § 581 Abs. 1 RVO durchaus noch möglich. Der 2. Senat des BSG bezeichnet demzufolge den Restbestand an Erwerbsfähigkeit, der die Anwendung des § 561 RVO aF ausschloß, als ein "Mindestmaß an Arbeitskraft", mit dem noch ein nennenswerter Verdienst zu erzielen ist (SozR Nr. 2 zu § 561 RVO aF).
Über ein solches Mindestmaß an Arbeitskraft verfügte der Kläger jedoch im Jahre 1967 noch, als bei ihm eine rentenberechtigende MdE durch die als Berufskrankheit anerkannte Silikose eingetreten war. Das LSG hat nämlich - insoweit unangegriffen - festgestellt, daß der Kläger sowohl nach seinem beruflichen Werdegang wie auch nach seinen gesundheitlichen Kräften einfaches Schreib- und Büroarbeiten an mehreren Tagen in der Woche einige Stunden lang zumindest in Heimarbeit noch gewinnbringend ausführen vermöge. Das genügt, mag auch die Chance, solche Arbeiten zu erhalten, nicht allzu groß gewesen sein.
War aber der Kläger nach alledem bei Eintritt einer MdE durch Berufserkrankung im Jahre 1967 noch nicht völlig erwerbsunfähig, so hat ihm das LSG zu Recht die Verletztenrente wegen einer MdE von 30 v. H. zugesprochen, und zwar ohne Rücksicht darauf, daß der Kläger im Zeitpunkt des Beginns der Verletztenrente wegen des Nierenleidens unter Umständen nur noch eine geringere Erwerbsfähigkeit besaß.
Die Revision der Beklagten gegen das zutreffende Urteil des LSG war demnach zurückzuweisen und zu entscheiden, daß die Beklagte dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten hat (§ 193 des Sozialgerichtsgesetzes).
Fundstellen