Entscheidungsstichwort (Thema)
Unbillige Härte
Leitsatz (amtlich)
Eine unbillige Härte iS des AVG § 18a Abs 2 S 1 Nr 3 (= RVO § 1241a Abs 2 S 1 Nr 3) ist nicht von vornherein wegen fehlender Kausalität zwischen der im Bemessungszeitraum erzielten Entgeltshöhe und der Behinderung ausgeschlossen.
Leitsatz (redaktionell)
Die Berechnung des Übergangsgeldes aus dem Entgelt der letzten Halbtagsbeschäftigung, die nur ein halbes Jahr ausgeübt wurde, kann für den Versicherten unbillig hart sein, wenn der Versicherte nur wegen der Lage des Arbeitsmarktes keine Vollbeschäftigung gefunden hat. Bei einem Vergleich mit früheren Verdiensten ist die seitherige Lohnentwicklung nicht außer acht zu lassen.
Normenkette
AVG § 18 Abs. 1 Fassung: 1974-08-07, § 18a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Fassung: 1974-08-07; RVO § 1241 Abs. 1 Fassung: 1974-08-07, § 1241a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Fassung: 1974-08-07
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 29.07.1977; Aktenzeichen L 1 An 48/77) |
SG Osnabrück (Entscheidung vom 15.02.1977; Aktenzeichen S 2 An 44/76) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 29. Juli 1977 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist die Höhe des der Klägerin zustehenden Übergangsgeldes.
Die 1948 geborene Klägerin hat den Beruf der Arzthelferin erlernt. Sie leidet an einer angeborenen Hüftluxation, die 1970 und 1971 zu Korrekturoperationen führte. Die Behinderung veranlaßte sie, sich zur Lehrerin umschulen zu lassen. Sie bestand im Juli 1973 die Begabtensonderprüfung und begann im April 1974 das Studium. Die Beklagte erklärte sich bereit, für die letzten sechs Semester die Ausbildungskosten zu übernehmen. Sie gewährte der Klägerin ab 1. Oktober 1975 Übergangsgeld in Höhe von 17,83 DM täglich (Bescheid vom 14. November 1975 und Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 1976).
Der Berechnung des Übergangsgeldes legte die Beklagte das Arbeitsentgelt zugrunde, das die Klägerin zuletzt mit monatlich 700,50 DM brutto vom 1. Oktober 1973 bis 31. März 1974 in einer Halbtagsbeschäftigung im M Krankenhaus in Nordhorn erzielt hatte. Die Klägerin hatte sich damals zwar für eine Ganztagsbeschäftigung der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestellt; eine entsprechende Arbeitsstelle war aber nicht vorhanden.
Klage und Berufung der Klägerin blieben ohne Erfolg (Urteile des Sozialgerichts - SG - Osnabrück vom 15. Februar 1977 und des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 29. Juli 1977). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt: Nach § 18 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) sei für die Berechnung des Übergangsgeldes auch dann das letzte Beschäftigungsverhältnis maßgebend, wenn dieses nur ein Teilzeitarbeitsverhältnis gewesen sei. Das Übergangsgeld solle gewährleisten, daß der Betreute weiter fast die gleichen Einkünfte wie im letzten Arbeitsverhältnis habe. Die von der Klägerin gewünschte Anwendung der Härteklausel des § 18 a Abs 2 Satz 1 Nr 3 AVG setze voraus, daß das letzte Arbeitsentgelt nicht der bisherigen wirtschaftlichen und sozialen Stellung des Versicherten entspreche. Das sei dann anzunehmen, wenn das letzte Arbeitsentgelt infolge einer Behinderung erheblich herabgesunken gewesen sei. Gesundheitliche Gründe hätten jedoch die Klägerin nicht gehindert, von Oktober 1973 bis März 1974 ein höheres Arbeitsentgelt zu erzielen; die damalige Teilzeitbeschäftigung der Klägerin habe nicht auf ihrer Behinderung beruht, sondern nach den Auskünften des Arbeitsamtes N und des M-Krankenhauses darauf, daß eine entsprechende Ganztagsbeschäftigung nicht zur Verfügung gestanden habe. Im übrigen habe die Klägerin auch in den vorangegangenen Jahren keinen höheren Verdienst erzielt; sie habe als Arzthelferin vom 1. Januar bis 23. März 1970 brutto (rund) 1.852,- DM, vom 10. August bis 31. Dezember 1970 brutto 3.720,- DM und vom 1. Januar bis 27. März 1971 brutto 1.691,- DM verdient.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin weiterhin die Anwendung der Härteregelung des § 18a Abs 2 Satz 1 Nr 3 AVG; diese setze nicht voraus, daß die Behinderung Ursache des Minderverdienstes gewesen sei. Ein solcher Minderverdienst liege vor; beim Vergleich mit den früher erzielten Verdiensten habe das LSG die zwischenzeitliche Lohnentwicklung nicht berücksichtigt. Hilfsweise greift die Klägerin die Feststellung des LSG an, daß ihre Behinderung keinen Einfluß auf das Nichtfinden einer Ganztagstätigkeit gehabt habe; die Auskünfte des M-Krankenhauses und des Arbeitsamtes N hätten zu der Ursache hierfür keine Stellung genommen.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei der Berechnung des Übergangsgeldes die Vorschrift des § 18a Abs 2 Satz 1 Nr 3 AVG zugrunde zu legen und hierbei von der Leistungsgruppe B 4 der Anlage 1 zum Fremdrentengesetz auszugehen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insofern begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Berechnung des Übergangsgeldes nach § 18a Abs 2 AVG, dh unter entsprechender Anwendung der Anlagen des FRG, kann die Klägerin nur verlangen, wenn es iS des Abs 2 Satz 1 Nr 3 unbillig hart wäre, der Berechnung des Übergangsgeldes das Arbeitsentgelt nach § 18 Abs 1, dh das Arbeitsentgelt aus der letzten bis März 1974 ausgeübten Beschäftigung zugrunde zu legen. Eine solche unbillige Härte läßt sich aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen weder bejahen noch verneinen.
Das Gesetz erläutert nicht, wann eine Berechnung des Übergangsgeldes nach dem letzten Arbeitsentgelt unbillig hart ist. Das LSG nimmt das an, wenn das Arbeitsentgelt nicht der bisherigen wirtschaftlichen und sozialen Stellung des Versicherten entspricht; letztlich hat es eine unbillige Härte aber nur bejahen wollen, wenn der Arbeitsverdienst infolge der Behinderung erheblich herabgesunken war. Diese Betrachtungsweise ist zu eng.
Der behinderungsbedingte Minderverdienst mag ein Hauptanwendungsfall des § 18a Abs 2 Satz 1 Nr 3 AVG sein; er kann den Tatbestand der unbilligen Härte indessen nicht erschöpfen. Gegenteiliges folgt weder aus dem Wortlaut des Gesetzes noch aus dem Sinn und Zweck des § 18a Abs 2 AVG; Abs 2 soll ein angemessenes, ausreichend hohes Übergangsgeld sicherstellen (vgl BT-Drucks. 7/1237 S. 59 und 71); das kann auch geboten sein, wenn ein geringer Verdienst nicht unmittelbar behinderungsbedingt war. Dementsprechend haben bei der Zugrundelegung von Ausbildungsvergütungen (im Rahmen des § 568 Abs 3 RVO) der 2. und der 8. Senat eine unbillige Härte nicht von vornherein wegen der fehlenden Kausalität zwischen der Vergütungshöhe und der späteren unfallbedingten Behinderung ausgeschlossen (Urteile vom 25. November 1977, 2 RU 71/76 und vom 15. Dezember 1977, 8 RU 54/77); der 8. Senat hat im von ihm entschiedenen Falle unbillige Härte sogar bejaht. Dabei hat er zutreffend dargelegt, daß von der Vorschrift zwar zurückhaltend Gebrauch zu machen, ihre Anwendung (schon im Hinblick auf die gleiche Rechtsfolge bei den Nrn 1 und 2) aber nicht auf wenige Ausnahmefälle einzuengen ist.
Sonach wird sich eine erschöpfende Definition des Begriffs der unbilligen Härte nicht geben lassen. Ausgangspunkt dürfte aber in der Regel der Vergleich mit anderen Verdiensten - nicht dagegen mit dem erst bei Anwendung der Nr 3 heranzuziehenden Durchschnittsverdienst (Tabellenwert) - sein. Zu Recht hat deshalb das LSG gefragt, ob das zugrunde gelegte Arbeitsentgelt der bisherigen wirtschaftlichen und sozialen Stellung der Klägerin entspricht. Dies hat es freilich nicht ua unter Hinweis auf die drei bis vier Jahre zurückliegenden Verdienste der Klägerin in den Jahren 1970 und 1971 bejahen dürfen; das LSG hat insoweit nur Nominalverdienste verglichen und die zwischenzeitliche Lohnentwicklung (vgl dazu Nr 1, der länger als drei Jahre zurückliegende Bemessungszeiträume ausschließt) nicht ausreichend berücksichtigt. Sofern auf dem Tätigkeitsfeld des Betreuten keine besondere Lohnentwicklung festzustellen ist, könnten dazu die Entgelte mit dem Durchschnittsentgelt aller Versicherten in Beziehung gesetzt werden.
Im vorliegenden Fall liegt jedoch der Vergleich mit dem Entgelt aus einer Ganztagsbeschäftigung auf der Hand. Diesem Entgelt gegenüber bleibt das von der Klägerin in der Halbtagsbeschäftigung erzielte wesentlich zurück. Entscheidend muß daher sein, aus welchen Gründen die Klägerin von Oktober 1973 bis März 1974 nur halbtags arbeitete. Dabei kann für die Annahme einer unbilligen Härte allein für sich zwar nicht ausreichen, daß eine Ganztagsstelle auf dem Arbeitsmarkt für sie nicht vorhanden war und ihr deshalb nicht vermittelt werden konnte. Es kann aber insoweit nicht unberücksichtigt bleiben, aus welchen Gründen die Klägerin in die Lage geraten ist, im Sommer 1973 eine neue Arbeitsstelle suchen zu müssen.
Der vom LSG festgestellte Sachverhalt läßt nicht erkennen, ob die Klägerin vor ihren 1970 und 1971 erfolgten Operationen durchweg oder nahezu durchgängig ganztägig beschäftigt war. Es erscheint ferner möglich, daß danach Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen sie an einer weiteren Beschäftigung im erlernten Beruf gehindert und ihr erst nach der Begabtensonderprüfung eine nochmalige vorübergehende Beschäftigung bis zum Studienbeginn gestattet haben.
Sollte das im wesentlichen zutreffen, müßte die Berechnung des Übergangsgeldes nach diesem letzten Halbtagsverdienst auch dann als unbillige Härte erscheinen, wenn die Klägerin nur wegen der damaligen Lage des Arbeitsmarktes keine Ganztagsbeschäftigung mehr gefunden hat. Diese Beurteilung wäre um so mehr geboten, weil ein Glied der zurückreichenden Ursachenkette dann auch die Behinderung und ihre Folgen (Operationen) gewesen wären. Die unbillige Härte würde dabei nur noch deutlicher zutage treten, wenn es sogar Ganztagsstellen für gesundheitlich unbehinderte Arzthelferinnen gegeben hätte, wie die Klägerin behauptet.
Unter diesen Umständen mußte der Senat das Urteil des LSG aufheben und den Rechtsstreit zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, zumal bei der Prüfung der unbilligen Härte immer alle Umstände des Einzelfalles zu würdigen sind.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen